Samstag, 25. Mai 2019

Free Speech Movement und die Identitären.

Camille Paglia
aus nzz.ch, 23.5.2019

Zensur an der Uni? «Nicht jetzt, nicht hier»
Eine amerikanische Universität schmettert einen von Trans-Aktivisten lancierten Protest gegen die so streitbare wie bunte Professorin Camille Paglia ab. Markiert der Entscheid womöglich eine Wende im Kulturkampf zwischen selbsternannten Kämpfern für soziale Gerechtigkeit und Befürwortern der Redefreiheit?

von Marc Neumann, Washington 

Eine Dreiviertelstunde nach Beginn der Vorlesung «Mehrdeutige Bilder: Sexuelle Dualität und sexuelle Vielfalt in westlicher Kunst» ging ein (falscher) Brandalarm los. Gleichzeitig brach vehementer Einspruch gegen die Vortragende Camille Paglia aus und sorgte für Feuer unter dem Dach.

Noch während der Saal an der University of the Arts in Philadelphia evakuiert wurde, gingen zwei verfeindete Lager verbal aufeinander los. Hier eine wutentbrannte Handvoll Trans-Aktivisten, die gegen die Vorlesung der Kulturhistorikerin wegen angeblicher Trans-Feindlichkeit protestierten. Dort die nicht minder aufgebrachten Anhänger von Paglia. Und die Ironie der Geschichte: Paglia selbst ist eine als Trans und Queer auftretende, schillernde Persönlichkeit, die den Gender-Diskurs der letzten vierzig Jahre in den USA massgeblich mitbestimmt hat. 

Jüngst wurde damit ein weiteres Kapitel in der Debatte um Rede- und Meinungsfreiheit an Universitäten aufgeschlagen, wieder einmal ausgehend von selbsternannten Aktivisten für Rechte und Schutz von transsexuellen Menschen, die in einem Spannungsverhältnis zwischen biologischer und sozialer Geschlechtlichkeit stehen. Getreu dem mittlerweile etablierten Drehbuch lancierten sie eine Online-Petition zur Absetzung der seit über dreissig Jahren an der University of the Arts lehrenden Paglia und ein Protestschreiben mit der Forderung nach Verlegung der Veranstaltung, um den Campus trigger-frei zu halten.

Das Scharmützel ist die x-te Variation zum Thema – aber eine der interessanteren. Denn die Universitätsleitung liess am Tag darauf die Protestler auflaufen und weigerte sich, die Redefreiheit und ihr Lehrprivileg an einer gerade den von Kontroverse und Kritik zehrenden Künsten gewidmeten Uni zu kompromittieren. «Not now, not at UArts», beschied Uni-Präsident David Yager den Aktivisten.

Spaß am Streit

Mit dem Angriff auf die festangestellte Professorin Paglia, eine GenX-Celebrity der ersten Internetstunde, die nach Veröffentlichung ihres Buchs «Sexual Personae» in den 1990er Jahren als feministische und queere Bombe in den intellektuellen Diskurs einschlug, hatten sich die Aktivisten übernommen. Weder das Flehen nach Sicherheit auf dem Campus und die händeringende Bitte um Rücksicht auf anders gelagerte Gefühle von Trans-Menschen noch das eingeforderte Mitspracherecht auf die Personalpolitik der Universität zeigten Wirkung.


Gewiss, Paglias Brot ist die Kontroverse. Ihrer jahrzehntelangen pro-feministischen Anwaltschaft aus libertärer Warte zum Trotz ist sie auch eine ernste Kritikerin von Trans-Anliegen. Unlängst bezeichnete sie die Forderung nach Gender-korrekten Pronomen als Angriff auf die englische Sprache, hervorgebracht von «flennenden Verrückten». Das Trans-Phänomen sei Ausdruck der Entfremdung von Jugendlichen, ähnlich wie von Beatniks oder Hippies in früheren Jahrzehnten.

Geschlechtsumwandlung von Heranwachsenden als Eingriff in ihre physische Integrität betrachtet Paglia als Kindsmissbrauch. Ähnlich hart geht sie mit #MeToo und der dritten Welle des Feminismus ins Gericht – und das nicht erst seit gestern. Interessant ist, dass sie bereits im Jahre 1992 im Interview mit dem – inzwischen von #MeToo versenkten – Talkmaster Charlie Rose ihre Position darlegte. Während sie vollkommen hinter der Ausarbeitung von Richtlinien für die Definition von sexuellen Übergriffen stehe, «hasse sie die Seifenoper derjenigen, die sich zu Opfern machten». Sie forderte ein Ende der Angriffe auf toxische Maskulinität und politischer Korrektheit – vor über einem Vierteljahrhundert!

Indem sich die UArts auf die Seite Paglias schlägt, bekennt sie sich auch zu einem ihrer intellektuellen Aushängeschilder. Obwohl nur konsistent, muss man das heutzutage geradezu als mutig bezeichnen. 

Der Einsatz der Gebrüder Koch 

Der Universität und Paglia den Rücken stärkt im vorliegenden Fall interessanterweise auch ein weiterer Akteur aus den Reihen der Presse – und nicht nur in Form des öffentlichen Megafons, das einen süffigen Skandal freudig aufgreift und verstärkt, da saftige Themen wie Transsexualität, politische Korrektheit und Redefreiheit die Leser auf beiden Seiten des politischen Spektrums zuverlässig triggern. Am Ende des Artikels im «Atlantic», der den jüngsten Aufruhr ins Rollen brachte, findet sich nämlich eine interessante Offenlegung: Der Artikel sei Teil einer programmatischen Serie namens «The Speech Wars», eines journalistischen Projekts, das die gegenwärtige Debatte zwischen «Social Justice»-Kämpfern und Verteidigern einer bedingungslos akademischen Forschungs- und Lehrfreiheit um restriktive Sprach- und Verhaltenscodes unter die Lupe nimmt.

Finanzielle Unterstützung erhält das Projekt neben weitgehend unbekannten Akteuren auch von der konservativen Charles Koch Foundation. Letztere ist der wohltätige Arm für die Unterstützung höherer Bildung innerhalb eines Konglomerats verschiedener Stiftungen und philanthropischer Institute der Gebrüder Charles und David Koch. Die Kochs sind bekanntlich die milliardenschweren Erben der Koch Industries, einer Unternehmensgruppe in den Industriebereichen rund um Öl, Gas, Papier und Chemie. Die Koch Brothers sind als einflussreiche politische Akteure und Königsmacher der republikanischen Partei so bekannt wie umstritten.

Im Tätigkeitsbereich Tolerierung und freie Rede subventioniert die Erziehungsstiftung der Koch-Brüder schon seit 2017 Forschungsprojekte zu Redefreiheit auf dem Campus. Dass sie mit der Serie «Speech Wars» auch aktiv in der Medienarbeit tätig wird, ist neu. Vom Aufruhr von progressiver Seite ob der Einmischung von nicht unparteiischen Interessengruppen in unabhängigen Journalismus einmal abgesehen, verweist das jüngste Engagement der Foundation auf ein neues Element: Im Kulturkampf um Freedom of Speech an US-Unis mischen nun auch politische Schwergewichte mit. Im andauernden Disput um die Redefreiheit an US-Unis könnte dies womöglich einen Trendwechsel einläuten.


Nota. - Der Kampf um Redefreiheit ein Erkennungsmerkmal der politischen Rechten? Da stimmt was mit den Begriffen nicht.
JE

Freitag, 17. Mai 2019

MeToo, sagt Mrs. Josephine McCarthy.


aus welt.de, 17. 5. 2019                                                                               Schuldig durch Verteidigung?

Harvard, Weinstein und das Ende der Unschuldsvermutung
Ein Harvard-Strafrechtler übernimmt den Job, Harvey Weinstein zu verteidigen, die Studenten drehen durch – und die Elitehochschule setzt ihn ab. Über eine Niederlage für die Idee des Rechts. 

Am Morgen des 25. Februar 2019 fand die Universitätspolizei von Harvard an den Wänden des Winthrop House mehrere Graffitis. Die Parolen richteten sich gegen den Dean des Wohnheims, Ronald S. Sullivan, Professor für Strafrecht an der Harvard Law School. „Nieder mit Sullivan“, stand auf einer Eingangstür, an anderer Stelle fanden sich die Sprüche „Unser Zorn ist Selbstverteidigung“ und „Dein Schweigen ist Gewalt“, schließlich die Frage: „Auf welcher Seite stehst du?“

Sag mir, wo du stehst: Das ist die alte Leitfrage aller Bürgerkriege. Sie schafft Ordnung in Konflikten, in denen die Fronten nicht so klar verlaufen wie in herkömmlichen Schlachten, und ihre Beantwortung entscheidet darüber, ob das Gegenüber als Freund oder als Feind zu behandeln ist. Letzteres ist eine existenzielle Unterscheidung, was man in Friedenszeiten leicht vergisst.

Im Fall von Ronald S. Sullivan war die Frage natürlich rhetorisch, die Aktivisten auf dem Campus hatten ihn ja bereits als zu stürzenden Gegner identifiziert. Seit Sullivan am 23. Januar 2019 dem Verteidigerteam von Harvey Weinstein beige- treten war, der vor einem New Yorker Gericht wegen Vergewaltigung angeklagt ist, stand er für sie auf der Gegenseite. Zumindest traute man ihm nicht mehr zu, im Studentenwohnheim auch Opfern von sexuellen Übergriffen als Ansprech- partner und Vertrauensperson dienen zu können. „Sie kompromittieren das Vertrauen, das in Sie gesetzt wird, wenn sie Opfern zuhören, die ihre Sympathie und ihre Unterstützung brauchen, wenn sie versuchen, mit ihrem Trauma klarzu- kommen“, hieß es in einem von vielen Briefen, in diesem Fall von der Vereinigung schwarzer Frauen in Harvard verfasst.

In einer studentischen Online-Petition stand: „Wollt ihr wirklich eines Tages euer Diplom von jemandem entgegennehmen, der es – aus welchen Gründen auch immer, beruflich oder persönlich – okay findet, so eine prominente Figur im Zentrum der #MeToo-Bewegung zu verteidigen?“

Harvey Weinstein sitzend, ganz links sein Anwalt Ronald Sullivan

Wer einen Angeklagten der MeToo-Bewegung verteidigt, der bezieht Stellung gegen die Opfer von sexueller Gewalt – so lautet der verstümmelte Syllogismus der Aktivisten, in einer am griechischen Bildungsideal geschulten Elitehochschule selbst schon ein Schocker. Der erfahrene Strafverteidiger Robert Sullivan hat den amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und den wegen Doppelmord angeklagten Football-Star Aaron Hernandez, aber auch die Familie von Michael Brown verteidigt, jenem Einwohner von Ferguson, dessen Tod durch Polizeischüsse die Black-Lives-Matter-Bewegung ausgelöst hatte. Die Reihe zeigt in ihrer Bandbreite, was das Wesen des Anwaltsberufs ist: Er ist die fleischgewordene Unschuldsvermutung, die vor der Feststellung der Schuld für jeden Menschen gilt, ob er nun Mitleid oder Abscheu auslöst, ganz oben oder ganz unten steht.

Ausgerechnet in Harvard dreht sich dieses elementare Rechtsverhältnis jetzt auf perverse Weise um: Verkörperte der Anwalt bislang die potenzielle Unschuld eines jeden Delinquenten, so färbt jetzt die unterstellte Schuld des Angeklagten auf seinen Rechtsbeistand ab. Er darf seinen schmutzigen Job wohl machen, einer muss es ja tun – doch in der guten Gesellschaft, durch das Wohnheim auf einem amerikanischen Campus im Kleinen repräsentiert, ist er zu ächten, fast wie ein Totengräber, dem man nicht die Hand gibt. 

 
Sullivan und seine Ehefrau Stephanie Robinson

Die anhaltenden Proteste hatten Erfolg: Durch die Unruhe unter Druck gesetzt, ließ Harvards Dekan Rakesh Khurana zunächst die Atmosphäre am Winthrop House offiziell untersuchen, um Ronald S. Sullivan und seine Frau Stephanie R. Robinson, die es gemeinsam leiteten, unter Verweis auf das gestörte Klima von ihrer Rolle zu entbinden: Sie seien „unhaltbar“ geworden. Beide waren, eine besonders bittere Pointe, die ersten schwarzen Deans in Harvard.

Ist es inzwischen ein selbst für angehende Juristen unzumutbares Trauma, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass das Recht für alle gilt? Ein übersehener Nebenanklagepunkt der Aktivisten bestand darin, dass sich Ronald Sullivan kürzlich verteidigend hinter einen Harvard-Kollegen, den ebenfalls schwarzen Star-Wirtschaftsprofessor Roland G. Fryer, gestellt hat: Dieser sei durch einen Artikel in der „New York Times“ als MeToo-Täter vorverurteilt worden, obwohl außer ein paar zweideutigen Scherzen keine klaren Vorwürfe gegen ihn vorlägen. Fryer sei, so Sullivan, „als ein übersexualisierter Schwarzer, der kein Nein versteht“ dargestellt worden, Zeugenaussagen von Schwarzen seien in den internen Verfahren nicht gleich gewichtet worden wie die von Weißen.

Das Rechtssystem dient nicht dazu, Freund und Feind zu unterscheiden. Es kennt keine klaren Frontverläufe, seine Aufgabe ist es, Licht ins Dickicht der Komplexität zu bringen. Harvards Umgang mit Sullivan ist eine Niederlage für das Recht selbst. 


Nota. - Wovor graut mir mehr - vor der Wiederwahl Donald Trumps oder vorm totalitären Verfolgungs-Wahn der poli- tisch Korrekten?
JE 

Samstag, 4. Mai 2019

Väter und Feminismus.

Die Rechte des Mannes als Vater sind im Feminismus kein Thema. (Bild: Eddy Risch / Keystone)
aus nzz.ch, 4.5.2019

Der Feminismus hat weder die Rechte des Mannes als Vater noch das Recht des Kindes auf den Vater bedacht
Obwohl seit Dekaden über die Gleichstellung der Geschlechter debattiert wird, sind die Resultate ernüchternd. Dabei täte es not, die Männer als Väter besser mit einzubeziehen.

von Ralf Bönt

Als Meilenstein auf dem Weg in die Moderne wird unter vielen anderen Dingen mitunter auch der erste gelungene Kaiserschnitt genannt. Es war der Schweizer Tierarzt Jacob Nufer, der ihn im Jahr 1500, kurz vor Grundsteinlegung des Petersdoms, an seiner Frau Elisabeth vornahm. Nach Tagen erfolgloser Wehen hatte Nufer dem lokalen Prälaten sein Gottvertrauen glaubhaft machen können und so den himmlischen Segen erhalten. Mit einem gekonnten Schnitt und dessen ebenso gekonnter Versorgung rettete Nufer dann erstmals beide, Kind und Mutter. Nun war klar, zu wem die Menschen in Zukunft in der Not zuerst gehen würden: zum Arzt statt zum Prälaten. Allzu normal war bis anhin, dass Kind oder Mutter starb, oft auch beide, so dass der Liebesakt zum ständigen Begleiter die Lebensgefahr hatte: real sex sozusagen, not just for fun.

Heute votiert der Mensch zu Recht eher für den Spass, aber das klingt harmloser, als es ist: Die Entlassung des Körpers aus dem Zwang zur Reproduktion und zur Erhaltung der Art ist das grosse Freiheitsversprechen der Neuzeit. Die Frau sollte nicht mehr bloss gebären, der Mann nicht mehr bloss Zeuger, Nährer und Schützer sein. Mit anderen Worten: Mann und Frau sollten nicht mehr nur Mann und Frau sein müssen, sie konnten unabhängig vom Geschlecht zuerst Mensch sein. Dass dabei allen die gleichen Rechte zukämen, diese Idee setzte sich freilich erst 300 Jahre später durch, und zwar unabhängig vom Kinderkriegen. 

Eine kluge Revolutionärin 

Leider, muss man sagen. Die Erklärung der Menschenrechte war ein Erdbeben, dessen Epizentrum auf hoher See lag und eine Grundwelle erzeugte, die erst heute voll auf Land trifft. Denn die Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau greift am tiefsten in die Lebensentwürfe ein. Kaum jemand entdeckte dies so früh wie Olympe de Gouges (1748 bis 1793), deren Forderungen zentral auch das Recht der Frau auf die Bekanntgabe einer Vaterschaft enthielt. Die schöne und kluge Revolutionärin war damit nicht erfolgreich, der Code civil verbot die Erforschung einer Vaterschaft, und de Gouges starb für ihre Überzeugung. Erst Simone de Beauvoir griff das Thema wieder auf, 1949 in ihrem Buch «Das andere Geschlecht».

De Beauvoir hält Vaterschaft keineswegs hoch. Die Schwangerschaft ist ihr ein Drama, das sich nicht zwischen Mann und Frau abspielt, sondern zwischen den beiden Ichs der Frau: dem freien und dem unfreien. Das liest sich wie eine Lehre der Lieblosigkeit. Bei der Frage, ob der Fötus ein Teil des Frauenkörpers oder ein Parasit ist, entscheidet sie sich für Letzteres. Entsprechend meint die Philosophin an Beispielen beweisen zu können, dass ein Mutterinstinkt nicht existiert. Die vitale Transzendenz einer Geburt erlebe die Frau lediglich als Reduktion auf körperliche Immanenz, da sie am Gelingen oder Misslingen des Kindes keinen aktiven Teil habe.

Der Mann wird nicht etwa als Vater genannt, er geht weiterhin nur seiner Bestimmung nach, indem er Dinge schafft, die seine Subjektivität darstellen, seine Persönlichkeit: pure Transzendenz. Schon de Gouges hatte das Recht auf Bekanntgabe einer Vaterschaft in der Liste der Rechte der Frau geführt und nicht als egalitäres Menschenrecht, und das ist der Geburtsfehler des Feminismus. Die Rechte des Mannes als Vater sind nie mit bedacht worden, auch nicht als Recht des Kindes auf den Vater. Obwohl dies auch ihn von seiner biologischen Bestimmung lösen würde. 

Die Folgen sind fatal. Von de Beauvoir tief beeindruckt, schrieb Max Frisch seinen Bericht über den Homo Faber, den technischen Menschen, und es ist kein Wunder, dass er diesen nicht als befreites Subjekt im Sinne Nufers und von dessen tausend Nachfolgern wie Ignaz Philipp Semmelweis und Carl Djerassi sieht. Der Mann erscheint hier als jene fragmentierte, in ihrer Empathie für sich und den anderen gleichermassen gestörte, durch den modernen Rationalismus tief geprägte Gestalt. De Gouges hatte diesen Vorwurf explizit auch auf der Zunge gehabt, genährt freilich durch den Ausschluss der Frauen aus der Wissenschaft.

Der Soziologe Christoph Kucklick hat diese Genese der negativen Andrologie historisch aufgearbeitet. Paradoxerweise entwickelte sich der Mann darin charakterlich sogar rückwärts, mit steigender Triebhaftigkeit und sozialer Desintegration. In der maskulinen Kollektivschuldphantasie Frischs ist der Phallus eine tödliche Waffe: Elisabeth, Walter Fabers Geliebte und Tochter (ohne dass beide dies wissen), erschrickt vor dem Genital und stürzt rückwärts zu Tode. Eine sehr steile Dramaturgie: Als ob die Moderne ein Unglück sei, mündet der Konflikt zwischen immanenter Vaterschaft und transzendenter Subjektivität in eine Niederlage für alle. Vor allem aber für das schwächste Glied: das Kind. 

Antisexismus als Unterhaltung 

So fehlgeleitet die frühe Feminismus-Debatte oft war, von ihrem Ernst können wir heute nur noch träumen. Das veröffentlichte Wort unterscheidet sich kaum noch von den Kommentarspalten der Zeitungen und Diskussionen auf dem Werbeportal Facebook, wo Gespräche über Gender und Geschlecht ablaufen wie Wortwechsel zwischen einem Berliner Taxifahrer und einem Fahrradkurier, die sich um einen halben Meter Hauptstadt streiten. Antisexismus ist zur Unterhaltung verkommen und zum Unterhalt. Bekanntlich ist ewiges Witzeln auch weniger schwer auszuhalten als ewiges «Ernsteln», um ein Wort Peter Richters zu bemühen. Rationalität ausgerechnet ums Genitale zu verlangen, ist ja auch kühn. Aber es muss sein. Denn die Beteiligten verkennen den Ernst der Lage.

Geschichtsvergessenheit ist das Standardproblem einer jeden erfolgreichen Revolution. Indem ihre Urerzählung nicht mehr gekannt wird, wird sie zur Ideologie, die ausser Selbstverteidigung kein Ziel mehr hat. In diesem Geiste debattiert man lieber über das Geschlecht von Ampelfigürchen als über die ethischen Folgen neuer Reproduktionstechniken, die Abwesenheit männlicher Erzieher oder das Recht, eine Vaterschaft bekanntzugeben.

Zu Zeiten de Gouges’ war eine genaue Kenntnis der Vaterschaft technisch unmöglich, in einer modernen Gesellschaft sollte dies mittels Gentechnik aber Standard sein. Jeder Mensch benötigt zu seiner Zeugung noch immer ganz sicher einen Mann und eine Frau. Eine schöne sexy Sache übrigens und befreiend von der Last eigener Bedeutung. Es sollte allerdings das erstrangiges Recht sein, die beiden, von denen man abstammt, zu kennen. Doch selbst die Xenofeministinnen, die auf Technik setzen, um sich zu befreien, wollen die Polarität der Geschlechter mit ebendieser aufweichen, und wie in der Gendertheorie steht dahinter der nur wenig kaschierte Wunsch, den Mann wegzudiskutieren – ein anarchistischer Traum, so aporetisch wie zum Scheitern verurteilt.

Wir müssen Simone de Beauvoirs Versuche, die Frau jenseits der Mutter zu entwerfen, nicht verbrennen und auch nicht den «Homo Faber». Pessimisten der Moderne wird es immer geben. Aber weil die fünfziger Jahre schon länger vorbei sind, darf man fragen, wozu ein Roman gut ist, dessen Anstrengung darin besteht, das Wort «man» zu vermeiden. Oder warum die Genderforschung an komplett unpraktikablen, geschlechtsneutrale Sprachlösungen arbeitet, während unsere Kinder noch immer die Geschichte von Robin Hood vorgelesen bekommen, der sich auf den ersten paar Dutzend Seiten ohne Grund mit jedem auf Leben und Tod duelliert, den er trifft. Richtig schlimm ist Janoschs Albtraum «Popov lernt fliegen», wo ein alter einsamer Mann in den Himmel fliegt, unrasiert und ohne Unterhose. Oben warten wunderschöne Engelchen zum Heiraten, unerreichbar. Und das ist es: Unerreichbarkeit erzeugt Überreaktion, Heldengeschichten machen nicht frei, sie erzeugen Druck. Das Überreagieren von Männern, auch toxische Männlichkeit genannt, entsteht, wenn Männlichkeit für kleine Jungs als etwas kaum Erreichbares erscheint. 

Die Kouachi-Brüder zum Beispiel 

Das hat aber Methode. «Jedes Kind, das geboren wird, ist ein Gott, der Mensch wird», schrieb de Beauvoir mit Blick auf das Leben Jesu. Aber müssen wir noch immer Kreuze aufhängen, die dem Jungen klarmachen, dass Leid und Schuld die Elemente seines Lebens sein werden, Kollektivschuld gar? Dass es eine Himmelfahrt ist, die Männer von Frauen unterscheidet? Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Islamismus und Neo-Autoritarismus eine Krise der Moderne darstellen, denn es handelt sich um die Krise der Religion und des Patriarchats. Solche Lehren stammen aus einer Zeit, da wir über Körper nicht viel mehr wussten, als dass sie Eingänge und Ausgänge haben. Im Unwissen über das Entstehen des Lebens besetzte der Mann einst den Himmel als vermeintlichen Urgrund und eroberte damit auch den Welt-Aussenraum.

Der Philosoph Slavoj Žižek hat nach dem Attentat der Kouachi-Brüder auf die Redaktion von «Charlie Hebdo» das Versagen der Linken herausgestellt und Walter Benjamins Erkenntnis zitiert, wonach jeder Faschismus von einer gescheiterten Revolution zeugt. Die noch nicht überall gelungene Revolution ist jene gegen das Patriarchat. Unter den Kämpfern des Jihad sind ganz viele ohne Vater aufgewachsen. Das gilt auch für die Kouachis, die zudem ihre Mutter früh verloren haben. Sie zwangen ihre Frauen in Tschadors, die daraufhin ihre Jobs verloren und zu Hause blieben, bei ihren arbeitslosen Männern. Handlungsdruck entstand und Beweislast.

Eine Existenzberechtigung musste her. Während des Massakers verschonten sie die Journalistin Sigolène Vinson, mit der der ältere der beiden Brüder redete wie mit einem Dummerchen: Das war noch einmal die Inszenierung des Patriarchen, ein so lächerliches wie tragisches Aufbäumen, das längst spiegelverkehrt zur Realität steht. Die mit den Waffen in der Hand über andere richten, sind längst die Dummköpfe. Sie befinden sich in einem Rückzugsgefecht, das schon verloren war, als Jacob Nufer seine Familie rettete, um danach noch weitere sechs Kinder zu bekommen.

Aber Vorsicht: Ein Seebeben erzeugt am Ufer immer zwei Wellen. Die erste zieht sich zurück, bis alles frei liegt. Und dann kommt die zweite, die alles niederreisst. Auch die mehr und mehr von Arbeit entlasteten Väter wollen heute den Miteinbezug in die inneren Räume der Familie. Und die Frauen werden bemerken, dass sie davon profitieren, denn die Moderne richtet sich eben nicht gegen ihre Freiheit, wie in Simone de Beauvoirs Drama der beiden weiblichen Ichs. Eine Männerquote unter den Müttern wird es nicht geben. Überhaupt muss man hoffen, dass die Definition von Vaterschaft als «Vater ist, wer durch die Heirat als solcher erwiesen ist» nicht erst in hundert oder zweihundert Jahren obsolet sein wird, denn zurzeit sind leider noch viel mehr mehr Männer als Frauen gegen Vaterschaftstests.

Ralf Bönt, Jahrgang 1963, lebt als Schriftsteller in Berlin. 2012 erschien «Das entehrte Geschlecht. Ein notwendiges Manifest für den Mann».