aus FAZ.NET,
Ein Kommentar von
Ursula Scheer
Nach elf Jahren als Phantombildexperte bei Scotland Yard, in denen er mit mehr als zweitau-send Zeuginnen und Zeugen zusammengearbeitet hat, besteht für Officer Tony Barnes kein Zweifel: Frauen sehen einfach mehr als Männer. Die Lippen schmal, das Kinn breit, die Augen eng beieinander? Eine Narbe hier, der Haaransatz dort, Doppelkinn? Aus solchen Informatio-nen baut Barnes bei der Metropolitan Police mit Hilfe eines Computers Gesichter, die denen von Gesuchten möglichst ähnlich sehen sollen. Feinheiten ergänzt er per Hand.
Fast immer, so Barnes nun in der Londoner „Times“, seien die Beschreibungen der Frauen denen von Männern weit überlegen – ganz gleich, welcher Altersgruppe, sozialen Klasse oder Bildungsschicht sie angehören. Was wie anekdotische Empirie passend zu den Ermittlungser-folgen von Miss Marple scheinen könnte, hat nach Barnes’ Einschätzung einen ernsten und bedrückend realen Hintergrund: Weil Frauen sich im öffentlichen Raum größeren Bedro-hungen ausgesetzt sähen als Männer, seien sie schon zum Selbstschutz darauf trainiert, Menschen in ihrer Umgebung genauer wahrzunehmen. Sie achteten dabei besonders auf Gesichter.
Dazu passen Untersuchungen mit Blick-Trackern, die nahelegen, dass Männer unbekannte Frauen spontan eher im Ganzkörpermodus abscannen und ansonsten in ihrer Selbstgewissheit wenig um sich schauen. Und es lässt daran denken, dass der legendäre Paläoanthroploge Louis Leaky für Feldforschung an Primaten in den sechziger Jahren drei Frauen – Dian Fossey, Jane Goodall, Biruté Galdikas – auswählte, weil er überzeugt war, dass sie evolutionär seit der Steinzeit aufs Kinderbetreuen getrimmt und akademisch unverbildet bessere Beobachter abgäben.
Gab der Erfolg der Forscherinnen seiner Theorie recht? Daran darf man zweifeln. Interessant bleibt trotzdem, was vor einigen Jahren Tamir Pardo, der damalige Chef des israelischen Geheimdiensts Mossad, „Forbes“ erzählte: Weibliche Agenten schlügen ihre männlichen Kollegen mit überragender Übersicht und Multitasking-Fähigkeit aus dem Feld. Wir wollen Männern an dieser Stelle keine Gefühle des Bedrohtseins wünschen, um bessere Beobachter zu werden, im Gegenteil. Aber ein Ausgleich des Machtgefälles bis zur Begegnung auf Augenhöhe – das wäre doch ein schöner Anblick.
Nota. - Evolutionsbiologischen Argumenten vertraue ich eigentlich eher als mikrobiologisch-genetischen, und sei's nur, weil ich mir mehr dabei vorstellen kann. In diesem Fall bin ich aber nicht überzeugt. Wäre das Ergebnis nämlich gewesen, dass Männer aufkerksamere Beobach-ter sind, so hätte es geheißen: Die haben zwei Millionen Jahre lang gejagt, da war genaue Beobachtuung Voraussetzung für den Erfolg. Beide Annahmen sind gleich plausibel, da müsste als spezifische Differenz ein Drittes hinzukommen.
Das Dritte ist in diesem Fall der Gesichtspunkt der langen Dauer. Auf Seiten des Jagens zwei Millionen Jahre. Auf Seiten der weiblichen Bedrohtheit, dass sie nur in Betracht kommt, seit Frauen sich allein in der Öffentlichkeit bewegen. Seit wann ist dass so generell üblich, dass es ein Selektionskriterium werden konnte? Da schlagen nicht einmal zweihundert Jahre zu Buch; das kann es also nicht sein.
Ein Witz wäre, wenn sich in diesem Fall doch ein mikrobiologischer Faktor als entscheidend erwiese.
Doch vielleicht muss man bloß beachten, dass hier ausschließlich von Gesichtern die Rede ist, und meist wohl von Männergesichtern, wenn ich nicht irre - nicht etwa von ganzen Situatio-nen. Dann wäre Ursula Scheerer dies eine Mal nicht besonders aufmerksam gewesen.
Oder sehn wirs mal andersrum: Nicht Frauen sind die besseren, sondern Männer sind die schlechteren Beobachter; bei Frauen achten sie sprichwörtlich nicht zuerst aufs Gesicht, und auf andere Mäner gleich gar nicht.
JE
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