Freitag, 22. April 2022

Das verflixte erstemal.

Canova, Amor und Psyche
aus spektrum.de, 22. 4. 2022

Sex in der Pubertät
Wie Jugendliche ihr erstes Mal erleben
Für die Mehrheit ist der erste Sex eine schöne Erfahrung. Aber nicht für alle. Und viele wollen lieber warten: In Deutschland ebenso wie in den USA haben die meisten jungen Leute mit 16 noch keinen Geschlechtsverkehr.


von Stefanie Uhrig

In der Studie der BZgA gaben etwas mehr als die Hälfte der Jugendlichen an, länger warten zu wollen, um den richtigen Partner oder die richtige Partnerin zu finden. Andere halten sich selbst noch für zu jung oder sind zu schüchtern, um die entsprechenden Schritte zu unternehmen. Das zeigt, dass sich viele durchaus Gedanken um das erste Mal machen und sehr überlegt damit umgehen.

Das muss allerdings nicht so sein. Nora, auch ihr Name ist geändert, war knapp 16 Jahre alt, als ihr damaliger Freund sie überredete. »Es war so unromantisch, wie man es sich nur vorstellen kann«, erinnert sie sich. »Im Nachhinein bereue ich es, ich hätte länger warten sollen. Hinterher habe ich geweint.« Die vielen kleinen Andeutungen ihres erfahreneren Freundes hatten sie glauben lassen, sie wäre bereit – drei Jahre später blickt sie zurück und weiß es besser.

»Manche denken dann: Ich bin schon 16, jetzt muss ich das erste Mal hinter mich bringen«  Sabine Radestock, Psychologin und Familienberaterin

Druck von außen und auch von sich selbst spielt oft eine Rolle, wenn Jugendliche sich zu früh auf den Geschlechtsverkehr einlassen. Besonders die Freundinnen und Freunde beeinflussen die Entscheidung: Haben viele von ihnen schon früh Sex, kann das innerhalb der Gruppe zur Norm werden. So entsteht eine Erwartungshaltung, sagt die promovierte Psychologin und Psychotherapeutin Sabine Radestock, die in ihrer Mannheimer Praxis unter anderem Jugendliche und ihre Familien berät. »Manche denken dann: Ich bin schon 16, jetzt muss ich das erste Mal hinter mich bringen.«

Wie stark sich die Gruppennorm auswirkt, ist individuell verschieden. 2016 untersuchte eine Forschungsgruppe, wie sich Jugendliche in ihren Einstellungen zu Sexualität von Gleichaltrigen beeinflussen lassen. Die 300 Jungen und Mädchen, im Mittel knapp 13 Jahre alt, wurden unter anderem mit fiktiven Szenarien konfrontiert: Wären sie zu riskantem Verhalten bereit, etwa zu Sex mit einem unbekannten Schüler oder einer unbekannten Schülerin? Im Anschluss daran simulierten die Forschenden einen Chat-Raum. Sie ließen die Teilnehmenden glauben, sie würden dort mit Gleichaltrigen sprechen – und diese äußerten sich etwas risikofreudiger als die Befragten selbst.

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Fast 80 Prozent der Jugendlichen machten daraufhin im Chat ebenfalls Aussagen, die auf erhöhte Risikobereitschaft schließen ließen. Im Umkehrschluss war also etwa ein Fünftel immun gegen den Einfluss der Gruppe. Im Übrigen scheint das Geschlecht eine Rolle zu spielen: Jungen ließen sich beim Thema Sex leichter von Gleichaltrigen lenken.

Natürlich ist diese Situation recht theoretisch. Ob die Jugendlichen tatsächlich so handeln würden, wie sie es im Chat schrieben, ist unklar. Andererseits haben Bekannte wahrscheinlich mehr Einfluss als Unbekannte in einem Chat. Die Studie legt jedenfalls nahe, dass sich viele, aber nicht alle Jugendlichen von Gleichaltrigen beeinflussen lassen.

Das bedeutet umgekehrt auch, dass ein verständnisvoller und offener Freundeskreis positiv auf das Verhalten einwirken kann. Diese Erfahrung machte Finn; auch sein Name ist geändert. Der 16-Jährige begann mit etwa zwölf Jahren, sich mit seinen Freunden auszutauschen – anfangs mit viel Gekicher, später in ernsthafteren Gesprächen. Sein erstes Mal hatte Finn mit 14 Jahren. Druck verspürte er nicht, aber so richtig genießen konnte er den Moment trotzdem nicht. »Es hat sich eher komisch angefühlt«, sagt Finn. »Mit meiner späteren Freundin war es dann anders, weil wir auch darüber sprechen konnten, was wir mögen.«

Verhütung: Für die meisten eine Selbstverständlichkeit

Über Verhütung machen sich die meisten Jugendlichen bereits Gedanken, bevor sie sich auf den ersten Geschlechtsverkehr einlassen. Finn, Nora, Laura und Max waren alle vorbereitet. Weniger als zehn Prozent gaben in der jüngsten Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung an, beim ersten Mal nicht verhütet zu haben – etwa, weil es spontan dazu kam oder weil sie davon ausgingen, dass schon nichts passieren würde. Unter den Jungen hatte nach eigenen Angaben mehr als jeder Zehnte (11 Prozent) nicht verhütet; unter den Mädchen nur halb so viele (5 Prozent).

Das Mittel der Wahl ist beim ersten Mal das Kondom. Im Lauf einer Partnerschaft bevorzugen viele dann eher die Pille. »Die Mädchen, die zu mir in die Praxis kommen, sind in der Regel sehr gut über Verhütungsmöglichkeiten informiert«, sagt die Frauenärztin Erika Ober. »Natürlich gibt es auch Falschwissen, aber das kann ich ja korrigieren.« Mit Fragen kommen die Mädchen oder jungen Frauen vor allem dann zu der Frauenärztin, wenn es Probleme gibt, wie Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Denn selbst mit dem richtigen Partner oder der richtigen Partnerin und entsprechender Vorbereitung läuft nicht immer alles so, wie es sich die Paare vorstellen. Gründe kann es viele geben, beispielsweise eine zu enge Vagina bei Mädchen oder eine Vorhautverengung bei Jungen.

2001 gaben nur etwa drei Prozent der Mädchen und zehn Prozent der Jungen an, online danach zu suchen. 13 Jahre später waren es bereits 39 Prozent der Mädchen und 50 Prozent der Jungen. Die Informationsquellen sind vielfältig: Websites von klassischen Medien, Gesundheits- und Aufklärungsportale, Ratgeber und Foren, Wikipedia, die sozialen Medien und Apps.

Dazu kommen Pornografie-Portale. Hier können sich Jugendliche mögliche Praktiken detailliert angucken – was vollkommen harmlos sein kann. Doch das Surfen auf solchen Seiten birgt auch Risiken, allen voran den Anblick von Gewalt- und Kinderpornografie. Und nicht nur das: Die teils unrealistischen Darstellungen schüren überzogene Erwartungen, sagt die Verhaltenstherapeutin Sabine Radestock. »Das kann zu einer Art Erregungssucht werden. Die Filme müssen immer verrückter und aufregender sein, und die Realität kann da nicht mithalten.«

Die Eltern: Gespräche anbieten, aber nicht aufzwingen

Eltern haben die Aufgabe, vor möglichen Gefahren zu warnen. Solche Gespräche sind allerdings nicht immer leicht und manchmal schlicht nicht erwünscht. Während Finn mit seinen Eltern gelassen über alles sprechen kann und dafür sehr dankbar ist, wäre Nora eine solche Konversation eher unrecht. Sie glaubt zwar, dass ihre Eltern sich Mühe geben würden, aber sie fühlt sich auch so gut informiert und möchte sich selbst und den Eltern ein unangenehmes Gespräch ersparen.

Auch in einer Frauenarzt-Praxis sei das nicht immer einfach, berichtet Erika Ober: »Mädchen kommen oft mit ihren Müttern. Wenn ich merke, dass sie vor ihnen nicht über das Thema Geschlechtsverkehr sprechen möchten, mache ich das lieber zu einem anderen Zeitpunkt mit den Mädchen allein.«

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Die Psychologin und Familienberaterin Sabine Radestock sieht es positiv, dass viele Eltern immer offener mit dem Thema umgehen. »Und wenn das nicht gut klappt, gibt es sehr gute Angebote, etwa von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.« Was Eltern vermeiden sollten: ihren Kindern Angst zu machen.

Die BZgA schlägt behutsame Gesprächsangebote seitens der Eltern zu Verhütung und sexuell übertragbaren Krankheiten zwar als sinnvolle Maßnahme vor. Aber aufzwingen sollten sie die Gespräche nicht, sondern die Privatsphäre der Jugendlichen respektieren. Lauras Mutter etwa warnte immer wieder eindringlich vor einer ungewollten Schwangerschaft – dabei hatte sich Laura längst um die Verhütung gekümmert. Auf die ständigen Predigten hätte sie gerne verzichtet.

Die Botschaft: Auch sicherer Sex kann toll sein

Ein Aspekt, der sowohl von Eltern als auch in der schulischen Aufklärung oft vergessen wird, ist die Lust am Sex. Dabei ist sie für die Jugendlichen ein wichtiger Teil der Erfahrung. Eine Untersuchung von 2022 legt beispielsweise nahe, bei der Aufklärung über HIV und Geschlechtskrankheiten die schönen Seiten von Safer Sex hervorzuheben, zum Beispiel wie erotisch es sein kann, Kondome zu gebrauchen. Auch sicherer Sex kann toll sein, so lautet die Botschaft.

Das Wichtigste, was Eltern für ihre Kinder tun können, sei eher allgemeiner Natur, sagt Psychologin Sabine Radestock: »Kinder müssen in dem Wissen aufwachsen, dass sie Fragen stellen können.« Auch wenn die Eltern nicht mit allem einverstanden sind, was ihre Kinder tun, sollten sie ihnen Selbstbewusstsein vermitteln. Das funktioniert, indem sie ihnen das Gefühl geben, so akzeptiert zu werden, wie sie sind. Denn damit geben sie ihnen auch die Stärke zu sagen: »Ich bin mir unsicher, also möchte ich noch warten.«


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Nota. - Das finden Sie trivial?  Ich auch. Aber ich gehöre zu der Generation, die sich, als sie noch jung war, nichts Wichtigeres auf dem Erdenrund vorstellen konnte; außer vielleicht der Weltrevolution. Die sexuelle Revolution, so sagte man damals, war eine Art Vorgeschmack auf etwas viel Größeres, das da kommen sollte. Aber dann doch nicht gekommen ist: Rücklickend erscheint sie selber als was viel Kleineres. Und sehen Sie: Darum finden wir das trivial. Von nah besehen wirkt sie viel unbedeutender als von Weitem.
JE