aus nzz.ch
Der Kampf um Gender
Anti-aufklärerisch und kulturrelativistisch: Wie ein noch junges Studienfach die dringenden Themen der Gegenwart verschläft.
Die Gender-Studies befinden sich in einer Legitimationskrise: Die Öffentlichkeit begegnet dem Fach mit Ablehnung, Biologen fechten ihre Wissenschaftlichkeit an, und politische Gruppierungen mobilisieren wahlweise gegen einen «Wahn» oder eine «Ideologie». Alle beanstanden Sinn und Zweck eines Studienfachs, das mit zwanzig Jahren noch relativ jung ist, gleichwohl aber eine Vielzahl an Kontroversen durchlaufen hat. Der zunehmende Lärm dieser Einsprüche übertönt Belange, die bisher deutlich weniger Gehör gefunden haben.
Dazu zählt die Kritik an Forschungstendenzen, die auf den ersten Blick überraschend anmuten, weil sie jedweden aufklärerischen Anspruch bezüglich Geschlecht und Sexualität konterkarieren. So gehen manche Gender-Studies-Arbeiten von einer deterministischen «Kultur» aus, die einem Individuum wesensbestimmend übergeordnet sei. Ebenfalls ist ein damit einhergehender Kulturrelativismus zu beobachten, der die Genitalverstümmelung von Mädchen schon einmal mit der westlichen Wahlfreiheit, ein Genitalpiercing zu tragen oder nicht, vergleicht oder Selbstmordattentate als «queer» interpretiert, weil diese Unordnung in der «symbolischen Ordnung» stifteten. Generell ist eine Verschiebung weg von der Beschäftigung mit Ausbeutung hin zu Strategien zu verzeichnen, die sich nicht an einer Beseitigung gewalttätiger Verhältnisse interessiert zeigen, sondern Betroffenen bisweilen nahelegen, sich in diese zu fügen.
Genese der Gender-Studies
Dass sich solche Positionen in einem Fach finden, das mit dem akademischen wie gesellschaftspolitischen Anspruch angetreten ist, für geschlechter- und sexualitätsrelevante Fragen zu sensibilisieren, und dabei stets auch eine globale Tragweite geltend gemacht hat, dürfte zunächst verwundern. Tatsächlich waren Behauptungen wie die vorgenannten während der Institutionalisierung der neuen Disziplin noch nicht prominent vertreten. War die Frühphase der Gender-Studies in den 1990er Jahren stark von psychoanalytischen und literaturwissenschaftlichen Zugriffen geprägt, hatten im nachfolgenden Jahrzehnt sogenannte «selbstreflexive» Ansätze Konjunktur.
Wichtiger als der Nachweis der Veränderbarkeit von Geschlechterrollen wurden Fragen nach dem Sprechort der Einzelnen. Bedeutsamer als das, was gesagt wurde, war nun, wer etwas sagte. Identitäten, deren historische Herkunft und deren etwaige Überwindung zunächst im Fokus des Fachs gestanden hatten, wurden damit neu errichtet und hoffnungsvoll aufgeladen. Diese Aufmerksamkeitsverschiebung verstärkte eine Kulturalisierung des Partikularen – und damit die Abkehr vom Universalismus. Infolgedessen blühten die besagten antiemanzipatorischen Inhalte auf.
Die Kritik an diesen ist bisher zumeist von aussen vorgetragen worden: Innerhalb der Gender-Studies ist es noch nicht zu einer Debatte darüber gekommen. Hier wird ein starker Kontrast zu anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern deutlich: Es gibt bekanntlich nicht die Historikermeinung, nicht den Soziologenstandpunkt und auch nicht die politikwissenschaftliche Einschätzung eines Problems, sondern konkurrierende, bisweilen sehr hart miteinander um die richtigen Methoden, Theorien und Resultate streitende Schulen und Denkströmungen. In den Gender-Studies hingegen hatten bisher noch die bedenklichsten Positionen keine fachinterne Anfechtung zu befürchten: Sie blieben ohne Widerspruch.
Wozu Gender-Studies?
In einem polemischen Beitrag hat Stefan Hirschauer vor wenigen Jahren die Frage «Wozu Gender-Studies?» gestellt. Der antifeministische Tenor des Artikels war zwar bedauerlich, schmälerte allerdings nicht den Wert des Arguments. So plädierte der Soziologe dafür, dass sich Geschlechterforscherinnen nicht mit der Sache gemeinmachen sollten, der sie nachgingen, und sprach vom «verdrucksten Schweigen» jener, «die schon lange ahnen, dass etwas schiefläuft», jedoch keine Stellung bezögen. Zu den Fehlentwicklungen zählte Hirschauer die systematische Überbewertung des Status, welcher der Geschlechterunterscheidung in modernen Gesellschaften zukomme, vor allem aber die Abwesenheit «kaltblütige[r] Bilanzierungen der historischen Gleichzeitigkeit des politisch Ungleichzeitigen – von archaischen Gewaltakten gegen Frauen über die Irrelevanz von Geschlecht bis zur Benachteiligung von Männern». Er beklagte weiter eine «Wagenburgmentalität», die sich vor der Komplexität der Welt verriegle, statt dieser analytisch gerecht zu werden.
Wagenburgmentalität
Hiervon zeugen von Jargon geprägte Gender-Studies-Schriften, die sich zwar mit sozialen Veränderungen befassen, den Dialog ausserhalb des eigenen Radius allerdings nicht suchen. Solche Abhandlungen fallen hinter die Möglichkeiten des Romans zurück, des allen zugänglichen Laboratoriums des Denkbaren: Weitaus emanzipatorischere und phantasievollere Vorstellungen, was das Abstreifen überholter Geschlechterrollen anbelangt, sind in den letzten Jahrzehnten beispielsweise in den Werken von Monique Wittig, Octavia Butler oder Jeanette Winterson angedacht worden. Zum anderen befördert jene von Hirschauer monierte «Wagenburgmentalität» die Tendenz, sich gegenseitig nicht zu kritisieren.
Hiervon profitieren vor allem Arbeiten, die zweifelhafte Positionen vertreten können, weil sie keine innerdisziplinären Herausforderungen zu befürchten haben. Die Gender-Studies wurden auf einer sprachlichen Unterscheidung gegründet, die es im Deutschen nicht gibt: Sinnstiftend wurde «gender», d. h. Ausdruck der Geschlechtsidentität, und nicht «sex», das im Englischen die biologisch-materielle Dimension meint (und das Sexuelle stärker evoziert). Nach aussen hat diese Präferenz schroffe Ablehnung provoziert, wodurch die gesellschaftspolitische Vermittlung der Frage beeinträchtigt wurde, weshalb es sich lohnt, über die Ordnung der Geschlechter nachzudenken. Nach innen wiederum hat der Vorzug von «gender» gegenüber «sex» entschieden den Blick auf Repräsentationsweisen favorisiert.
Dies beförderte ein Missverhältnis zwischen der Frage danach, wie etwas dargestellt wird, und der Frage, warum dem Geschlecht eine bestimmte Funktion zukommt – gesellschaftlich, politisch, ökonomisch.
Und die wesentliche, nicht austauschbare Funktion ist diejenige der Reproduktion der Gattung: Sie wird von Frauen geleistet. Während der Second Wave Feminism der 1970er Jahre dies zentral zum Thema hatte, sind die Schwangerschaft sowie der Körper als dezidiert geschlechtlich ausgewiesene Belange in den Gender-Studies zu Sekundärthemen geworden.
Der Fokus auf Sprache und Bedeutung hat zudem das Gewicht von einigen entscheidenden Feldern wegverlagert, auf denen sich die Krisen und Herausforderungen der Gegenwart besonders bemerkbar machen. Forschung zur jihadistischen Gefahr etwa kam bisher vor allem aus der Politikwissenschaft, während sich Arbeiten aus den Gender-Studies vorwiegend mit der Täterrepräsentation in westlichen Medien befassen. Damit wird die wissenschaftliche Klärung der Genese dieses Phänomens anderen Fächern überlassen, die den evidenten geschlechterrelevanten Aspekt dann in der Regel übergehen. Eklatante Wissenslücken bleiben so bestehen.
Materielle Realität
Gleiches gilt für weitere gewichtige Forschungsfelder. Die rasanten Durchbrüche und Veränderungen in der Bio- und Hochtechnologie der letzten zwanzig Jahre müssten mit weitaus höherer Aufmerksamkeit als bisher verfolgt werden, gerade weil viele davon geschlechtliche Belange tangieren und von globaler Dimension sind: Leihmutterschaft, Abtreibung, HIV/Aids, Hormontherapien und geschlechtsangleichende Operationen sowie Schönheitschirurgie sind als evidente Beispiele zu nennen. Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesen Themen müssten bereits Bachelorstudierenden der Geschlechterforschung elementare Kenntnisse in Biologie, Medizin und Anthropologie vermittelt werden (und nicht, wie bisher, feministische Biologiekritik). Dies würde ihnen die Diskussion mit skeptischen Vertretern jener Disziplinen ermöglichen sowie dem interdisziplinären Selbstverständnis des Faches gerecht werden. Vor allem würde dies ihre Teilhabe an der Gestaltung des 21. Jahrhunderts entschieden vorantreiben und das dringende, bis anhin fehlende Gegengewicht zu den eingangs skizzierten Aporien bilden.
Die gewichtigste Antwort auf Hirschauers Frage liegt in der Tatsache begründet, dass das Emanzipationsversprechen in der Welt ist: Es gilt für alle. Menschenrechte und zivilisatorische Mindeststandards stehen nicht zur Verhandlung. Die politische Agitation hiergegen, die unter akademischen Vorzeichen von einigen betrieben wird und auf alle zurückfällt, die über Geschlecht arbeiten, ist gegen gute Bücher einzutauschen. Es ist zudem «sex», das darüber entscheidet, wer von Reproduktion, Abtreibung und unbezahlter Haus- und Care-Arbeit betroffen ist, und nicht «gender». Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser sich materiell manifestierenden Realität ist ein dringlicher Beitrag zur Analyse der globalen Gegenwart: darum Geschlechterforschung.
Vojin Saša Vukadinović ist Historiker. Er forscht gegenwärtig zu den Anfängen des kapitalistischen Bewusstseins im 20. Jahrhundert.
Nota. - Der Streit zwischen Feminismus und Gender Studies ist ein soziales Phänomen, kein wissenschaftliches. Nach- weisliche Erfolge hat der Feminismus qua Quote im öffentlichen Dienst und in den Medien erzielt, als Arbeitsbeschaf- fungsprogramm. Dort sind die Möglichkeiten aber langsam ausgeschöpft. Luft nach oben ist eventuell noch im akademi- schen Betrieb. Da kommt frau auch noch höher hinaus als anderswo. Doch die Akademikerinnen halten die Tür zu, die rechte Gesinnung allein soll hier nun nicht mehr reichen, es muss schon auch was studiert worden sein, sonst kann man sich zwischen den andern personalbedürftigen Fächern auf die Dauer nicht behaupten.
Doch dass die studierten Schwestern es überhaupt soweit gebracht haben, verdanken sie ja nicht ihrer Wissenschaft, sondern dem stillschweigenden feministischen Apriori dieses, nun ja, Fachs. Das haben aber nicht sie etabliert, sondern die Straßenkämpferinnen mit ihrem Kreischen und Krakeelen.
Ach, so ist manch böses Blut aufgekommen.
JE
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