Samstag, 26. Oktober 2019

Die Reaktion schleicht hintenrum.


aus spektrum.de, 25. 10. 2019

Rechtspopulismus durch die Hintertür
Im einseitigen Bemühen um Opferschutz offenbart die konservative Sexualmoral dieser Tage gleich mehrere blinde Flecke: Wie sonst ließe sie sich so einfach von rechts vereinnahmen?

Muss es eine Politikerin hinnehmen, dass sie im Netz unter anderem als »Drecks Fotze« beschimpfen wird? Nach dem Beschluss der Richter des Berliner Landgerichts schon, sofern die Facebook-Kommentare, die überwiegend aus der Ecke der AfD stammten, auf den Vorwurf eines rechten Hetzers reagieren, sie hätte vor mehr als drei Jahrzehnten in einem Zwischenruf im Berliner Abgeordnetenhaus Sex zwischen Erwachsenen und Kindern bagatellisiert. An diesem Vorfall ist nicht nur aus juristischer Sicht manches fragwürdig, sondern auch soziologisch einiges zu bemerken.

Erstens erstaunt die Feststellung der Richter, die höchst unflätigen Kommentare seien eine Art »Sachauseinanderset- zung«, schließlich hätte die Äußerung von Künast einen sexuellen Bezug mit Empörungspotenzial gehabt. Wenn man über Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern spricht, muss man sich also nicht wundern. Dann wiegt die Würde des Redners auch nicht mehr viel. Eines scheint indes gewiss: Weder eine sachliche noch überhaupt eine Auseinanderset- zung wird im Fall der Trias Kind – Sexualität – Gewalt geführt.

Mit diesem Beitrag beginnen wir auf »Spektrum.de« die Kolumne »Zeitdiagnosen« – ein Projekt in Kooperation mit dem Verlag Springer VS. Hier beziehen einmal im Monat wechselnde Expert*innen aus den Sozial-, Medien- und Politikwissenschaften Stellung zu aktuellen Debatten unserer Zeit. 

Sexualgewalt, vor allem wenn sie gegen Kinder gerichtet ist, wird seit Jahrzehnten über Skandalisierungen vermittelt. Sie zielen auf Emotionen und eine griffige Dramatik (»alle drei Minuten wird …«, »jedes dritte Kind …«, »fast jede Frau hat schon …«). Sie lässt keinen vertretbaren Gegenstandpunkt mehr zu. Es sind unmittelbare Einladungen an die Affekte. Entfaltet wird ein Sog emotionaler Betroffenheit, der sich meist in einem Ruf nach Strafe und in einer gründlichen moralischen Diskreditierung abwägender Stimmen artikuliert. Einige Konflikte bringen es zur Gesetzesreife. Dann folgt der nächste Skandal – und so immer weiter. Dabei wirkt stets derselbe Mechanismus, der den Akteuren des Skandals, wie im obigen Fall dem rechten Netzaktivisten, die edle Rolle desjenigen zuschreibt, der einen Skandal mutig aufdeckt. Die selbstgerechte Empörung ist gewiss. Den Opfern springt man zur Seite, verdammt die Täter und feiert den Skandalan- treiber. Details interessieren da nicht mehr. Es reicht der Anfangsverdacht.

Zweitens werden, in einer Art spätmodernem Tribunal, die jüngere Geschichte von Parteien, Zeitungen, pädagogischen und kirchlichen Einrichtungen sowie die Positionen von Politikern, Wissenschaftlern, Künstlern auf jahrzehntealte Verfehlungen gegenüber der aktuellen Sexualmoral unter die Lupe genommen. So haben es auch die Grünen unlängst getan. Mitte der 1980er Jahre, als der Zwischenruf von Renate Künast fiel, prallte die sexualliberale Haltung der 1968er mit dem neuen Sexualkonservatismus einer Gruppe zusammen, die der Kriminologe Sebastian Scheerer als »atypische Moralunternehmer« bezeichnete: jener Mitglieder der eigentlich antiautoritären 68er-Bewegung, die wieder nach dem Strafrecht riefen. Die Zeiten begannen sich also grundlegend zu wandeln. Es wich die Überzeugung, Sexualität sei per se etwas Gutes und gehöre befreit von den Fesseln, die ihr seit jeher, aber vor allem auch unter der Naziherrschaft auferlegt wurden. Und es kam zu der aktuell dominierenden Gegendeutung, Sexualität sei ein Instrument zur Unterdrückung, das von mächtigen Männern eingesetzt werde. Mit der hegemonialen Durchsetzung dieser neueren Sexualdeutung begann der Wettlauf um die Frage, wer schon früher die »richtige«, also opferschützende Position eingenommen hat und wie über- zeugend eine Konversion und Reue vorgetragen wird.

Im Zweifel gegen den Angeklagten?

Und drittens treten in dem unerbittlichen Ruf nach Strafe und Opferschutz aus dieser Bewegung Attitüden hervor, die den Kernbereich des Rechtsstaats angreifen. So ärgert sich etwa die Literaturwissenschaftlerin Christine Künzel: »Bei keinem anderen Delikt wird der Grundsatz ›in dubio pro reo‹ mit einer derart schamlosen Konsequenz angewendet wie bei den Sexualstraftaten.« Der Pädagogikprofessor Jens Brachmann verlangt sogar frank und frei die Abschaffung dieses straf- rechtsbegrenzenden Fundaments der freiheitlichen Ordnung und fordert: »In dubio pro victima! In dubio pro infante! In dubio pro juventute!« Systematisch wird von den neuen Sexualkonservativen in Allianz mit politischen Kräften, denen die Liberalen immer schon ein Dorn im Auge waren, der Geist der 1968er delegitimiert. Es gehe nun darum, die »Last des Libertären« zu überwinden, wie es der Parteienforscher Walter bei der Aufarbeitung der Haltung der Grünen gegenüber der Pädophilie proklamiert.

Spektrum Kompakt:  Verbrechen – In den Köpfen von Tätern und Opfern


Den Linksliberalen wird vorgeworfen, Sexualität lange Zeit einseitig als Quelle der Freiheit gefeiert und dabei das Problem sexueller Gewalt zu wenig erkannt zu haben. Die Vertreter der neuen Sexualmoral haben ihren blinden Fleck umgekehrt allerdings in der Achtung rechtsstaatlicher Freiheitssphären, während sie einseitig auf Opferschutz sinnen und Sexualität vor allem als überall lauernde Gefährdung verstehen. Lässt sich gegen den Schutz von Kindern und Frauen vor sexuellen Übergriffen vernünftigerweise gar nicht argumentieren, bleibt der ideologische Ballast, den diese Bewegung mit sich trägt, merkwürdig verdeckt – lediglich zwei kurze Expertisen beschäftigen sich damit (hier und hier). Sie muss sich die Frage gefallen lassen, wie viel Populismus bereits in ihrem Programm steckt, dass ihre Aktivitäten und Argumentationen so nahtlos in die rechte Propaganda eingehen können und dass auch in großer Anzahl Bildmaterial unverändert auf die Seiten rechtsextremer Kräfte gelangt.

Es mag als Erfolg verbucht werden, wenn Opferforderungen ohne Gegenstimme in Kriminalpolitik gegossen werden. Wenn aber dem offenen und deliberativen politischen Diskurs weiter ausgewichen wird, verweigert man auch den demokratischen Meinungsbildungsprozess und spielt darüber den Rechten weiter in die Hände.

Daniela Klimke ist Soziologin und Professorin an der Polizeiakademie Niedersachsen.


Nota. - Das hatte auch ich übersehen: dass der Richter nicht überhaupt die Beleidigung von Frau Künast zugelassen hat, sondern angesichts des Anlasses, zu dem sie geschah, für verständlich erachtete.
JE

Mittwoch, 23. Oktober 2019

Stopft mehr Weibchen aus!

Der Spatz.
aus Die Presse, Wien, 23.10.2019

2,5 Millionen Exemplare ausgewertet
Deutlich mehr ausgestopfte Männchen als Weibchen in Museen
Weibchen sind bei ausgestopften Tieren in Museen unterrepräsentiert, ergibt eine Studie. Besonders groß ist das Ungleichgewicht bei Spatzen.

In den internationalen naturkundlichen Sammlungen sind Weibchen bei den ausgestopften Tieren unterrepräsentiert. Dies geht aus einer Studie hervor, die am Mittwoch in der jüngsten Ausgabe der "Proceedings of the Royal Society B" veröffentlicht wurde. Die Auswertung von fast 2,5 Millionen Exponaten aus großen Naturkundemuseen in London, Paris, New York, Washington und Chicago ergab, dass nur 40 Prozent der Vögel weiblich waren. Besonders niedrig fielen aber die Anteile bei einigen Spatzen (knapp zehn Prozent), den schwarzen Fliegenschnäppern (11,5 Prozent), bei Fledermäusen (knapp zehn Prozent), Schafen und Wieseln (je 24 Prozent) aus. Bei den Paarhufern waren es weniger als 40 Prozent, obwohl dort die Weibchen in der freien Wildbahn eindeutig die Mehrheit bilden. 

Das Ungleichgewicht lässt sich offenbar nicht ausschließlich mit der größeren Farbenpracht männlicher Vögel oder mit den beeindruckenden Hörnern, Geweihen und Stoßzähnen bei einigen männlichen Säugetieren erklären.

"Wir hatten schon vermutet, dass wir eine gewisse Bevorzugung von Männchen feststellen würden", sagte Natalie Cooper vom Museum für Naturgeschichte in London. "Denn Wissenschaft wird von Menschen gemacht - und Menschen bringen eine tief verwurzelte Bevorzugung männlicher Wesen mit."

Die Studie zeigt, dass sich das überproportionale Sammeln männlicher Tiere im Verlauf der Zeit nicht änderte. Und es dabei keine Unterschiede gibt zwischen Sammlungen aus dem 19. Jahrhundert und den aktuelleren. 

Ausgewogenheit gefordert

"Wenn die Weibchen übersehen werden, erhalten wir kein vollständiges Bild des Lebens", sagte Cooper. Dies sei aber unter anderem wichtig, um Voraussagen darüber zu treffen, wie sich die Körpergröße von Tieren im Zuge des Klimawandels verändern wird. In Zukunft müssten sich die Museums-Verantwortlichen der tradierten Stereotypen bewusst werden und ihre Sammlungen ausgewogen gestalten, forderten die Autoren der Studie. Das werde die Glaubwürdigkeit der Forschung und das Wissen um die Biodiversität erhöhen.


Nota. - Gendergerechtigkeit ist unaufhaltsam. Und dies, obwohl die männlichen Individuen bei den Tieren meist mehr hermachen, siehe oben. Bei uns Menschen hätte man sowieso eher die Weibchen ausgestopft.
JE

Montag, 21. Oktober 2019

Unfassbar dumm.


Normalerweise wäre das gedeckt vom Recht auf freie Meinungsäußerung. In diesem Falle handelt es sich aber um die Äuße- rung eines politisch unkorrekten Professors über zwei kritische Studierend*innen. Insbsonders eben: von einem alten weißen Mann über zwei Frauen. Und das ist nicht nur politisch inkorrekt, was grad noch tolerierbar wäre, sondern sexistisch. Das gehört vors Strafgericht.

PS. Ach herrje!  Eben lese ich, eine der beiden Sudieren*dinnen sei auch noch farbig. Na das schlägt dem Fass den Boden aus. Der Baberiwski gehört gefedert und geteert.


Dienstag, 15. Oktober 2019

Samstag, 12. Oktober 2019

Der Männerversteher.

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aus FAZ.NET,  

Maskulist Arne Hoffmann 
It’s a woman’s world
Arne Hoffmann kämpft seit 20 Jahren gegen die Unterdrückung der Männer in Deutschland. Zuhören will ihm kaum jemand. Ist das ein Fehler?

von
Zwei Stunden lang hat Arne Hoffmann in einem Café in Wiesbaden nüchtern jede Frage zu der seiner Meinung nach in Deutschland herrschenden Unterdrückung der Männer beantwortet, aber erst beim Smalltalk nach dem Interview wird er zum ersten Mal emotional: Ob der Drache Drogon, der am Ende der am Vorabend erschienenen „Game of Thrones“-Folge von einem Pfeil getroffen wurde, tatsächlich gestorben sei? „Niemals“, sagt Hoffmann. „Das ist der wichtigste Drache, der kann nicht tot sein.“ Er sollte es wissen: In drei Wochen gibt es bei dem Pub-Quiz, das er sonntags besucht, ein „Game of Thrones“-Spezial.

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Bei diesen Kneipenbesuchen wird Hoffmann von fremden Frauen oft etwas schräg angeschaut: Das liegt dann an seinem Pullover, auf dem ein Kreis mit einem Pfeil prangt: das „Männersymbol“. Hoffmann gilt als Vordenker der deutschen Männerrechtsbewegung, seit mehr als 20 Jahren kämpft er für sein vom „herrschenden Feminismus“ (Hoffmann) unterdrücktes Geschlecht. Er ist nicht allein: Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums aus diesem Jahr gibt es in Deutschland eine radikal anti-feministische, betont „maskulistische“ Strömung. Frauen seien bereits genug gefördert worden, jetzt seien endlich mal die Männer dran, lautet eine der Auffassungen dieser Gruppe. Der „engere Kern des Maskulismus“ macht ein Prozent der männlichen Bevölkerung aus. Hoffmann schrieb zu der Studie auf seinem Blog „Genderama“: „Folgt man diesen Zahlen, umfasst allein der ,engere Kern‘ unserer Bewegung mittlerweile mehr als 400.000 Männer. Ich kann mich noch gut an Zeiten erinnern, als wir nur wenige Dutzend waren.“

Was sind das für Männer, die das Gefühl haben, von Frauen unterdrückt zu werden?

Patrick Albert ist ein Freund von Arne Hoffmann. Er lernte den Maskulisten vor vier Jahren in dem Irish Pub kennen, in dem jeden Sonntag das Pub-Quiz steigt. Auf Hoffmanns Team war Albert über die Facebook-Gruppe „Neu in Mainz“ aufmerksam geworden, darin verabreden sich die Mitglieder jede Woche online für den Abend in der Kneipe. „Hoffmann gehört zum harten Kern“, sagt Albert. Wie er ihn am Anfang erlebt hat? „Als sehr ruhigen Menschen. Eher so der Beobachter, niemand, der von sich aus Themen anspricht.“ Aber irgendwann, an ruhigen Abenden, fing Hoffmann an, von sich zu erzählen. „Da hat mich dann schon manches überrascht“, sagt Albert. Nie gedacht hätte er zum Beispiel, dass Hoffmann erotische Literatur schreibt. Aber will man auf Amazon Hoffmanns Bücher über Männerrechte finden, muss man sich auf seiner Autorenseite erst mal durch eine lange Liste von Büchern scrollen, die Titel haben wie: „Sex für Fortgeschrittene“ und „Onanieren für Profis“. Albert sagt: „Einen Autor solcher Bücher hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.“

Sein Buch heißt „Plädoyer für eine linke Männerpolitik“

Es wäre insgesamt recht einfach, sich über Arne Hoffmann lustig zu machen: Er ist 48, lebt aber noch mit seinem Vater in seinem Elternhaus in einem 500-Seelen-Dorf im Taunus. Er hat keine Freundin, schreibt aber Sex-Ratgeber. Er liebt Fantasy-Geschichten und entspricht auch optisch dem Klischee eines Nerds, der sich vor allem hinter seinem Bildschirm stark fühlt – und er kämpft eben gegen die Unterdrückung der Männer, die doch immer noch fast überall in der Gesellschaft das Sagen haben. „Wenn Männern wieder und wieder und wieder eingetrichtert werde, wie frauenverachtend und gewalttätig sie seien, könnte sich dies auch zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung entwickeln“, zitiert Hoffmann die Autoren eines „Fachbuches“.

Genau bei diesem Reflex – sich über „jammernde Männer“ lustig zu machen – fängt für Hoffmann der Sexismus an. In seinem Buch „Plädoyer für eine linke Männerpolitik“ schreibt er: Männer „beginnen durchaus zu merken, dass auch sie selbst (...) Opfer verschiedenster Formen von Diskriminierung sind, aber offen darüber zu sprechen, das erscheint einem doch lächerlich, das passt nicht zu dem Bild, das man Frauen und anderen Männern von sich vermitteln will“. Insbesondere wer ein eher reaktionäres Rollenbild verinnerlicht habe – „der Mann als harter Fels“ –, tue sich damit schwer. Dabei gebe es viele gute Gründe dafür, sich als Mann über die herrschenden Verhältnisse zu beschweren: „Unsere Zivilisation beruht darauf, dass Männer zerschunden werden und ihren Schmerz verdrängen müssen: ob im Bergwerk, auf der Ölplattform oder an der Front“, sagt Hoffmann. „Einen natürlichen Schutzinstinkt wie gegenüber Frauen gibt es nicht.“ Dieses Denken werde zugespitzt durch eine Ideologie, die Männer nur als Täter, Unterdrücker oder Hindernisse wahrnehme: den Feminismus.

„Aber ich töte alle Männer, und es tut mir kein bisschen leid.“

Wo sich die Benachteiligung der Männer zeige? Hoffmanns Liste ist lang: Jungs bekämen bei gleicher Leistung die schlechteren Schulnoten als Mädchen, Männer würden öfter arbeitslos als Frauen, die Gesetzgebung benachteilige Väter, die niedrigere Lebenserwartung von Männern habe „keine biologischen Ursachen“ – sondern gesellschaftliche. Und „dass geschätzte 90 Prozent aller Obdachlosen männlich sind“, sei „ein weit größerer Skandal, als dass im obersten Promille der Gesellschaft weibliche Manager in der Unterzahl sind“.
 
Der Männerrechtler hat für seine These des unterdrückten Mannes also durchaus ein paar gute Beispiele. Das Problem ist: Er schießt oft meilenweit über das Ziel hinaus. In seinem aktuellen Buch versteigt er sich zum Beispiel zu der Aussage, dass „die heute vielleicht stärker als je zuvor grassierende Männerfeindlichkeit (...) Diskriminierungen bis hin zum Massenmord im Gefolge hat“. Das belegt er unter anderem mit dem Zitat eines russischen Soldaten, der über seine Zeit im Tschetschenien-Krieg gesagt haben soll: „Frauen und Kindern tue ich nichts, solange sie nicht auf mich schießen. Aber ich töte alle Männer, und es tut mir kein bisschen leid.“ Hoffmann zitiert dann Autoren, die die „Männerfeindlichkeit“ mit der „Judenfeindschaft des Christentums in früheren Jahrhunderten“ vergleichen. „Christliche Führer hatten nie zur Ermordung der Juden aufgerufen, sie schufen aber ein Klima der Ablehnung, das für andere Menschen solche Taten möglich machte.“ Ein ähnlicher Mechanismus sei am Werk, „wenn eine kulturelle Elite Hass oder Geringschätzung gegenüber Männern schürt“. Die Situation der Männer heute mit der Situation der Juden vor dem Holocaust zu vergleichen – ein anderes Wort als Wahnsinn fällt einem dazu kaum ein.

Und auch wenn Hoffmann immer wieder betont, dass er für Männer und nicht gegen Frauen kämpfe, ist das weibliche Geschlecht in seinen Argumentationen ständig an allem schuld – selbst an der eigenen Benachteiligung. Männer würden sich ja auch deswegen mit 70-Stunden-Wochen an die Spitze „durchschuften“, um in das Beuteschema attraktiver Frauen zu fallen. „Bei Frauen ist es dagegen kein Statussymbol, beruflich erfolgreich zu sein. Deswegen arbeiten sie auch keine 60 Stunden in der Woche“, sagt er.

Zehntausende Männer werden Opfer von häuslicher Gewalt

Andererseits hat Hoffmann kein Problem mit Menschen, die Frauen vor allem als Beute begreifen. Das Buch „Der perfekte Eroberer – wie Sie garantiert jede Frau verführen“ hat er zusammen mit einem sogenannten Pick-up-Artist geschrieben. Diesen selbsterklärten Verführungstrainern wird nicht nur vorgeworfen, Frauen wie austauschbare Objekte zu behandeln. Von den offensiven Anmach-Strategien der Pick-up-Artists fühlen sich viele Frauen auch schlicht belästigt. Hoffmann schrieb 2014 online: „Immer stärker bildet sich ein neuer Trend heraus, der ebenfalls seinen Reiz besitzt: der Pick-up im Internet.“ Lasse einen „eine Schnecke“ an der Bar abblitzen, könne man zu Hause vor dem Bildschirm Selbstbewusstsein für den nächsten Versuch in der Bar sammeln. „Ein gewisses Maß an Überwindung von Schüchternheit ist allerdings auch nötig, wenn man eine unbekannte Schöne zum Beispiel über Facebook anspricht.“ Aber das sei viel leichter zu bewältigen.

Gerade Feministinnen müssen sich im Internet nicht nur mit den Annäherungsversuchen wildfremder Männer herumschlagen – sie werden oft auch massiv angefeindet und bedroht. Hoffmann macht auch dafür indirekt wieder die Frauen selbst verantwortlich: „Wenn Männern wieder und wieder und wieder eingetrichtert werde, wie frauenverachtend und gewalttätig sie seien, könnte sich dies auch zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung entwickeln“, zitiert Hoffmann in seinem Werk die Autoren eines „Fachbuches“. Er verteidigt auch die Urheber von menschenverachtenden Äußerungen, die auf Plattformen der radikalen Männerszene zu lesen sind, zum Beispiel diese: „Frauen sind doch nichts anderes als Zecken im Leben eines Mannes, die ihn aussaugen. Aber seit wann bestimmt die Zecke im Fell des Hundes, wo es langgeht?“

Hoffmann nennt diese Entgleisungen zwar „inakzeptabel“, macht indirekt aber wieder Frauen dafür verantwortlich: Man mache es sich zu einfach, wenn man den „radikalen Rand“ der Szene lediglich dämonisiere. In der Biographie der „verbal aggressivsten Vertreter“ der Männerrechtsbewegung finde sich nämlich „häufig eine Lebenssituation, die zu einer posttraumatischen Verbitterungsverstörung führen kann, beispielsweise jahrelanger sexueller Missbrauch, eine besonders schmerzhaft verlaufene Scheidung, häusliche Gewalt oder das Unterschieben eines Kuckuckskindes“. Und eine posttraumatische Störung führe eben unter anderem zu „ungezügelter Aggressivität“.

Hoffmann selbst wurde nicht durch traumatische Erfahrungen zum Männerrechtler. „Ich wollte Autor werden und habe nach meinem Examen 1996 einfach ein Thema für mein erstes Buch gesucht.“ Er habe sich zuerst überlegt, ein Lexikon der populären Irrtümer über Männer und Frauen zu schreiben. „Die meisten Vorurteile über Frauen waren aber schon abgeräumt.“ Ganz anders sei das bei Männern gewesen: „Ich habe gelesen, dass Männer im gleichen Maß Opfer von häuslicher Gewalt werden wie Frauen. Ich dachte zuerst, das kann nicht stimmen.“ Hoffmann war damit tatsächlich sehr früh auf ein Thema aufmerksam geworden, das erst jetzt langsam in der Öffentlichkeit ankommt: Viele Studien haben gezeigt, dass jedes Jahr auch Zehntausende Männer Opfer von häuslicher Gewalt werden.

„Ich komme ja aus der linken Ecke.“

Hoffmann hatte also sein Thema gefunden, er schrieb ein Buch und schickte das Manuskript an 80 Verlage. Keiner wollte es drucken. Erst 2001 erschien sein Werk: „Sind Frauen bessere Menschen? Plädoyer für einen selbstbewussten Mann“. Es dauerte dann weitere zwei Jahre, bis ein „Focus“-Redakteur bei Hoffmann anrief – und aus dem Buch die Titelgeschichte „Das privilegierte Geschlecht“ machte. Im ersten Absatz des Artikels hieß es, dass Hoffmann erfahren habe, wie es im Patriarchat zugehe, als 80 Verlage sein „faktensattes“ Buch als „zu polarisierend“ oder „zu brisant“ abgelehnt hätten. „Schließlich ermannte sich ein Berliner Szeneverlag.“ Obwohl sich dann auch der Focus „ermannt“ hatte, kam durch die Titelgeschichte keine große Debatte ins Rollen.

Stattdessen musste sich Hoffmann eine Nische suchen: Internetforen. Er begann als klassischer Troll. „Ich bin in einem sehr konfrontativen Stil in Frauenforen rein“, sagt er. Dann machte er sich auf die Suche nach Gleichgesinnten. 2004 rief er sein Blog ins Leben, außerdem wurde er in verschiedenen Foren aktiv, in denen sich wütende Männer austoben. „Wenn es das Internet nicht gäbe, gäbe es auch keine Männerrechtsbewegung“, sagt Hoffmann. Bei einem Großteil der Bewegung wäre das nicht sehr bedauerlich: Der Feminismus ist auch ein zentrales Feindbild von Rechtsradikalen. Laut der linken „tageszeitung“ warnte die „neue intellektuelle Rechte“ bereits 1994 in einem Manifest davor, dass der Feminismus „eine totalitäre Gefahr“ darstelle. Auch Hoffmann sagte 2007 in einem Interview über Feminismus, dass durch staatlichen Druck eine „gigantische ideologische Umerziehung“ stattfinde. „Das ist nichts weniger als totalitär.“

Interviewen ließ er sich damals von der „Jungen Freiheit“, dem Sprachrohr der Neuen Rechten in Deutschland. Hoffmann schwamm lange im rechten Strom mit: 2011 antwortete er in einem Interview mit dem populistischen Kopp-Verlag auf die Frage „Was tun Sie, um aufzuklären?“ mit der Aussage, dass er unter anderem Artikel „in politischen Magazinen wie eigentümlich frei, der Freien Welt, Jürgen Elsässers Compact“ publiziere. Das alles sind rechte Plattformen. Heute sagt Hoffmann: „Sonst hat mir ja keiner zugehört.“ Irgendwann habe er aber gemerkt, dass sich in der „lautstarken Internet-Männerszene“ Stimmen mehrten, die „auf die Ausgrenzung von Sündenböcken setzten“. Frauen, Homosexuelle, Migranten und Linke seien immer heftiger angefeindet worden. Irgendwann habe ihm das gereicht. „Ich komme ja aus der linken Ecke.“

Nicht selten hat Hoffmann ja wirklich recht

Kurzerhand erklärte er sein Blog 2012 zum „Sprachrohr des linken Flügels der Männerrechtsbewegung“. Seitdem versucht er wieder verstärkt, in bürgerlichen Kreisen Gehör zu finden. Gelegentlich wird Hoffmann von seriösen Medien zitiert, auf seinem Blog veröffentlichte er in diesem Sommer außerdem das Programm der „Liberalen Männer“, einer Vereinigung aus FDP-Mitgliedern, die sich für Männerrechte einsetzen will. An der Gründungsveranstaltung der Gruppe Anfang August konnte er nicht teilnehmen: Die Anreise war ihm zu teuer.

Hoffmann lebt von den Spenden, die ihm Leser seines Blogs überweisen, und dem wenigen Geld, das seine Bücher einbringen („Sex-Ratgeber laufen immer“). Er zog auch aus finanziellen Gründen nie aus seinem Elternhaus aus. „Wenn ich nebenbei für die Lokalzeitung über Hasenvereine schreiben müsste, könnte ich nicht so viel für die Männerrechtsbewegung machen.“ Auch dass er Single ist, habe mit diesem Engagement zu tun: Nicht lange nachdem er 1996 anfing, sich für sein Geschlecht zu engagieren, habe sich seine damalige Freundin von ihm getrennt, sagt er. „Wie alle frisch Konvertierten war ich anfangs ziemlich kompromisslos.“ Aber auch die bislang letzte Frau, an der er „sehr interessiert“ gewesen sei, habe nie verstanden, was sein großes Problem sei. „Aber jetzt ist sie voll auf meiner Seite.“ Allerdings wohnt sie mittlerweile in Amerika.

Hoffmann sitzt also weiter allein hinter seinem Schreibtisch im Taunus. Wie sein Tagesablauf dort aussieht? „Ich wache auf, fahre noch im Halbschlaf den Computer hoch, und suche Artikel, über die ich auf meinem Blog berichten kann.“ Ab halb zehn arbeite er an seinen Büchern, am Nachmittag sichte er dann wieder Links, über die er am nächsten Morgen berichten kann. Ein Handy hat er nicht. „Ich sitze sowieso fast immer vor dem Bildschirm.“ Dabei würde er gerne in Talkshows über die Unterdrückung der Männer reden. Warum ihn niemand einlädt? Hoffmann ist überzeugt davon, dass man ausgegrenzt wird, sobald man sich für Männer einsetzt. Feministinnen hätten es viel besser: „Auf Männer einzudreschen ist nicht nur absolut legitim, man kann sich dafür auch preisen, ehren und fürstlich bezahlen lassen.“

Unterdrückt der „herrschende Feminismus“ hier also einen Gegner, der die besseren Argumente hat? Man kann es kurz machen: Nein. Kolumnisten, die kritisch über die Auswüchse des „Genderwahnsinns“ berichten, sind in den Medien mindestens genauso präsent wie die Feministinnen selbst. Dass Hoffmann nicht zu diesen Autoren gehört, liegt daran, dass seine Argumentation in weiten Teilen nicht mehrheitsfähig ist – und dafür kann niemand etwas, außer er selbst.

Er selbst sieht das selbstverständlich anders. Auf seinem Blog steht das Zitat: „Hat man 24 Stunden früher als die übrigen Menschen Recht, so gilt man 24 Stunden lang für närrisch.“ Und nicht selten hat Hoffmann ja wirklich recht: Drogon, der wichtigste Drache aus „Game of Thrones“, überlebte den Angriff am Ende von Folge vier zum Beispiel tatsächlich. In der fünften Episode konnte er schon wieder Männer töten. Das Kommando dafür bekam er von Daenerys Targaryen. Einer Frau.


Nota. - Dies Blog unterscheidet sich, wie Sie leicht erkennen werden, sehr von den Veröffentlichungn Arne Hoffmanns. Ich will auch nicht wirklich zur Populariserung seine Sachen beitragen, ich finde meine besser. Aber bemerkenswert ist doch: Während unter den feministischen Autor*innen jede schrille Schrulle an die große Glocke gehängt wird, hat es Hoffmann bis heute nichteinmal geschafft, Skandal zu machen. Ich auch nicht, und das vereint uns.
JE



 

Donnerstag, 10. Oktober 2019

Und es gibt sie doch, die Männergrippe!


aus scinexx

Was ist dran an der Männergrippe?
Virale Infekte scheinen das männliche Geschlecht tatsächlich stärker zu treffen

Von wegen reine Anstellerei: Grippale Infekte und "echte" Grippeerkrankungen treffen Männer tatsächlich oft schwerer als Frauen. Eine Überblicksarbeit bestätigt nun: Vertreter des männlichen Geschlechts landen häufiger wegen einer Influenza im Krankenhaus und scheinen auch bei anderen Infekten anfälliger für Komplikationen zu sein. Ein möglicher Grund könnte ihr offenbar schwächeres Immunsystem sein.

Husten, Schnupfen, Heiserkeit: Für Frauen sind diese Symptome noch längst kein Grund, sich krank zu melden. Sie gehen mit einer normalen Erkältung brav zur Arbeit, schmeißen den Haushalt und kümmern sich um die Kinder. Für Männer hingegen wäre das in einer solchen Situation undenkbar. Sie liegen dann wie ein Häufchen Elend auf dem Sofa, bemitleiden sich und sehen vor ihrem inneren Auge schon die eigene Beerdigung ablaufen.

Kein Wunder: Schließlich sind Männer nicht einfach erkältet. Männer haben die "Männergrippe", eine zumindest gefühlt weitaus schlimmere Variante solcher Infekte. Der schwere Verlauf hängt dabei vor allem mit der ausgeprägten Wehleidigkeit des männlichen Geschlechts zusammen. "Mann" übertreibt und leidet eben gerne - so die gängige, hauptsächlich von Frauen beeinflusste Lehrmeinung.

Der Mythos vom Warmduscher

Doch stimmt das auch? Oder wird der Männerwelt damit Unrecht getan? Schließlich gibt es inzwischen Hinweise darauf, dass einige Infekte Männer tatsächlich schwerer treffen als Frauen. Ob das auch für grippale Infekte und die Grippe gilt, hat nun Kyle Sue von der Memorial University of Newfoundland im kanadischen St John's untersucht.

Der Mediziner war es nach eigenen Angaben leid, ständig der Übertreibung bezichtigt zu werden - und durchforstete deshalb die wissenschaftliche Literatur auf der Suche nach Belegen für geschlechtsspezifische Unterschiede in Sachen Erkältung und Co. Die Recherche ergab: Das Phänomen scheint sich nicht nur durch die Tatsache erklären zu lassen, dass Männer Warmduscher sind. Ihr Körper leidet womöglich wirklich stärker unter den viralen Attacken.

Anfälliger für Komplikationen

So zeigen epidemiologische Studien beispielsweise, dass Männer mit einer Grippeerkrankung häufiger ins Krankenhaus eingeliefert werden und auch öfter daran sterben als Frauen im gleichen Alter. Bei anderen akuten viralen Infekten der Atemwege ist das männliche Geschlecht offenbar ebenfalls anfälliger für Komplikationen und einen tödlichen Verlauf, wie Sue berichtet.

Eine mögliche Erklärung dafür: Einigen Untersuchungen zufolge scheinen Männer ein weniger robustes Immunsystem zu haben. Als Folge kommt ihr Körper mit einem Infekt schlechter zurecht. "Männer übertreiben in Bezug auf ihre Symptome womöglich gar nicht. Stattdessen könnte ihr schwächeres Immunsystem zu schwereren Krankheitsverläufen und sogar einer höheren Sterblichkeit führen als bei Frauen", schreibt der Forscher.

Evolutionsbedingtes Verhalten?

Was zunächst unvorteilhaft klingt, könnte aus evolutionärer Sicht Sinn haben. Weniger in das Immunsystem zu investieren, erlaube Männern mehr Energie in andere wichtige biologische Prozesse zu stecken - zum Beispiel Wachstum oder Fortpflanzung, glaubt Sue.

Zudem könnte es für unsere Vorfahren ein lebenswichtiger Vorteil gewesen sein, bei einem Infekt gar nicht erst in Versuchung zu kommen, noch am normalen Alltagsleben teilzunehmen und etwa auf die Jagd zu gehen: "Auf dem Sofa zu liegen oder im Bett zu bleiben könnte ein evolutionsbedingtes Verhalten sein, das uns früher davor schützte, zu einem leichten Opfer für Räuber zu werden", konstatiert der Mediziner.

Rauf aufs Sofa, Männer!

Zwar sei noch weitere Forschung nötig, um das Phänomen der Männergrippe genauer zu verstehen - und zum Beispiel zu klären, ob bestimmte Umweltaspekte den männlichen Genesungsprozess beeinflussen können. Klar sei jedoch: Männer haben es mitunter wirklich schwerer.

"Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, männerfreundliche Räume mit großen Fernsehern und Liegesesseln zu schaffen - Räume, in denen sich Männer in Ruhe und in Sicherheit von ihrem schweren Leiden erholen können", schließt Sue. (BMJ, 2017; doi: 10.1136/bmj.j5560)
(The BMJ Christmas editions, 12.12.2017 - DAL)


Nota. - Das Männer ein insgesamt schwächeres Immunsystem haben als Frauen, ist sehr wahrscheinlich - aber erwiesen ist es nicht: weil nämlich eine konsistente Erklärung fehlt, siehe oben. Einige Plausibilität hat jedoch die Theorie, dass werdende Mütter, denen ein fremder Organismus im Leib heranwächst, ihr Immunsystem vorüberhegehend herabstimmen, um Abstoßungsreaktionen zu vermindern (weshalb Kindbettfieber so verbreitet ist); und dies insbesondere bei einem fremden Organismus, der das extrafremde Y-Chromosom in sich trägt. Bei den Müttern erhole sich das Immunsystem nach und nach wieder; nicht aber bei den neugeborenen männlichen Individuen, deren Immunsystem ja seinerseits herabgesstimmt war, aber von Anfang an; und keinen Status quo ante kennt, zu dem es zurückkehren könnte.
JE

Mittwoch, 9. Oktober 2019

#WeAllToo.


aus nzz.ch, 7. 10. 2019

Frei erfundene Berichte über Missbrauch: 
Scotland Yard ermittelt stümperhaft und gesetzeswidrig
Ehemalige Minister, Wirtschaftsakteure und hohe Militärs standen im Verdacht, Jahrzehnte zuvor Buben vergewaltigt zu haben. Das ist nicht wahr – und der Bericht über die Ermittlungen lässt Zweifel an der Urteilsfähigkeit der Hauptstadtpolizei aufkommen.

von Markus M. Haefliger, London

«Unrechtmässig», «stümperhaft» und «Grund zu sehr ernster Besorgnis», lautet das Urteil, das Sir Richard Henrique, ein ehemaliger Richter, über die Metropolitan Police und die Polizeiaufsichtsbehörde ausspricht. Die mit über 31 000 Uniformierten grösste Polizeitruppe Grossbritanniens hatte zwischen 2014 und 2016 während fast anderthalb Jahren gegen einen vermeintlichen Ring ehemaliger Minister, Wirtschaftsakteure und hoher Militärs in der Hauptstadt ermittelt. Die Angehörigen des Londoner Establishments standen im Verdacht, vier Jahrzehnte zuvor wüste Partys veranstaltet und Buben vergewaltigt zu haben; in drei Fällen sollen sie angeblich ihre Opfer zum eigenen sexuellen Vergnügen oder zur Einschüchterung anderer ermordet haben. 

Frei erfunden

Die Horrorgeschichten waren freilich frei erfunden, «samt und sonders», wie Henrique in seinem letzte Woche vollständig veröffentlichten Bericht festhielt. Vor drei Jahren hatte Scotland Yard, wie die Hauptstadtpolizei auch genannt wird, die 2,5 Millionen Pfund teure Strafuntersuchung eingestellt, ohne auch nur eine Anklage zu erheben. Henrique wurde beauftragt, allfällige Verfehlungen zu untersuchen, aber sein Bericht wurde gekürzt und bearbeitet und im November 2016 am Tag nach den amerikanischen Präsidentenwahlen veröffentlicht, damit er weitgehend unbemerkt bliebe. Erst letzten Freitag wurde die ganze, fast 400 Seiten umfassende Enquête der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Am Montag folgte der Bericht des Independent Office for Police Conduct (IOPC), der Aufsichtsbehörde. Sie anerkennt Mängel und schlägt eine Liste von Verbesserungen vor, sieht aber von Disziplinarmassnahmen gegen einzelne Detektive oder die verantwortlichen Befehlshaber ab.

Edward Heath, zu Unrecht beschuldigter Ex-Premierminister. (Bild: AP)
Edward Heath, zu Unrecht beschuldigter Ex-Premierminister. 
Der Urheber der Verdächtigungen, ein Pfarrerssohn, ehemaliger Pfleger und Schulaufseher, hatte die Detektive systematisch belogen. Er gab an, zwischen 1975 und 1984 mehr als ein Dutzend Mal vergewaltigt worden zu sein. In den Vernehmungsprotokollen trat er als Zeuge «Nick» auf. Er erschlich sich von der Behörde für Opferentschädigung eine Zahlung von 22 000 Pfund. Letztes Jahr wurde er von Schweden, wo er sich niedergelassen hatte, ausgeliefert. Im Juli verurteilte ein Gericht Carl Beech, wie er nun mit seinem vollen Namen genannt werden konnte, wegen mehrfacher Irreführung der Justiz zu 18 Jahren Zuchthaus. Der 51-Jährige war Anfang Jahr selber wegen Kindsmisshandlung verurteilt worden. Er hat gegen das Urteil rekurriert. 

Nicht einmal Protokolle gelesen

Die Kritik im Henrique-Bericht war in den Grundzügen bekannt, aber die Einzelheiten sind empörend und lassen Zweifel aufkommen am Urteilsvermögen von Polizeibeamten und ihren Vorgesetzten. Laut dem Richter hätten bei den Detektiven immer wieder Warnlampen aufleuchten müssen, etwa wenn Beech behauptete, er sei mehrfach von den Übeltätern an seiner Schule abgeholt worden – ohne dass die Schule oder seine Mutter dies bemerkt haben sollten. Vergewaltigungen von mehreren Buben gleichzeitig sollen unter anderem im Haus des ehemaligen Premierministers Edward Heath vorgekommen sein – obwohl das Gebäude von Polizisten bewacht wurde. Beech heuerte einen Privatdetektiv an, um sicherzugehen, dass sein Stiefvater, der seinen Anschuldigungen hätte widersprechen können, gestorben war. Die Londoner Detektive machten sich nicht einmal die Mühe, die Protokolle zu lesen, welche die Polizei in Wiltshire verfasste, nachdem sich Beech zuerst bei ihnen gemeldet hatte. Kein Polizist, der Bescheid gewusst hätte über alle zur Verfügung stehenden Informationen, hätte Beech noch Glauben geschenkt, schreibt Henrique.

Die Frage ist, weshalb die Polizei dem falschen Opfer das Lügengebäude abkaufte. Henrique nennt als Grund eine «Kultur, wonach Opfern geglaubt werden muss». Die Polizeioperation «Midland» fiel vor fünf Jahren in eine Zeit, in der mehrere Fälle von systematischen Kindsmisshandlungen bekanntgeworden und schwere institutionelle Mängel zu deren Vorbeugung in der Vergangenheit aufgedeckt worden waren. Mit der historischen Aufklärung der Verbrechen wurde seither die grösste je an die Hand genommene öffentliche Untersuchung beauftragt. Aber das Pendel hat unterdessen zu weit in die andere Richtung ausgeschlagen.

Laut dem Henrique-Bericht vereinbarten die Verantwortlichen der Operation im Voraus, was sie bei Eröffnung der Ermittlungen gegenüber der Presse sagen würden: dass «Nick» (Beech) ihrer Meinung nach ein glaubwürdiger Zeuge sei. Auch später noch erwirkten mit dem Fall betraute Polizeidetektive unter Angabe von unvollständigen Informationen von einem Richter Hausdurchsuchungsbefehle. Dadurch wurde wurde unter anderen Leon Brittan in Mitleidenschaft gezogen, ehemaliger Innenminister unter Margaret Thatcher und von 1989 bis 1999 EU-Kommissar. Brittan starb 2015 an einem Krebsleiden, während die Ermittlungen noch liefen; er erlebte die Rehabilitation seines Rufs nicht. 

Angst vor Rassismus-Vorwurf

Der Verstoss gegen die Unschuldsvermutung ähnelt anderen Polizeiskandalen wie der skandalösen Behandlung eines Studenten, der vor zwei Jahren in die Mühle der Justiz geriet, weil ihn seine Ex-Freundin der Vergewaltigung beschuldigt hatte. Der Prozess gegen ihn fiel in sich zusammen, als die die Polizei nach Ermittlungen von mehr als einem Jahr gezwungen wurde, endlich das Beweismittel in Form eines Handys auszuliefern, das den Beschuldigten entlastete. Als Folge müssen Klägerinnen in vergleichbaren Fällen neuerdings in die Offenlegung ihrer Kommunikationsmittel einwilligen. Ein anderes Beispiel sind Banden von pakistanischstämmigen Männern, die in Provinzstädten wie Rotherham in Nordengland Hunderte von jungen weissen Frauen vergewaltigten, von denen sie annahmen, dass sie vogelfrei seien. Die Polizei verschloss vor den Verbrechen jahrelang die Augen, aus Furcht, als rassistisch hingestellt zu werden.

Polizeichefin Cressida Dick entschuldigte sich am Montag einmal mehr bei den Opfern der falschen Beschuldigungen und ihren Angehörigen. Sie selber steht unter Beschuss, weil sie vor fünf Jahren als Kommissarin für Ermittlungen wegen Mords und Vergewaltigung eine Mitverantwortung für die Operation «Midland» traf. Ebenfalls am Montag schrieb Henrique im Boulevardblatt «Daily Mail» einen geharnischten Artikel, in dem er die zahnlose Aufarbeitung der Affäre durch die Polizeiaufsichtsbehörde kritisierte. Das IOPC habe die Untersuchung drei Jahre lang verschleppt und sei entgegen seinen, Henriques, damaligen Empfehlungen mild und unprofessionell vorgegangen. So seien keine Anstrengungen unternommen worden, um herauszufinden, über welche Informationen die ermittelnden Detektive um das Jahr 2015 herum verfügt hätten.


Nota. - Populismus ist nicht erst ein politisches Phänomen (der letzten Jahre); sondern ein gesellschaftliches Gift, das allezeit und allerorten schleicht. Bevor es die Demokratie angreift, beginnt es, den Rechtsstaat zu zersetzen. Recht und Freiheit sind die Grundlagen den Demokratie und nicht ihre süße Frucht.
JE

Dienstag, 8. Oktober 2019

Sind Männer unfairer?


aus scinexx

Männer sehen die Welt stärker wettbewerbsorientiert
Im Wettbewerb investieren Männer mehr Ressourcen als es Frauen tun, um die Leistung von Konkurrenten zu senken. Männer überschätzen die gegen sie gerichtete Sabotage und reagieren dementsprechend, während Frauen die Sabotage-Anstrengungen von Wettbewerbern realistisch einschätzen, so das Ergebnis eines Laborexperiments am KIT. Ein Arbeitsumfeld, dass Transparenz schafft und die Unsicherheit über das Sabotage-Level der Wettbewerber reduziert, veranlasst somit Männer auch weniger zu sabotieren, berichtet die Forschungsgruppe aus Karlsruhe und Bonn nun im Fachjournal Experimental Economics.

Die Aussicht auf einen Bonus, ein Projekt oder eine Beförderung kann Anreiz sein, sich im Beruf anzustrengen – oder die Leistung von Kolleginnen und Kollegen schlecht aussehen zu lassen. Um dies zu erreichen, werden Mitbewerbern wichtige Informationen über Kunden oder Geschäftspartner vorenthalten, Meeting-Termine nicht mitgeteilt oder gar die Festplatte gelöscht.

Professorin Petra Nieken beschäftigt sich als Leiterin des Lehrstuhls für Human Resource Management am KIT mit Anreiz- und Motivationsmechanismen. Gemeinsam mit Dr. Simon Dato, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für angewandte Mikroökonomik der Universität Bonn, hat sie Verhaltensunterschiede zwischen Männern und Frauen im Wettbewerb untersucht. „Uns ging es darum, den Geschlechterunterschied in unethischem Verhalten, der Sabotage, klar aufzuzeigen und die zugrundeliegenden Mechanismen zu verstehen, um langfristig Gegenmaßnahmen entwickeln zu können“, so die Wirtschaftswissenschaftlerin. Die Ergebnisse ihres kontrollierten Laborexperiments haben sie unter dem Titel „Gender difference in sabotage: the role of uncertainity and beliefs“ in der Fachzeitschrift Experimental Economics veröffentlicht.

Bei Wettbewerben zählt die relative Leistung, es ist nur wichtig, dass man besser als die Mitbewerber ist. „Man kann also entweder härter arbeiten und seine eigene Performance erhöhen, oder die Performance des anderen senken. Alle Aktivitäten, die die Performance des Gegners senken, fallen unter den Begriff Sabotage“, erläutert Nieken. In dem aktuellen Experiment erhielten die Teilnehmenden die Aufgabe, Wörter in eine Ziffernfolge zu übertragen. Für jede richtige Codierung bekamen sie Punkte, und wer die meisten Punkte erreichte, erhielt einen Bonus. Frauen und Männer zeigten im Durchschnitt vergleichbare Leistungen. Beide Geschlechter hätten also auch eine in etwa gleiche Chance, den Wettbewerb gegeneinander zu gewinnen. Es gab in der Versuchsanordnung allerdings die Möglichkeit, durch den Einsatz von Geld dem Wettbewerber Punkte wegzunehmen. Es zeigte sich, dass Männer mehr als Frauen sabotierten, sie investierten mehr Geld, um die Leistung des Wettbewerbers zu senken. „Dadurch gewinnen sie häufiger, obwohl Männer und Frauen im Schnitt vergleichbare Leistung bringen“, sagt Nieken.

Im Experiment wurden zudem die Informationen, die die Teilnehmer über das Sabotage-Ausmaß der Wettbewerber erhielten, gezielt variiert. „Wir konnten zeigen, dass der relevante Faktor für das eigene Sabotage-Verhalten die Unsicherheit über das Sabotage-Verhalten der Wettbewerber ist“, so Nieken. „Männer überschätzen die gegen sie gerichtete Sabotage systematisch, infolge dessen sabotieren sie auch stärker. Frauen dagegen schätzen das Ausmaß der Sabotage realistisch ein. Es ist nicht so, dass Frauen und Männer unterschiedliche moralische Wertmaßstäbe haben, sondern Männer nehmen ihre Umwelt als kompetitiver, stärker auf Wettbewerb ausgerichtet, wahr“, betont Nieken.

Wenn Männer das Feedback-Signal bekommen, dass die Welt gar nicht so kompetitiv ist, wie sie annehmen, passen sie ihre Erwartung – infolge auch ihr Verhalten – entsprechend an und reduzieren ihr Sabotage-Verhalten auf das Level von Frauen. „Das funktioniert schon durch ein sanftes Signal“, sagt Nieken. Die Folge: Es gewinnt wieder die bessere Person und Frauen sind nicht systematisch benachteiligt. Diese Erkenntnis ermöglicht es laut Nieken, Sabotage-Verhalten schon entgegenzusteuern, indem im Unternehmen Bewusstsein für diesen Mechanismus geschaffen wird. „Ziel ist es, den Besten oder die Beste zu fördern. Wird systematisch die 'falsche' Person befördert, ist das sowohl für die Verlierer als auch für die Unternehmen nachteilig“. (Experimental Economics: "Gender differences in sabotage: the role of uncertainty and beliefs.")

Quelle: Karlsruher Institut für Technologie


Nota. - Zunächst einmal: Es stimmt also nicht, dass Konkurrenz in jedem Fall die Performanz steigert; unter Umständen bremst sie stattdessen. 

Dass der Unterschied zwischen Männern und Frauen aktuell durch 'Feedback' nivelliert werden kann, verweist darauf, dass es sich, wenn überhaupt, um eine sehr rezente genetische Erwerbung handeln muss. Bis in die Jäger-und-Sammler-Zeit wird man nicht zurückgehen müssen. Kulturhistorisch plausibel wäre zwar eine Erklärung durch 'außen' und 'innen'. Während das Sammeln im Unfeld des Lagers wohl kaum Anlass zu Misstrauen gibt, hat aber die Jagd Kooperation und gegen- seitiges Vertrauen geradezu als Bedingung. 

Anders das Verhältnis von Haushalt und unsicherer Umwelt in den sedentären Gesellschaften. Kooperativ und arglos kann und muss das gegenseitige Verhältnis in den früher Wohnstätten gewesen sein. Das Verhältnis zu den nächsten Nachbargemeinschaften variierte dagegen zwischen Raub und friedlichem Handel. Die Außenbeziehungen der ländlichen Gemeinschaften waren eine Domände der Männer, und in dem Maße, wie sich die Verkehrswege stalilisierten, entstand aus dem dauerhaften Zusammenhang ein Markt und eine Öffentlichkeit und bildeten sich die agrarischen Gemeinden zu einer bürgerlichen Gesellschaft und die variablen Außenbeziehungen zur andauernden Konkurrenz. Und die Protagoni- sten der bürgerlichen Gesellschaft und Gründer einer Öffentlichkeit waren wiederum Männer.
JE




Montag, 7. Oktober 2019

Der Kampf um Gender.


aus nzz.ch

Der Kampf um Gender
Anti-aufklärerisch und kulturrelativistisch: Wie ein noch junges Studienfach die dringenden Themen der Gegenwart verschläft.

von Vojin Saša Vukadinović

Die Gender-Studies befinden sich in einer Legitimationskrise: Die Öffentlichkeit begegnet dem Fach mit Ablehnung, Biologen fechten ihre Wissenschaftlichkeit an, und politische Gruppierungen mobilisieren wahlweise gegen einen «Wahn» oder eine «Ideologie». Alle beanstanden Sinn und Zweck eines Studienfachs, das mit zwanzig Jahren noch relativ jung ist, gleichwohl aber eine Vielzahl an Kontroversen durchlaufen hat. Der zunehmende Lärm dieser Einsprüche übertönt Belange, die bisher deutlich weniger Gehör gefunden haben.

Dazu zählt die Kritik an Forschungstendenzen, die auf den ersten Blick überraschend anmuten, weil sie jedweden aufklärerischen Anspruch bezüglich Geschlecht und Sexualität konterkarieren. So gehen manche Gender-Studies-Arbeiten von einer deterministischen «Kultur» aus, die einem Individuum wesensbestimmend übergeordnet sei. Ebenfalls ist ein damit einhergehender Kulturrelativismus zu beobachten, der die Genitalverstümmelung von Mädchen schon einmal mit der westlichen Wahlfreiheit, ein Genitalpiercing zu tragen oder nicht, vergleicht oder Selbstmordattentate als «queer» interpretiert, weil diese Unordnung in der «symbolischen Ordnung» stifteten. Generell ist eine Verschiebung weg von der Beschäftigung mit Ausbeutung hin zu Strategien zu verzeichnen, die sich nicht an einer Beseitigung gewalttätiger Verhältnisse interessiert zeigen, sondern Betroffenen bisweilen nahelegen, sich in diese zu fügen.

Genese der Gender-Studies

Dass sich solche Positionen in einem Fach finden, das mit dem akademischen wie gesellschaftspolitischen Anspruch angetreten ist, für geschlechter- und sexualitätsrelevante Fragen zu sensibilisieren, und dabei stets auch eine globale Tragweite geltend gemacht hat, dürfte zunächst verwundern. Tatsächlich waren Behauptungen wie die vorgenannten während der Institutionalisierung der neuen Disziplin noch nicht prominent vertreten. War die Frühphase der Gender-Studies in den 1990er Jahren stark von psychoanalytischen und literaturwissenschaftlichen Zugriffen geprägt, hatten im nachfolgenden Jahrzehnt sogenannte «selbstreflexive» Ansätze Konjunktur.


Wichtiger als der Nachweis der Veränderbarkeit von Geschlechterrollen wurden Fragen nach dem Sprechort der Einzelnen. Bedeutsamer als das, was gesagt wurde, war nun, wer etwas sagte. Identitäten, deren historische Herkunft und deren etwaige Überwindung zunächst im Fokus des Fachs gestanden hatten, wurden damit neu errichtet und hoffnungsvoll aufgeladen. Diese Aufmerksamkeitsverschiebung verstärkte eine Kulturalisierung des Partikularen – und damit die Abkehr vom Universalismus. Infolgedessen blühten die besagten antiemanzipatorischen Inhalte auf.

Die Kritik an diesen ist bisher zumeist von aussen vorgetragen worden: Innerhalb der Gender-Studies ist es noch nicht zu einer Debatte darüber gekommen. Hier wird ein starker Kontrast zu anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern deutlich: Es gibt bekanntlich nicht die Historikermeinung, nicht den Soziologenstandpunkt und auch nicht die politikwissenschaftliche Einschätzung eines Problems, sondern konkurrierende, bisweilen sehr hart miteinander um die richtigen Methoden, Theorien und Resultate streitende Schulen und Denkströmungen. In den Gender-Studies hingegen hatten bisher noch die bedenklichsten Positionen keine fachinterne Anfechtung zu befürchten: Sie blieben ohne Widerspruch.

Wozu Gender-Studies?

In einem polemischen Beitrag hat Stefan Hirschauer vor wenigen Jahren die Frage «Wozu Gender-Studies?» gestellt. Der antifeministische Tenor des Artikels war zwar bedauerlich, schmälerte allerdings nicht den Wert des Arguments. So plädierte der Soziologe dafür, dass sich Geschlechterforscherinnen nicht mit der Sache gemeinmachen sollten, der sie nachgingen, und sprach vom «verdrucksten Schweigen» jener, «die schon lange ahnen, dass etwas schiefläuft», jedoch keine Stellung bezögen. Zu den Fehlentwicklungen zählte Hirschauer die systematische Überbewertung des Status, welcher der Geschlechterunterscheidung in modernen Gesellschaften zukomme, vor allem aber die Abwesenheit «kaltblütige[r] Bilanzierungen der historischen Gleichzeitigkeit des politisch Ungleichzeitigen – von archaischen Gewaltakten gegen Frauen über die Irrelevanz von Geschlecht bis zur Benachteiligung von Männern». Er beklagte weiter eine «Wagenburgmentalität», die sich vor der Komplexität der Welt verriegle, statt dieser analytisch gerecht zu werden.


Wagenburgmentalität

Hiervon zeugen von Jargon geprägte Gender-Studies-Schriften, die sich zwar mit sozialen Veränderungen befassen, den Dialog ausserhalb des eigenen Radius allerdings nicht suchen. Solche Abhandlungen fallen hinter die Möglichkeiten des Romans zurück, des allen zugänglichen Laboratoriums des Denkbaren: Weitaus emanzipatorischere und phantasievollere Vorstellungen, was das Abstreifen überholter Geschlechterrollen anbelangt, sind in den letzten Jahrzehnten beispielsweise in den Werken von Monique Wittig, Octavia Butler oder Jeanette Winterson angedacht worden. Zum anderen befördert jene von Hirschauer monierte «Wagenburgmentalität» die Tendenz, sich gegenseitig nicht zu kritisieren.


Hiervon profitieren vor allem Arbeiten, die zweifelhafte Positionen vertreten können, weil sie keine innerdisziplinären Herausforderungen zu befürchten haben. Die Gender-Studies wurden auf einer sprachlichen Unterscheidung gegründet, die es im Deutschen nicht gibt: Sinnstiftend wurde «gender», d. h. Ausdruck der Geschlechtsidentität, und nicht «sex», das im Englischen die biologisch-materielle Dimension meint (und das Sexuelle stärker evoziert). Nach aussen hat diese Präferenz schroffe Ablehnung provoziert, wodurch die gesellschaftspolitische Vermittlung der Frage beeinträchtigt wurde, weshalb es sich lohnt, über die Ordnung der Geschlechter nachzudenken. Nach innen wiederum hat der Vorzug von «gender» gegenüber «sex» entschieden den Blick auf Repräsentationsweisen favorisiert.

Dies beförderte ein Missverhältnis zwischen der Frage danach, wie etwas dargestellt wird, und der Frage, warum dem Geschlecht eine bestimmte Funktion zukommt – gesellschaftlich, politisch, ökonomisch. 

Und die wesentliche, nicht austauschbare Funktion ist diejenige der Reproduktion der Gattung: Sie wird von Frauen geleistet. Während der Second Wave Feminism der 1970er Jahre dies zentral zum Thema hatte, sind die Schwangerschaft sowie der Körper als dezidiert geschlechtlich ausgewiesene Belange in den Gender-Studies zu Sekundärthemen geworden.

Der Fokus auf Sprache und Bedeutung hat zudem das Gewicht von einigen entscheidenden Feldern wegverlagert, auf denen sich die Krisen und Herausforderungen der Gegenwart besonders bemerkbar machen. Forschung zur jihadistischen Gefahr etwa kam bisher vor allem aus der Politikwissenschaft, während sich Arbeiten aus den Gender-Studies vorwiegend mit der Täterrepräsentation in westlichen Medien befassen. Damit wird die wissenschaftliche Klärung der Genese dieses Phänomens anderen Fächern überlassen, die den evidenten geschlechterrelevanten Aspekt dann in der Regel übergehen. Eklatante Wissenslücken bleiben so bestehen.

Materielle Realität


Gleiches gilt für weitere gewichtige Forschungsfelder. Die rasanten Durchbrüche und Veränderungen in der Bio- und Hochtechnologie der letzten zwanzig Jahre müssten mit weitaus höherer Aufmerksamkeit als bisher verfolgt werden, gerade weil viele davon geschlechtliche Belange tangieren und von globaler Dimension sind: Leihmutterschaft, Abtreibung, HIV/Aids, Hormontherapien und geschlechtsangleichende Operationen sowie Schönheitschirurgie sind als evidente Beispiele zu nennen. Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesen Themen müssten bereits Bachelorstudierenden der Geschlechterforschung elementare Kenntnisse in Biologie, Medizin und Anthropologie vermittelt werden (und nicht, wie bisher, feministische Biologiekritik). Dies würde ihnen die Diskussion mit skeptischen Vertretern jener Disziplinen ermöglichen sowie dem interdisziplinären Selbstverständnis des Faches gerecht werden. Vor allem würde dies ihre Teilhabe an der Gestaltung des 21. Jahrhunderts entschieden vorantreiben und das dringende, bis anhin fehlende Gegengewicht zu den eingangs skizzierten Aporien bilden.

Die gewichtigste Antwort auf Hirschauers Frage liegt in der Tatsache begründet, dass das Emanzipationsversprechen in der Welt ist: Es gilt für alle. Menschenrechte und zivilisatorische Mindeststandards stehen nicht zur Verhandlung. Die politische Agitation hiergegen, die unter akademischen Vorzeichen von einigen betrieben wird und auf alle zurückfällt, die über Geschlecht arbeiten, ist gegen gute Bücher einzutauschen. Es ist zudem «sex», das darüber entscheidet, wer von Reproduktion, Abtreibung und unbezahlter Haus- und Care-Arbeit betroffen ist, und nicht «gender». Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser sich materiell manifestierenden Realität ist ein dringlicher Beitrag zur Analyse der globalen Gegenwart: darum Geschlechterforschung. 


Vojin Saša Vukadinović ist Historiker. Er forscht gegenwärtig zu den Anfängen des kapitalistischen Bewusstseins im 20. Jahrhundert. 


Nota. - Der Streit zwischen Feminismus und Gender Studies ist ein soziales Phänomen, kein wissenschaftliches. Nach- weisliche Erfolge hat der Feminismus qua Quote im öffentlichen Dienst und in den Medien erzielt, als Arbeitsbeschaf- fungsprogramm. Dort sind die Möglichkeiten aber langsam ausgeschöpft. Luft nach oben ist eventuell noch im akademi- schen Betrieb. Da kommt frau auch noch höher hinaus als anderswo. Doch die Akademikerinnen halten die Tür zu, die rechte Gesinnung allein soll hier nun nicht mehr reichen, es muss schon auch was studiert worden sein, sonst kann man sich zwischen den andern personalbedürftigen Fächern auf die Dauer nicht behaupten.

Doch dass die studierten Schwestern es überhaupt soweit gebracht haben, verdanken sie ja nicht ihrer Wissenschaft, sondern dem stillschweigenden feministischen Apriori dieses, nun ja, Fachs. Das haben aber nicht sie etabliert, sondern die Straßenkämpferinnen mit ihrem Kreischen und Krakeelen. 

Ach, so ist manch böses Blut aufgekommen.
JE