Sonntag, 31. März 2019

Geschlechtslose Kindheit.

aus derStandard.at, 30. März 2019

Eltern: "Nicht nach den Genitalien unseres Kindes fragen" 
Manche Eltern versuchen es mit Unisex-Namen, andere gehen noch weiter: Sie verraten das Geschlecht ihres Kindes nicht. Klappt das in einer Welt voller Stereotype?

von Marietta Adenberger
 
Wenn Fremde in der U-Bahn wissen wollen, ob ihr sechs Monate altes Kind ein Bub oder ein Mädchen ist, dann antworten die Eltern: "Wir wissen es noch nicht." Die Reaktionen seien dann irritiert, zum Teil sogar aggressiv, erzählen sie. "Dabei hat niemand das Recht, nach den Genitalien unseres Kindes zu fragen." Das Paar aus Wien (sie möchten lieber anonym bleiben) hat sich entschlossen, sein Kind geschlechtsneutral zu erziehen. Auch der Name – Alex – ist bewusst so gewählt, dass er keinen eindeutigen Hinweis auf das Geschlecht gibt. "Wir wollen nicht, dass unser Kind aufgrund des Geschlechts in Schubladen gesteckt wird." Sie glauben, dass sie mit ihrem Prinzip, ihr Kind tunlichst frei von gängigen Rollenmustern aufwachsen zu lassen, noch eine Ausnahme darstellen. Auch statistisch wird nicht erhoben, wie viele Familien in Österreich ihre Kinder tatsächlich geschlechtsneutral erziehen.

Buben toben, Mädchen spielen brav. Solche Rollenmuster sind nach wie vor gang und gäbe. Dabei gibt es in der Realität so viel Spielraum dazwischen: Buben ziehen auch gern rosa Tutus an und Mädchen Fußballtrikots.

Tiefsitzende Klischees

Nach wie vor ist die Idee davon, was typisch Mädchen und was typisch Bub ist, tief in den Köpfen verankert – trotz aller Genderdebatten der vergangenen Jahrzehnte. Das belegen auch diverse Baby-X-Experimente, die seit den 1970er-Jahren immer wieder gemacht werden. Sie weisen nach, dass Erwachsene je nachdem, ob sie glauben, einen Bub oder ein Mädchen vor sich zu haben, beim Spielen unterschiedlich agieren. Für Aufsehen sorgte unlängst etwa der Trailer der BBC-Doku Girl toys versus boy toys, weil Erwachsene einem vermeintlichen Mädchen Puppen und Kuscheltiere zu spielen gaben und einem vermeintlichen Buben ein Auto.

Entlarvend ist auch ein Blick in Bekleidungsabteilungen und Spielzeuggeschäfte für Kinder: Rosa, Pink und Lila ist für Mädchen, Blau für Buben. Das alles wirkt sich auf die Lebensläufe und Chancen der Kinder aus. Laut Untersuchungen googeln Eltern von Buben mehr als doppelt so häufig "Ist mein Kind ein Genie?" als die Eltern von Mädchen. Und nach einer deutsch-amerikanischen Studie wünschen sich Eltern für ihre Töchter tendenziell Berufe im Gesundheits- und Bildungswesen, für die Söhne favorisieren sie IT-Jobs. Gegen diese Stereotype wollen sich immer mehr Eltern ganz bewusst stellen und geschlechtsneutral erziehen. Später sollen die Kinder selbst die Wahl haben, wer und wie sie sein wollen.

Das versuchen etwa die Schwedin Miranda Rudklint, ihr Partner Kim und ihr Kind Eli. Eli trägt gern rosa Kleidung, steht auf Dinos und tanzt gern. Ob ihr vierjähriges Kind ein Bub oder ein Mädchen ist, sagen die Eltern nicht. Wenn sie über ihr Kind sprechen, verwenden sie das geschlechtsneutrale schwedische "hen". "Allein aus dem Grund, dass Eli hauptsächlich Rosa trägt, vermuten die meisten automatisch, dass es sich um ein Mädchen handelt", sagte Miranda vor kurzem in der ARD-Sendung Weltspiegel. Ihr Kind solle aber in einer Welt ohne Rollenklischees aufwachsen, denn das Geschlecht sei nicht das, was wir haben, sondern das, was wir tun. Auch Miranda und Kim wurden öfter dafür angefeindet, wie sie leben.

Hochgradig geschlechtsspezifisch

Ein (vermeintlicher) Bub im rosa Kleid oder mit lackierten Fingernägeln kann in der Öffentlichkeit ungewollt für Aufsehen sorgen. Barbara Schober, Dekanin der Fakultät für Psychologie an der Uni Wien: "Wenn es ans Eingemachte geht, verhalten sich die Menschen oft wesentlich stereotyper, als ihnen lieb ist. Viele Eltern beteuern, dass es für Buben und Mädchen beim Spielzeug alle Optionen geben soll. Aber fragt man sie, was sie letztlich kaufen, ist es häufig hochgradig geschlechtsspezifisch."

Noch nicht in der Öffentlichkeit angeeckt ist Leonie, Mutter eines 14 Monate alten Sohnes, die sich in der Wiener Initiative Kigebe (Kinder gendersensibel ins Leben begleiten) engagiert. Sie hat ihrem Sohn zwar keinen Unisex-Namen gegeben, lebt ihm gemeinsam mit dem Vater aber ganz bewussst vor, dass beide gleichwertig für die Familie zuständig sind: "Unser Kind soll nicht in Klischees aufwachsen und seine Identität selbst aufbauen." Beide sind konsequent gleichwertige Ansprechpartner, egal, ob es ums Trösten oder Hausarbeit geht. Auch das ist nicht selbstverständlich, wie Zeitverwendungsstudien zeigen.

Für Sascha Verlan, Autor des Buches Die Rosa-Hellblau-Falle und Vater von drei Kindern, geht es nicht darum, das Geschlecht seiner Kinder aufzuheben, sondern sensibel und aufmerksam zu sein für die Einflüsse und Einordnungen, die Kinder erleben. Er findet die Bezeichnung geschlechtsneutral daher schwierig: "Kinder sollen das Gefühl haben, dass sie alles ausprobieren und machen können, weil sie sind, was sie sind, und nicht obwohl." Sie sollten Freiräume haben, damit sie machen und entdecken können, wofür sie sich wirklich interessieren und sich nicht von außen einreden lassen, irgendetwas sei nicht für sie oder untypisch.

Grenzen des Engagements

Weil Stereotype in der Gesellschaft so tief sitzen, sieht Psychologin Barbara Schober Grenzen in der geschlechtsneutralen Erziehung. Sie glaubt nicht, dass man im Alltag alle Geschlechterklischees lösen kann: "Es ist ein interessanter Versuch und soll positiv wirken, weil die Kinder früh in ihrer Rollenvielfalt gestärkt werden. Allerdings leben sie nicht in einem isolierten Universum. Es ist die Frage, wie lange sich diese Erziehung aufrechterhalten lässt, vor allem, wenn die Kinder älter werden. Ein Bub kann und sollte mit einem Blumenkleid auf die Straße gehen, wenn er das möchte, aber eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema braucht es schon." Zu bedenken sei außerdem, dass sich Kinder selbst einordnen: "Sie suchen auch nach Identifikation, und Geschlecht ist für sie eine sehr sichtbare und klare Kategorie in unserer Gesellschaft", so die Psychologin. Das sei grundsätzlich auch nicht problematisch, wenn Eltern auch andere Identifikationskategorien als männlich oder weiblich anbieten.

Wie wollen die Eltern von Alex damit umgehen, falls sich ihr Kind so eine einfache Kategorie aussucht oder später erfährt, dass Fremde auf das Aussehen reagieren? "Wir vertrauen darauf, dass Alex spätestens bis zum Schulalter die eigene Identität schon gefunden hat und damit umgehen können wird." Für die Zeit davor haben sie jedenfalls schon vorgesorgt – und ihr Kind in einem Kindergarten angemeldet, der auf ihre Erziehung Rücksicht nimmt. 


Nota I. - Das wollte ich eigentlich kommentieren. Doch jetzt an meiner Tastatur fällt mir nichts ein, was, so will ich doch hoffen, Ihnen nicht selber einfällt. Reiben Sie sich die Augen und sehn Sie nochmal hin: Das steht alles wirklich da, und 1. April ist erst morgen.

Nota II. - Ach, ganz kann ichs mir doch nicht verkneifen: Unlängst hatte ich Gelegenheit, auf diesen Seiten daran zu er- innern, dass in Wien zu seiner Zeit der Spötter Karl Kraus gewirkt hat. Heute erinnere ich daran, dass in Wien vor hun- dert Jahren der Sexualmediziner Siegmund Freud - über dessen Lehre und weltweite Wirkung man geteilter Meinung sein kann - mit der bürgerlichen Spießerei aufgeräumt hat, Kinder als geschlechtslose Wesen zu betrachten. - Dass ich einmal bedauern müsste, dass Freud in Vergessenheit geraten ist, hätte ich mir nicht träumen lassen.
JE


 

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