aus nzz.ch, 7. 10. 2019
Frei erfundene Berichte über Missbrauch:
Scotland Yard ermittelt stümperhaft und gesetzeswidrig
Ehemalige
Minister, Wirtschaftsakteure und hohe Militärs standen im Verdacht,
Jahrzehnte zuvor Buben vergewaltigt zu haben. Das ist nicht wahr – und
der Bericht über die Ermittlungen lässt Zweifel an der Urteilsfähigkeit
der Hauptstadtpolizei aufkommen.
von Markus M. Haefliger, London
«Unrechtmässig», «stümperhaft» und «Grund zu sehr ernster Besorgnis», lautet das Urteil, das Sir Richard Henrique, ein ehemaliger Richter, über die Metropolitan Police und die Polizeiaufsichtsbehörde ausspricht. Die mit über 31 000 Uniformierten grösste Polizeitruppe Grossbritanniens hatte zwischen 2014 und 2016 während fast anderthalb Jahren gegen einen vermeintlichen Ring ehemaliger Minister, Wirtschaftsakteure und hoher Militärs in der Hauptstadt ermittelt. Die Angehörigen des Londoner Establishments standen im Verdacht, vier Jahrzehnte zuvor wüste Partys veranstaltet und Buben vergewaltigt zu haben; in drei Fällen sollen sie angeblich ihre Opfer zum eigenen sexuellen Vergnügen oder zur Einschüchterung anderer ermordet haben.
Frei erfunden
Die
Horrorgeschichten waren freilich frei erfunden, «samt und sonders», wie
Henrique in seinem letzte Woche vollständig veröffentlichten Bericht
festhielt. Vor drei Jahren hatte Scotland Yard, wie die
Hauptstadtpolizei auch genannt wird, die 2,5 Millionen Pfund teure
Strafuntersuchung eingestellt, ohne auch nur eine Anklage zu erheben.
Henrique wurde beauftragt, allfällige Verfehlungen zu untersuchen, aber
sein Bericht wurde gekürzt und bearbeitet und im November 2016 am Tag
nach den amerikanischen Präsidentenwahlen veröffentlicht, damit er
weitgehend unbemerkt bliebe. Erst letzten Freitag wurde die ganze, fast
400 Seiten umfassende Enquête der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Am
Montag folgte der Bericht des Independent Office for Police Conduct (IOPC),
der Aufsichtsbehörde. Sie anerkennt Mängel und schlägt eine Liste von
Verbesserungen vor, sieht aber von Disziplinarmassnahmen gegen einzelne
Detektive oder die verantwortlichen Befehlshaber ab.
Der
Urheber der Verdächtigungen, ein Pfarrerssohn, ehemaliger Pfleger und
Schulaufseher, hatte die Detektive systematisch belogen. Er gab an,
zwischen 1975 und 1984 mehr als ein Dutzend Mal vergewaltigt worden zu
sein. In den Vernehmungsprotokollen trat er als Zeuge «Nick» auf. Er
erschlich sich von der Behörde für Opferentschädigung eine Zahlung von
22 000 Pfund. Letztes Jahr wurde er von Schweden, wo er sich
niedergelassen hatte, ausgeliefert. Im Juli verurteilte
ein Gericht Carl Beech, wie er nun mit seinem vollen Namen genannt
werden konnte, wegen mehrfacher Irreführung der Justiz zu 18 Jahren
Zuchthaus. Der 51-Jährige war Anfang Jahr selber wegen Kindsmisshandlung
verurteilt worden. Er hat gegen das Urteil rekurriert.
Nicht einmal Protokolle gelesen
Die
Kritik im Henrique-Bericht war in den Grundzügen bekannt, aber die
Einzelheiten sind empörend und lassen Zweifel aufkommen am
Urteilsvermögen von Polizeibeamten und ihren Vorgesetzten. Laut dem
Richter hätten bei den Detektiven immer wieder Warnlampen aufleuchten
müssen, etwa wenn Beech behauptete, er sei mehrfach von den Übeltätern
an seiner Schule abgeholt worden – ohne dass die Schule oder seine
Mutter dies bemerkt haben sollten. Vergewaltigungen von mehreren Buben
gleichzeitig sollen unter anderem im Haus des ehemaligen
Premierministers Edward Heath vorgekommen sein – obwohl das Gebäude von
Polizisten bewacht wurde. Beech heuerte einen Privatdetektiv an, um
sicherzugehen, dass sein Stiefvater, der seinen Anschuldigungen hätte
widersprechen können, gestorben war. Die Londoner Detektive machten sich
nicht einmal die Mühe, die Protokolle zu lesen, welche die Polizei in
Wiltshire verfasste, nachdem sich Beech zuerst bei ihnen gemeldet hatte.
Kein Polizist, der Bescheid gewusst hätte über alle zur Verfügung
stehenden Informationen, hätte Beech noch Glauben geschenkt, schreibt
Henrique.
Die
Frage ist, weshalb die Polizei dem falschen Opfer das Lügengebäude
abkaufte. Henrique nennt als Grund eine «Kultur, wonach Opfern geglaubt
werden muss». Die Polizeioperation «Midland» fiel vor fünf Jahren in
eine Zeit, in der mehrere Fälle von systematischen Kindsmisshandlungen
bekanntgeworden und schwere institutionelle Mängel zu deren Vorbeugung
in der Vergangenheit aufgedeckt worden waren. Mit der historischen
Aufklärung der Verbrechen wurde seither die grösste je an die Hand
genommene öffentliche Untersuchung beauftragt. Aber das Pendel hat unterdessen zu weit in die andere Richtung ausgeschlagen.
Laut
dem Henrique-Bericht vereinbarten die Verantwortlichen der Operation im
Voraus, was sie bei Eröffnung der Ermittlungen gegenüber der Presse
sagen würden: dass «Nick» (Beech) ihrer Meinung nach ein glaubwürdiger
Zeuge sei. Auch später noch erwirkten mit dem Fall betraute
Polizeidetektive unter Angabe von unvollständigen Informationen von
einem Richter Hausdurchsuchungsbefehle. Dadurch wurde wurde unter
anderen Leon Brittan in Mitleidenschaft gezogen, ehemaliger
Innenminister unter Margaret Thatcher und von 1989 bis 1999
EU-Kommissar. Brittan starb 2015 an einem Krebsleiden, während die
Ermittlungen noch liefen; er erlebte die Rehabilitation seines Rufs
nicht.
Angst vor Rassismus-Vorwurf
Der
Verstoss gegen die Unschuldsvermutung ähnelt anderen Polizeiskandalen
wie der skandalösen Behandlung eines Studenten, der vor zwei Jahren in
die Mühle der Justiz geriet, weil ihn seine Ex-Freundin der
Vergewaltigung beschuldigt hatte. Der Prozess gegen ihn fiel in sich
zusammen, als die die Polizei nach Ermittlungen von mehr als einem Jahr
gezwungen wurde, endlich das Beweismittel in Form eines Handys
auszuliefern, das den Beschuldigten entlastete. Als Folge müssen
Klägerinnen in vergleichbaren Fällen neuerdings in die Offenlegung ihrer
Kommunikationsmittel einwilligen. Ein anderes Beispiel sind Banden von
pakistanischstämmigen Männern, die in Provinzstädten wie Rotherham
in Nordengland Hunderte von jungen weissen Frauen vergewaltigten, von
denen sie annahmen, dass sie vogelfrei seien. Die Polizei verschloss vor
den Verbrechen jahrelang die Augen, aus Furcht, als rassistisch
hingestellt zu werden.
Polizeichefin
Cressida Dick entschuldigte sich am Montag einmal mehr bei den Opfern
der falschen Beschuldigungen und ihren Angehörigen. Sie selber steht
unter Beschuss, weil sie vor fünf Jahren als Kommissarin für
Ermittlungen wegen Mords und Vergewaltigung eine Mitverantwortung für
die Operation «Midland» traf. Ebenfalls am Montag schrieb Henrique im
Boulevardblatt «Daily Mail»
einen geharnischten Artikel, in dem er die zahnlose Aufarbeitung der
Affäre durch die Polizeiaufsichtsbehörde kritisierte. Das IOPC habe die
Untersuchung drei Jahre lang verschleppt und sei entgegen seinen,
Henriques, damaligen Empfehlungen mild und unprofessionell vorgegangen.
So seien keine Anstrengungen unternommen worden, um herauszufinden, über
welche Informationen die ermittelnden Detektive um das Jahr 2015 herum
verfügt hätten.
Nota. - Populismus ist nicht erst ein politisches Phänomen (der letzten Jahre); sondern ein gesellschaftliches Gift, das allezeit und allerorten schleicht. Bevor es die Demokratie angreift, beginnt es, den Rechtsstaat zu zersetzen. Recht und Freiheit sind die Grundlagen den Demokratie und nicht ihre süße Frucht.
JE
Nota. - Populismus ist nicht erst ein politisches Phänomen (der letzten Jahre); sondern ein gesellschaftliches Gift, das allezeit und allerorten schleicht. Bevor es die Demokratie angreift, beginnt es, den Rechtsstaat zu zersetzen. Recht und Freiheit sind die Grundlagen den Demokratie und nicht ihre süße Frucht.
JE
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