aus derStandard.at, 4. Jänner 2021
Riesige Tierherden, die das Gras abweiden, sind weltweit ein vertrauter Anblick. In den meisten Fällen hat man es mit Antilopen, Büffeln oder anderen Paarhufern zu tun – im äthiopischen Hochland aber ist ein Affe in diese Rolle geschlüpft. Der bis zu 20 Kilogramm schwere Dschelada (Theropithecus gelada), ein mit einer beeindruckenden Mähne ausge-statteter Verwandter der Paviane, ist mit dieser Lebensweise eine einzigartige Erscheinung in der Welt der Primaten.
Tausend Dscheladas oder mehr können dort zusammenkommen, wo das Gras saftig ist. Blickt man auf ein solches Meer aus Affen, erkennt man erst bei eingehender Beobachtung, dass es sich um eine wohlgeordnete Gesellschaft handelt, die sich in immer kleinere Untergruppen gliedert. Keimzelle der Dschelada-Gesellschaft ist die Fortpflanzungsgruppe, die in der Regel aus mehreren miteinander verwandten Weibchen und einem bis maximal vier Männchen be-steht. Parallel dazu gibt es sogenannte Junggesellengruppen, die nur aus Männchen bestehen. Und beide Grundeinheiten können sich zu immer größeren Übergruppen zusammenschlie-ßen, bis am Ende eine Tausendschaft steht.
Die Anthropologin Jacinta Beehner von der Universität Michigan und ihr Team haben die "eingehende Beobachtung" wörtlich genommen und 14 Jahre lang die sozialen Prozesse in der Dschelada-Gesellschaft studiert. Dabei haben sie eine erstaunliche Entdeckung gemacht: So-bald das bisher dominante Männchen einer Fortpflanzungsgruppe von einem neu dazugesto-ßenen Junggesellen verdrängt wird, werden sämtliche Weibchen schlagartig paarungsbereit. Die bloße Anwesenheit eines Neulings beeinflusst offenbar ihren Hormonhaushalt.
Nicht zu übersehendes Zeichen der Paarungsbereitschaft ist ein sanduhrförmiger haarloser Fleck auf der Brust der Tiere (weshalb sie auch Blutbrustpaviane genannt werden). Bei den Weibchen ist er normalerweise viel unauffälliger als bei den Männchen – auch bei ihnen be-ginnt er aber zu "leuchten", wenn sie fortpflanzungsbereit sind. Dieses Merkmal ist aber nur die sichtbare Folge der eigentlichen hormonellen Veränderung, die kurz davor eingetreten ist. Beehner und ihre Kollegen sammelten den Kot der Weibchen ein, um den Östrogenspiegel der Tiere zu untersuchten. So konnten sie den unmittelbaren Zusammenhang des Östrogen-Anstiegs mit der Ankunft eines neuen Männchens belegen.
Zum einen veranlasste die hormonelle Veränderung heranwachsende Weibchen dazu, früher fruchtbar zu werden. Normalerweise werden Dscheladaweibchen mit viereinhalb Jahren ge-schlechtsreif, sagt Beehner – diese Schwelle kann durch das Auftreten eines Neuankömmlings aber deutlich gesenkt werden. Sogar Weibchen, die erst ein Jahr alt und damit definitiv noch nicht fortpflanzungsfähig waren, erlebten einen vorübergehenden Anstieg des Östrogenspie-gels; auch wenn der in ihrem Fall noch folgenlos blieb.
Noch verblüffender fanden die Forscher allerdings, dass sich reifere Weibchen, deren erster Fortpflanzungszyklus eigentlich schon längst überfällig gewesen wäre, plötzlich doch paarungsbereit zeigen. Daraus lässt sich nur der Schluss ziehen, dass diese Spätzün-derinnen ihre Fortpflanzungsbe-reitschaft zuvor hinausgezögert hatten. Der Hormonhaushalt lässt sich offenbar also in beide Rich-tungen steuern: Ein aussichts-reicher Neuankömmling führt zu einer Beschleunigung, die allzu lange Präsenz des alten Platzhirsches hingegen zu einer Verzögerung.
Letzteres soll laut Beehner vor allem verhindern, dass sich Töchter mit dem Vater paaren. Fremdgehen ist in der Dschelada-Gesellschaft zwar kein unbekanntes Phänomen (und es wurde beobachtet, dass sich die Tiere bei solchen verbotenen Paarungen wesentlich leiser verhalten als bei den erlaubten). Doch stammen die meisten jungen Weibchen einer Fort-pflanzungsgruppe vom dominanten Männchen ab – eine Paarung wäre also genetisch un-günstig.
Bei verschiedenen Neuweltaffen aus Südamerika hat man bereits festgestellt, dass die Anwe-senheit eines dominanten Weibchens in einer Gruppe die Fortpflanzungsbereitschaft sämtli-cher Geschlechtsgenossinnen unterdrückt. Das wäre eine weitere Ausformung desselben Grundphänomens: nämlich dass die soziale Umgebung den Prozess der sexuellen Reifung beeinflusst. Dass dies nun erstmals auch bei einem Altweltaffen festgestellt wurde (wenn auch in einer ganz anderen Variante), eröffnet die Möglichkeit, dass eine solche Veranlagung schon bei den gemeinsamen Urahnen beider Gruppen bestanden haben könnte. Und damit womög-lich auch der Urahnen von Menschenaffen und letztlich auch des Menschen. Beehner betont bei aller Vorsicht doch ausdrücklich die Möglichkeit, dass es einen solchen Beeinflussungspro-zess auch beim Menschen geben könnte.
Als nächstes will die Forscherin aber erst einmal beobachten, wie sich vorgezogene oder hin-ausgezögerte Fortpflanzungen mittel- bis langfristig auf die Dschelada-Population auswirken. Im nächsten Studiendurchgang will sie daher mit ihren Kollegen untersuchen, wie sich das Leben dieser Weibchen in reifen Jahren gestaltet und wie es mit ihrem Nachwuchs aussieht. Und das kann dauern. Beehner abschließend: "Wir werden uns in weiteren 14 Jahren wieder melden." (jdo.)
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