aus FAZ.NET, 16. 6. 2022
Sexualhormon Testosteron
Von
Nicola von Lutterotti
Wer sich in der heutigen Zeit mit Unterschieden zwischen den Geschlechtern befasst, begibt sich auf vermintes Terrain. Dass Männer anders aussehen als Frauen, lässt sich indes schwerlich leugnen. Schon Kleinkinder sind zu einer solchen Differenzierung in der Lage. Das äußere Erscheinungsbild ist dabei das eine, die biologischen Voraussetzungen dafür das andere. Bereits im Mutterleib wirken auf männliche Ungeborene andere Kräfte ein als auf weibliche. Anders als viele annehmen dürften, geschieht dies jedoch nicht unmittelbar, sondern ab etwa der sechsten Schwangerschaftswoche. Erst zu diesem Zeitpunkt entwickeln sich die Geschlechter in unterschiedliche Richtungen. Aus dem gleichen embryonalen Zellhaufen, dem Genitalhöcker, wachsen dann entweder Penis und Hodensäcke heran oder Klitoris und Schamlippen.
Die Ausbildung der männlichen Geschlechtsorgane, und nicht nur dieser, trägt die Handschrift von Testosteron – eines Hormons, das die einen mit „echten Kerlen“ verbinden, die anderen mit Aggressivität und Gewalt. Hergestellt aus dem Fettstoff Cholesterin, zieht Testosteron seit jeher echte und vermeintliche Experten in seinen Bann. So befassen sich unzählige Schriften mit diesem als typisch männlich geltenden Geschlechtshormon, das, wenngleich in deutlich geringeren Mengen, auch vom weiblichen Organismus erzeugt wird.
Der bedeutsame Einfluss der Kultur
Was den Einfluss von Testosteron auf Männer betrifft, fällt es inmitten der Kakophonie von Annahmen und Behauptungen oft schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen. Carole Hooven, Dozentin und Ko-Direktorin für menschliche Evolutionsbiologie an der Harvard University, ist nun angetreten, dieses Gewirr zu entflechten. In ihrem Buch „T wie Testosteron“ räumt sie mit gängigen Vorurteilen auf und versucht zugleich, einem nicht einschlägig vorgebildeten Publikum zu erläutern, wie das Sexualhormon den Körper und das Verhalten von Männern prägt und was sich die Natur dabei gedacht haben könnte. Die Tatsache, dass sie an der Harvard University über Geschlechterunterschiede und Testosteron promoviert hat, verleiht ihr dabei die nötige Autorität, um ihren Lesern und vor allem auch Leserinnen nahezulegen, selbst nicht als „woke“ geltende Einsichten zu akzeptieren oder zumindest zur Kenntnis zu nehmen – jedenfalls dann, wenn sie auf einer soliden wissenschaftlichen Basis ruhen.
Ein Beispiel betrifft die seit Langem schwelende Debatte, ob es an der kulturellen Prägung oder an der Biologie liegt, dass Mädchen generell eher mit Puppen spielen und Jungen häufiger toben und sich balgen. Auch wenn sich diese Frage nicht mit letzter Sicherheit beantworten lässt, kann Hooven doch recht überzeugend darlegen, dass die geschlechtstypischen Beschäftigungsvorlieben von Kindern zumindest teilweise naturgegeben sind und Testosteron hierzu maßgeblich beiträgt. Zugleich versäumt sie es nicht, und das erhöht ihre Glaubwürdigkeit als Wissenschaftlerin, den bedeutsamen Einfluss der Kultur ins Spiel zu bringen.
Hierzu erwähnt sie unter anderem ein Experiment, in dem Männer und Frauen angehalten wurden, das Verhalten von drei Monate alten Babys zu beurteilen. Gingen die Versuchspersonen davon aus, dass es sich bei dem Säugling um ein Mädchen handelte – dieser in Wahrheit aber ein Junge war –, beschrieben sie dessen Verhalten auffallend oft mit Attributen, die gemeinhin als typisch weiblich gelten. Andererseits bezeichnete eine Frau ein vermeintliches Mädchen als „zufriedener und genügsamer, als es ein Junge wäre“.
Aggressive Männchen kommen bei Schimpansenweibchen besonders gut an
Um ihren Lesern die biologische Bedeutung von Testosteron nahezubringen, beschränkt sich Hooven nicht auf den Menschen. Mit unzähligen Beispielen aus dem Tierreich versucht sie vielmehr zu vermitteln, dass das Hormon in der Natur vorwiegend eine Aufgabe besitzt, nämlich männliche Vertreter einer Tierart in die Lage versetzen, sich im Fortpflanzungs-Wettbewerb zu behaupten und den eigenen Genen auf die Weise einen Vorteil zu verschaffen. Gleich zu Beginn ihres Werks schildert die Autorin hierzu eine Szene aus dem Leben von Schimpansen, die sie nachhaltig erschüttert hat. Sie sah während eines Forschungsaufenthalts in Uganda, wie ein kräftiges und besonders streitsüchtiges Männchen ein sehr viel kleineres Weibchen jäh attackierte und mit Fäusten, Stockhieben und Tritten blutig schlug.
Wie sich später zeigte, besaß der gewalttätige und von der Gruppe gefürchtete Schimpanse namens Imoso einen ungewöhnlich hohen Testosteronspiegel. Seine Brutalität gegenüber dem Weibchen hatte offenbar System. So gibt es laut der Autorin Hinweise, dass aggressive Männchen bei Schimpansenweibchen besonders gut ankommen und entsprechend viele Nachkommen zeugen. Einem größeren Publikum wurde Imoso daraufhin als „der Frauenschläger von Kibale“, so der Titel eines Beitrags im „Time Magazine“, bekannt. „Der vermenschlichende Titel hat mir Bauchschmerzen verursacht, aber die Ähnlichkeiten zwischen Imosos verstörendem Verhalten und häuslicher Gewalt unter Menschen waren nicht zu leugnen“, gibt die Entwicklungsbiologin offen zu.
Wer den Hauptakteur seiner Erzählung gleich zu Beginn in ein finsteres Licht rückt, muss erhebliche Überzeugungsarbeit leisten, um diesen anschließend zu rehabilitieren. Hooven, deren Unterricht mehrfach prämiert wurde, stellt sich dieser Aufgabe mit Verve. Didaktisch geübt, erklärt sie ihren Lesern zunächst die Methoden und Erkenntnisse relevanter wissenschaftlicher Studien. Ihr Ansinnen dabei ist es, interessierte Laien in die Lage zu versetzen, die Ergebnisse der Forschung zu verstehen und irreführende oder auch falsche Interpretationen als solche zu erkennen. Zugleich scheut sie sich nicht, Themen wie Homosexualität, Trans-Gender und Intersexualität aufzugreifen.
Gestützt auf Gespräche mit solchen Personen, schildert sie etwa, wie eine Testosteron-Therapie das Empfinden, die Sexualität und den Körper eines als Frau geborenen Trans-Mannes verändert. Zu Wort kommt unter anderem auch eine Studentin, die über ein für Männer charakteristisches Y-Chromosom verfügt, aber die Gestalt einer Frau hat und sich auch als solche fühlt. Ursächlich für die Diskrepanz zwischen dem genetischen Hintergrund und dem äußeren Erscheinungsbild der Betroffenen ist eine Unempfindlichkeit der Zellen auf Testosteron. Ihr Körper stellt das Hormon zwar her, kann dessen Signale jedoch nicht erkennen. Da die junge Frau gesund ist und sich wohl in ihrer Haut fühlt, weigert sie sich, von einer Störung zu sprechen. Nach der Lektüre von „T wie Testosteron“ dürften die meisten Leserinnen und Leser dieser Ansicht beipflichten.
Carole K. Hooven: „T wie Testosteron“. Alles über das Hormon, das uns beherrscht, trennt und verbindet. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Ullstein Verlag, Berlin 2022. 480 S., geb., 19,99 Euro.
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