Mittwoch, 9. Oktober 2019

#WeAllToo.


aus nzz.ch, 7. 10. 2019

Frei erfundene Berichte über Missbrauch: 
Scotland Yard ermittelt stümperhaft und gesetzeswidrig
Ehemalige Minister, Wirtschaftsakteure und hohe Militärs standen im Verdacht, Jahrzehnte zuvor Buben vergewaltigt zu haben. Das ist nicht wahr – und der Bericht über die Ermittlungen lässt Zweifel an der Urteilsfähigkeit der Hauptstadtpolizei aufkommen.

von Markus M. Haefliger, London

«Unrechtmässig», «stümperhaft» und «Grund zu sehr ernster Besorgnis», lautet das Urteil, das Sir Richard Henrique, ein ehemaliger Richter, über die Metropolitan Police und die Polizeiaufsichtsbehörde ausspricht. Die mit über 31 000 Uniformierten grösste Polizeitruppe Grossbritanniens hatte zwischen 2014 und 2016 während fast anderthalb Jahren gegen einen vermeintlichen Ring ehemaliger Minister, Wirtschaftsakteure und hoher Militärs in der Hauptstadt ermittelt. Die Angehörigen des Londoner Establishments standen im Verdacht, vier Jahrzehnte zuvor wüste Partys veranstaltet und Buben vergewaltigt zu haben; in drei Fällen sollen sie angeblich ihre Opfer zum eigenen sexuellen Vergnügen oder zur Einschüchterung anderer ermordet haben. 

Frei erfunden

Die Horrorgeschichten waren freilich frei erfunden, «samt und sonders», wie Henrique in seinem letzte Woche vollständig veröffentlichten Bericht festhielt. Vor drei Jahren hatte Scotland Yard, wie die Hauptstadtpolizei auch genannt wird, die 2,5 Millionen Pfund teure Strafuntersuchung eingestellt, ohne auch nur eine Anklage zu erheben. Henrique wurde beauftragt, allfällige Verfehlungen zu untersuchen, aber sein Bericht wurde gekürzt und bearbeitet und im November 2016 am Tag nach den amerikanischen Präsidentenwahlen veröffentlicht, damit er weitgehend unbemerkt bliebe. Erst letzten Freitag wurde die ganze, fast 400 Seiten umfassende Enquête der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Am Montag folgte der Bericht des Independent Office for Police Conduct (IOPC), der Aufsichtsbehörde. Sie anerkennt Mängel und schlägt eine Liste von Verbesserungen vor, sieht aber von Disziplinarmassnahmen gegen einzelne Detektive oder die verantwortlichen Befehlshaber ab.

Edward Heath, zu Unrecht beschuldigter Ex-Premierminister. (Bild: AP)
Edward Heath, zu Unrecht beschuldigter Ex-Premierminister. 
Der Urheber der Verdächtigungen, ein Pfarrerssohn, ehemaliger Pfleger und Schulaufseher, hatte die Detektive systematisch belogen. Er gab an, zwischen 1975 und 1984 mehr als ein Dutzend Mal vergewaltigt worden zu sein. In den Vernehmungsprotokollen trat er als Zeuge «Nick» auf. Er erschlich sich von der Behörde für Opferentschädigung eine Zahlung von 22 000 Pfund. Letztes Jahr wurde er von Schweden, wo er sich niedergelassen hatte, ausgeliefert. Im Juli verurteilte ein Gericht Carl Beech, wie er nun mit seinem vollen Namen genannt werden konnte, wegen mehrfacher Irreführung der Justiz zu 18 Jahren Zuchthaus. Der 51-Jährige war Anfang Jahr selber wegen Kindsmisshandlung verurteilt worden. Er hat gegen das Urteil rekurriert. 

Nicht einmal Protokolle gelesen

Die Kritik im Henrique-Bericht war in den Grundzügen bekannt, aber die Einzelheiten sind empörend und lassen Zweifel aufkommen am Urteilsvermögen von Polizeibeamten und ihren Vorgesetzten. Laut dem Richter hätten bei den Detektiven immer wieder Warnlampen aufleuchten müssen, etwa wenn Beech behauptete, er sei mehrfach von den Übeltätern an seiner Schule abgeholt worden – ohne dass die Schule oder seine Mutter dies bemerkt haben sollten. Vergewaltigungen von mehreren Buben gleichzeitig sollen unter anderem im Haus des ehemaligen Premierministers Edward Heath vorgekommen sein – obwohl das Gebäude von Polizisten bewacht wurde. Beech heuerte einen Privatdetektiv an, um sicherzugehen, dass sein Stiefvater, der seinen Anschuldigungen hätte widersprechen können, gestorben war. Die Londoner Detektive machten sich nicht einmal die Mühe, die Protokolle zu lesen, welche die Polizei in Wiltshire verfasste, nachdem sich Beech zuerst bei ihnen gemeldet hatte. Kein Polizist, der Bescheid gewusst hätte über alle zur Verfügung stehenden Informationen, hätte Beech noch Glauben geschenkt, schreibt Henrique.

Die Frage ist, weshalb die Polizei dem falschen Opfer das Lügengebäude abkaufte. Henrique nennt als Grund eine «Kultur, wonach Opfern geglaubt werden muss». Die Polizeioperation «Midland» fiel vor fünf Jahren in eine Zeit, in der mehrere Fälle von systematischen Kindsmisshandlungen bekanntgeworden und schwere institutionelle Mängel zu deren Vorbeugung in der Vergangenheit aufgedeckt worden waren. Mit der historischen Aufklärung der Verbrechen wurde seither die grösste je an die Hand genommene öffentliche Untersuchung beauftragt. Aber das Pendel hat unterdessen zu weit in die andere Richtung ausgeschlagen.

Laut dem Henrique-Bericht vereinbarten die Verantwortlichen der Operation im Voraus, was sie bei Eröffnung der Ermittlungen gegenüber der Presse sagen würden: dass «Nick» (Beech) ihrer Meinung nach ein glaubwürdiger Zeuge sei. Auch später noch erwirkten mit dem Fall betraute Polizeidetektive unter Angabe von unvollständigen Informationen von einem Richter Hausdurchsuchungsbefehle. Dadurch wurde wurde unter anderen Leon Brittan in Mitleidenschaft gezogen, ehemaliger Innenminister unter Margaret Thatcher und von 1989 bis 1999 EU-Kommissar. Brittan starb 2015 an einem Krebsleiden, während die Ermittlungen noch liefen; er erlebte die Rehabilitation seines Rufs nicht. 

Angst vor Rassismus-Vorwurf

Der Verstoss gegen die Unschuldsvermutung ähnelt anderen Polizeiskandalen wie der skandalösen Behandlung eines Studenten, der vor zwei Jahren in die Mühle der Justiz geriet, weil ihn seine Ex-Freundin der Vergewaltigung beschuldigt hatte. Der Prozess gegen ihn fiel in sich zusammen, als die die Polizei nach Ermittlungen von mehr als einem Jahr gezwungen wurde, endlich das Beweismittel in Form eines Handys auszuliefern, das den Beschuldigten entlastete. Als Folge müssen Klägerinnen in vergleichbaren Fällen neuerdings in die Offenlegung ihrer Kommunikationsmittel einwilligen. Ein anderes Beispiel sind Banden von pakistanischstämmigen Männern, die in Provinzstädten wie Rotherham in Nordengland Hunderte von jungen weissen Frauen vergewaltigten, von denen sie annahmen, dass sie vogelfrei seien. Die Polizei verschloss vor den Verbrechen jahrelang die Augen, aus Furcht, als rassistisch hingestellt zu werden.

Polizeichefin Cressida Dick entschuldigte sich am Montag einmal mehr bei den Opfern der falschen Beschuldigungen und ihren Angehörigen. Sie selber steht unter Beschuss, weil sie vor fünf Jahren als Kommissarin für Ermittlungen wegen Mords und Vergewaltigung eine Mitverantwortung für die Operation «Midland» traf. Ebenfalls am Montag schrieb Henrique im Boulevardblatt «Daily Mail» einen geharnischten Artikel, in dem er die zahnlose Aufarbeitung der Affäre durch die Polizeiaufsichtsbehörde kritisierte. Das IOPC habe die Untersuchung drei Jahre lang verschleppt und sei entgegen seinen, Henriques, damaligen Empfehlungen mild und unprofessionell vorgegangen. So seien keine Anstrengungen unternommen worden, um herauszufinden, über welche Informationen die ermittelnden Detektive um das Jahr 2015 herum verfügt hätten.


Nota. - Populismus ist nicht erst ein politisches Phänomen (der letzten Jahre); sondern ein gesellschaftliches Gift, das allezeit und allerorten schleicht. Bevor es die Demokratie angreift, beginnt es, den Rechtsstaat zu zersetzen. Recht und Freiheit sind die Grundlagen den Demokratie und nicht ihre süße Frucht.
JE

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