aus spektrum.de, 29. 3. 2021
Die übersehenen Narzisstinnen
Männer gelten als narzisstischer als Frauen. Doch eine bestimmte pathologische Form wird bei Frauen oft nicht erkannt.
von Corinna Hartmann
Elizabeth
Holmes hatte es geschafft: Mit Anfang 30 war sie die weltweit jüngste
Selfmade-Milliardärin. Sie zierte die Cover der bedeutendsten
Wirtschaftsblätter, und das »Time Magazine« kürte sie zu einer der
100 einflussreichsten Personen der Gegenwart. Die Welt hatte lange auf
so eine Vorzeigeunternehmerin und Powerfrau gewartet; auf eine, die auf
Augenhöhe war mit Microsoft-Gründer Bill Gates, Tesla-CEO Elon Musk und
dem 2011 verstorbenen Apple-Chef Steve Jobs. Letzterer war Holmes'
großes Vorbild. Nicht nur beruflich, auch modisch eiferte sie ihm nach
und trug meist einen schwarzen Rollkragenpullover.
Ihre
Idee versprach so revolutionär zu sein wie das iPhone: Ein neues
Analysesystem soll schon mit wenigen Tropfen Blut zahlreiche Labortests
durchführen, Viren, Antikörper und Krebsmarker nachweisen und innerhalb
weniger Minuten nach mehr als 100 Krankheiten fahnden. Um diesen Plan
umzusetzen, brach Holmes ihr Studium des Chemieingenieurwesens an der
Stanford University ab und gründete das Start-up Theranos. Mit ihrem
selbstbewussten Auftreten, ihren großen blauen Augen und ihrem Charisma
zog sie Menschen in ihren Bann und gewann zahlreiche wohlhabende
Unterstützer. Medienmogul Rupert Murdoch, US-Bildungsministerin Betsy
DeVos, der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger und viele andere
investierten Millionen in ihre Firma.
Dieser Artikel ist enthalten in Spektrum Kompakt, Narzissmus – Schwierige Persönlichkeiten
Der Haken: Das von Theranos angepriesene Blutanalysesystem,
das die medizinische Diagnostik revolutionieren sollte, hat nie
funktioniert. Patienten hatten reihenweise falsche Testergebnisse
erhalten. Holmes steht im Verdacht, die Öffentlichkeit jahrelang
getäuscht und das unbrauchbare Gerät wissentlich in Umlauf gebracht zu
haben. Als Mitarbeiter von Theranos sich 2015 an die Presse wandten,
platzte die Blase. Es war alles eine große Show. Holmes, so wirkt es,
wollte um jeden Preis als Wunderkind gefeiert werden. Dabei schien sie
nicht zu stören, dass dadurch Menschen zu Schaden kamen. Macht und
Erfolg wurden womöglich zum Selbstzweck. Viele Experten vermuten hinter
ihrem selbstdarstellerischen und manipulativen Verhalten einen Hang zum
Narzissmus. Dass der Fall Holmes großes Aufsehen erregte, lag aber nicht
nur an der Dreistigkeit des ihr zu Last gelegten Betrugs, sondern auch
am Geschlecht der Verdächtigen.
Großartig und verletzlich
Narzissmus
ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das in der Bevölkerung normal verteilt
ist und sowohl positive als auch negative Seiten hat. Von einer
narzisstischen Persönlichkeitsstörung spricht man erst, wenn eine hohe
Ausprägung zu Leid und Problemen führt.
Männer erhalten die Diagnose häufiger als Frauen. Das kann an unterschiedlichen Charaktermerkmalen und Geschlechterklischees liegen sowie daran, dass Frauen eher zu einer Form des pathologischen Narzissmus neigen, die leicht übersehen wird.
Bei
diesem so genannten vulnerablen Narzissmus halten sich Betroffene zwar
ebenfalls insgeheim für etwas ganz Besonderes und haben hohe Ansprüche,
neigen aber zu einem niedrigeren Selbstwertgefühl und vermeiden
Bewertungssituationen.
Auch wenn Sigmund Freud Frauen noch für das eitlere
Geschlecht hielt – heute gilt der Narzissmus als typisch männliche
Charaktereigenschaft. Prominente, denen man einen Hang dazu nachsagt,
sind der US-Präsident Donald Trump, der Rapper Kanye West oder der
Fußballer Cristiano Ronaldo. Doch längst nicht jeder, der großspurig
auftritt, ist deswegen gleich krank. In der Persönlichkeitspsychologie
versteht man unter Narzissmus ein Merkmal, das wie Körpergröße oder
Intelligenz in der Bevölkerung normalverteilt ist. Die meisten bewegen
sich im Mittelfeld, sehr hohe und sehr niedrige Ausprägungen kommen
selten vor. Einer der meistverwendeten Narzissmus-Fragebogen erfasst drei Hauptkennzeichen:
Autoritätsanspruch und Führungsdenken (zum Beispiel »Ich bin der
geborene Anführer«), Hang zur Selbstdarstellung (»Ich stehe gerne im
Mittelpunkt«) sowie ausbeuterisches Verhalten (»Es fällt mir leicht,
andere zu manipulieren«).
Ein gewisses Maß dieser
Persönlichkeitseigenschaft ist sogar hilfreich. Wer viel von sich hält,
tritt oft charmant auf, kommt bei anderen gut an und hat Erfolg im
Beruf. Erst wenn die Ausprägung so extrem wird, dass sie bei Betroffenen
oder ihrem Umfeld erhebliches Leid verursacht, spricht man von einer
narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Der Anteil der Männer, die eine solche Diagnose erhalten, liegt Untersuchungen zufolge in der Tat höher als bei Frauen.Das könnte Sie auch interessieren: Spektrum Psychologie: Ist mein Partner ein Narzisst?
Schwankendes Selbstwertgefühl
Entgegen der
landläufigen Meinung fühlen sich pathologische Narzissten nicht einfach
besonders wertvoll. Stattdessen schwankt ihr Selbstwertgefühl je nach
Situation stark und hängt mehr als üblich von der Anerkennung durch
andere ab. Häufig begeben sich Betroffene erst in Behandlung, wenn sie
in eine schwere Krise geraten und das sorgfältig aufgebaute Kartenhaus
zusammenbricht, etwa nach Misserfolgen, einer Trennung oder einer
Kündigung. Die psychischen Folgen gehen mitunter bis hin zu
Suizidgedanken.<
Obwohl
das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen DSM-5
die narzisstische Persönlichkeitsstörung als einheitliches Syndrom
beschreibt, sprechen neuere Forschungsbefunde dafür, dass verschiedene Subtypen der Persönlichkeitsstörung existieren.
Neben dem grandiosen Narzissmus, welcher der Diagnose im DSM-5 sehr
nahekommt, gibt es nämlich einen so genannten vulnerablen Narzissmus.
Elizabeth Holmes | Die Gründerin des Bluttest-Start-ups
Theranos im Gerichtssaal des kalifornischen San José. Sie ist wegen
Betrugs angeklagt.
Vulnerable Narzissten sind allerdings nicht so leicht als solche zu erkennen. Sie sehen sich zwar insgeheim auch als etwas ganz Besonderes und haben eine hohe Anspruchshaltung, trauen sich jedoch oft nicht, das Lob einzufordern, nach dem sie dürsten. Stattdessen haben sie große Angst vor dem Feedback anderer und schämen sich sehr, wenn sie Kritik erhalten. Arroganz, Überheblichkeit und dominantes Verhalten kommen kaum vor. »Betroffene wirken eher ängstlich und depressiv. Anders als beim grandiosen Narzissmus gehen vulnerable Narzissten ihre Mitmenschen nicht offen aggressiv an und werten sie nicht ab«, sagt Claas-Hinrich Lammers, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Asklepios Klinik Nord in Ochsenzoll. »Sie haben auch Größenfantasien. Aber sie trauen sich aus Angst vor Ablehnung nicht, diese nach außen zu tragen.«
Während grandiose Narzissten eine hohe Selbstwirksamkeit haben und daher überzeugt sind, die eigenen Ziele problemlos erreichen zu können, zweifeln Narzissten vom vulnerablen Typ an ihrer Handlungsmacht. Dadurch sind sie häufig sozial gehemmt und vermeiden Situationen, in denen sie bewertet werden. Das sei ein wesentlicher Unterschied, meint Lammers. »Beim grandiosen und vulnerablen Narzissmus handelt es sich nicht etwa um zwei Seiten einer Medaille. Vielmehr sind es zwei eigenständige Typen des Narzissmus mit sehr unterschiedlichen Persönlichkeitsprofilen.« Demnach weisen grandiose Narzissten bei den Big Five – den fünf gängigsten Persönlichkeitseigenschaften, die den Charakter eines Menschen beschreiben – eine geringe soziale Verträglichkeit bei hoher Extraversion auf. In anderen Worten: Sie sind kontaktfreudig, aber rücksichtslos, was eine ausgesprochen explosive Mischung ergibt. Vulnerable Narzissten vertragen sich ebenfalls nicht gut mit anderen, sind jedoch eher introvertiert, neurotisch – also emotional labil –, haben ein niedrigeres Selbstwertgefühl und eine geringere Lebenszufriedenheit. Sie treten nach außen hin weniger prahlerisch und feindselig auf und werden daher seltener als Narzissten erkannt. Es gibt allerdings gute Gründe, diese weniger offensichtliche Form auch als Narzissmus zu bezeichnen: »Gemeinsam haben beide Typen neben der sozialen Unverträglichkeit ihre Größenfantasien, die Selbstbezogenheit und die hohe Anspruchshaltung«, sagt Lammers.
»Sowohl ein niedriger Selbstwert als auch überhöhte Vorstellungen von der eigenen Person sind mit Problemen im zwischenmenschlichen Bereich verbunden«
(Astrid Schütz, Persönlichkeitspsychologin)
Frauen,
so zeigt die Forschung, neigen eher zu diesem vulnerablen Narzissmus.
»Sowohl ein niedriger Selbstwert als auch überhöhte Vorstellungen von
der eigenen Person sind mit Problemen im zwischenmenschlichen Bereich
verbunden«, weiß die Persönlichkeitspsychologin Astrid Schütz von der
Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Obgleich die Unterschiede insgesamt
sehr gering sind, hätten Frauen öfter einen geringen Selbstwert, der
zudem öfter von äußeren Einflüssen abhänge. »Das heißt, sie sind
häufiger mal auf ein Schulterklopfen angewiesen, um sich wohlzufühlen«,
ergänzt Katharina Geukes, die sich an der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster mit Fragen der Persönlichkeit beschäftigt.
Forscher um die Psychologin Emily Grijalva, damals an der University of
Buffalo, analysierten 2015 mehr als 300 Studien zu Narzissmus bei Männern und Frauen.
Das Resultat: Männer erreichen insgesamt höhere Narzissmus-Werte. Sie
neigen vor allem stärker zu ausbeuterischem Verhalten, zu
Autoritätsanspruch und Führungsdenken. Im Hang zur Selbstdarstellung
haben sie einen weniger großen Vorsprung, im vulnerablen Narzissmus
ziehen Frauen gleich.
Egoismus, Machtstreben und Angeberei
»Diese
Durchschnittswerte bedeuten natürlich nicht, dass jeder Mann
narzisstischer ist als jede Frau. Es gibt sehr wohl narzisstische
Frauen. Die Unternehmerin Elizabeth Holmes etwa war sehr charismatisch,
beutete Investoren und Mitarbeiter aber gleichzeitig schamlos aus, was
typisch für Narzissten ist«, sagt Emily Grijalva zu den Ergebnissen.
»Die Gesellschaft akzeptiert Egoismus, Machtstreben und Angeberei bei
Männern eher, da diese Eigenschaften im Widerspruch zum Bild der Frau
stehen, die als bescheiden und fürsorglich gilt.« Katharina Geukes hält
den Vorsprung von Männern im Narzissmus ebenfalls für überschätzt: »Der
Geschlechterunterschied ist relativ stabil über die Lebensspanne, aber
nicht so groß, wie man meinen könnte. Anders als das Stereotyp vom
narzisstischen Mann vermuten lässt, sind die Unterschiede eher gering.«
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Eine bedeutende Studie auf dem Gebiet
veröffentlichten die Persönlichkeitsforscher Paul Costa, Robert McCrae
und Antonio Terracciano 2001. Sie nutzten Persönlichkeitsprofile von
23 000 Männern und Frauen aus 26 verschiedenen Ländern (darunter Indien,
Deutschland, die USA, Peru, Südafrika und Russland), die
Wissenschaftler mit einem gängigen Fragebogen erhoben hatten. Dabei
entdeckten sie einen kleinen, statistisch bedeutsamen
Geschlechterunterschied in den typischen Charaktereigenschaften: Frauen
waren im Schnitt zugewandter, freundlicher, jedoch auch ängstlicher und
sensibler für eigene Gefühle als Männer. Die hingegen schätzten sich
durchweg als durchsetzungsfähiger und offener für neue Ideen ein. Die
weiblichen Teilnehmer hatten demnach in den Persönlichkeitsfacetten
Verträglichkeit, Introversion und Neurotizismus, also emotionale
Labilität, die Nase vorn. Die männlichen waren weniger verträglich,
weniger neurotisch und extravertierter. Das Ergebnis entspricht
weitgehend gängigen Geschlechterklischees, beruht allerdings
ausschließlich auf Selbsteinschätzungen der Probanden. Jedoch
untermauern andere Studien diesen Befund. Psychologen um Jeffrey Gagne
von der University of Texas in Arlington erfassten 2013 das Temperament von 714 Dreijährigen.
Eltern und Versuchsleiter, die das Verhalten der Kinder analysierten,
schätzten Jungen im Schnitt als aktiver ein, während sie Mädchen als
schüchterner, aber kontrollierter und konzentrierter bewerteten. Bei
gegengeschlechtlichen Zwillingen, die unter nahezu identischen
Bedingungen aufwuchsen, zeigte sich der gleiche Effekt. Das deutet
darauf hin, dass sich Männer und Frauen schon sehr früh im Charakter
unterscheiden – oder dass das zumindest so wahrgenommen wird, was ebenso
an kulturellen Rollenerwartungen liegen könnte.
»Bei der narzisstischen Persönlichkeit kann man davon ausgehen, dass sie bis zu 50 Prozent erblich bedingt ist« Claas-Hinrich Lammers, Psychiater
Dass Frauen seltener den typischen grandiosen, sondern eher einen vulnerablen Narzissmus an den Tag legen, hat daher wahrscheinlich mit ihrem generellen Hang zu Introvertiertheit und Neurotizismus zu tun. »Vulnerabler Narzissmus und Neurotizismus überlappen stark. Wer neurotisch ist, macht sich über alles Mögliche Sorgen. Beim vulnerablen Narzissmus beziehen sich die Sorgen vor allem auf die Wahrung des positiven Selbstbilds – das heißt auch darauf, wie man bei anderen ankommt. Was in dem Fall allerdings Henne und was Ei ist oder ob vulnerabler Narzissmus und Neurotizismus einen gemeinsam Ursprung haben, ist noch schwer zu sagen«, erklärt Katharina Geukes. Doch möglicherweise legt das angeborene Temperament den Grundstein dafür, welche Art von Störung man später entwickelt. »Der genetische Anteil an der Entstehung von Persönlichkeitsstörungen wird gemeinhin unterschätzt. Bei der narzisstischen Persönlichkeit kann man davon ausgehen, dass sie bis zu 50 Prozent erblich bedingt ist«, erklärt Claas-Hinrich Lammers. Darüber hinaus gibt es erste Hinweise, wonach unterschiedliche Faktoren in der Kindheit die Entwicklung der beiden Formen begünstigen. Während übertriebene Verwöhnung und Bewunderung des Kindes durch die Eltern offenbar grandiose Persönlichkeitszüge fördert, könnte ein inkonsistenter Erziehungsstil zu einem schwankenden Selbstwertgefühl führen und beim vulnerablen Narzissmus eine Rolle spielen. Methodisch stehen solche Befunde zum Einfluss früher Erfahrungen auf die Entstehung von Störungen allerdings auf wackeligen Beinen, denn Forscher müssen sich in der Regel auf Erzählungen der Patienten verlassen.
Wahrscheinlich gibt es noch einen anderen Grund, weshalb Frauen seltener die Diagnose narzisstische Persönlichkeitsstörung erhalten. »Es gibt einen klaren Geschlechter-Bias in der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen«, gibt Lammers zu bedenken. Anders gesagt: Psychologen und Psychiater sind auch nur Menschen und lassen sich von gängigen Klischees beeinflussen. Legt man Fachleuten denselben Fallbericht vor und nennt den Patienten einmal Anna und einmal Paul, erhält Paul öfter die Diagnose einer narzisstischen, Anna die einer histrionischen Persönlichkeitsstörung. Der Begriff stammt vom »Histrionen«, dem Schauspieler im antiken Rom. Betroffene zieht es entsprechend auf die Bühne. Sie lieben es, im Mittelpunkt zu stehen, geben sich dramatisch und kapriziös, sind selbstbezogen und schnell gekränkt. »Hinter dem klassischen Macho steckt, wenn man es genau nimmt, oftmals eher ein Histrioniker als ein Narzisst«, bemerkt Lammers. Mit der narzisstischen Persönlichkeit hat die histrionische das gesteigerte Bedürfnis nach Anerkennung gemein.
Geschlechterklischees bei der Diagnose
An der Ähnlichkeit dieser beiden Krankheitsbilder sieht man, wie schwierig eine trennscharfe Zuordnung zu einer bestimmten Persönlichkeitsstörung ist. Daher kann es leicht passieren, dass Behandler sich bei der Diagnosefindung vom Geschlecht des Patienten leiten lassen: Der typische Narzisst ist ein Mann, die Histrionikerin und Borderlinerin ist eine Frau. Letztere Persönlichkeitsstörung äußert sich typischerweise in starken Schwankungen im Sozialverhalten, in der Stimmung und Selbstwahrnehmung, die sowohl für die Person selbst als auch für ihre soziale Umgebung belastend sind. Borderline galt lange Zeit als weibliches Phänomen. »In der Tat erhalten mehr Frauen die Diagnose – allerdings zeigen neuere Studien, dass Borderline bei Männern in annähernd gleichem Maß auftritt. Dass betroffene Männer sich seltener in Behandlung begeben, hängt wahrscheinlich mit geschlechtstypischen Rollenerwartungen zusammen«, sagt Astrid Schütz.
Ein Team von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster um Michael Grosz und Mitja Back hat noch eine weitere Eigenart des weiblichen Narzissmus entdeckt. Es entwickelte einen Fragebogen, der verschiedene Facetten der Eigenschaft besonders genau misst und unter anderem erhebt, in welchen Lebensbereichen sie zum Tragen kommen. Frühere Studien hatten gezeigt, dass sich zwei Aspekte unterscheiden lassen: die Selbstaufwertung und die Abwertung anderer. Die Münsteraner Verhaltenswissenschaftler erhoben diese beiden für Intelligenz (»Ich bin ein Genie« versus »Die meisten Leute sind dumm«), Attraktivität (»Ich bin sehr gut aussehend« versus »Die meisten Leute sind nicht sehr attraktiv«), soziale Dominanz (»Ich bin sehr durchsetzungsstark« versus »Die meisten Leute sind Schwächlinge«), soziales Engagement (»Ich bin außerordentlich hilfsbereit« versus »Die meisten Leute sind rücksichtslose Egoisten«) und eine neutrale Kategorie (»Ich bin großartig« versus »Die meisten Leute sind Verlierer«).
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In einer bisher unveröffentlichten Erhebung an 1682 Menschen zeigten Männer eine stärkere narzisstische Tendenz, andere abzuwerten, als Frauen sowie in fast allen Bereichen ausgeprägtere narzisstische Selbstaufwertungstendenzen. Die Ausnahme: Männer und Frauen hielten sich gleich häufig für außerordentlich attraktiv. »Schönheit ist wahrscheinlich eine Domäne, die Männern im Vergleich nicht so wichtig ist. Frauen sind zumindest in westlichen Kulturen stärker darauf geprägt, gut aussehen zu müssen«, sagt Grosz. Beim sozialen Engagement, in dem Elizabeth Holmes offenbar brillieren wollte, war der Geschlechterunterschied ebenfalls geringer als in den anderen Bereichen, was zu den gängigen Erwartungen der Gesellschaft an Frauen passt. Männer sahen sich dennoch als die größeren Wohltäter an.
Die heute 37-jährige Holmes hat sich bis jetzt nie entschuldigt und streitet alle Vorwürfe gegen sie ab. Ob sie sich ihre Schuld selbst eingesteht, bleibt ein Rätsel. Der Prozess gegen sie musste bereits mehrere Male verschoben werden. Erst auf Grund der Covid-19-Pandemie, dann weil sie im Juli 2021 Mutter wurde. Ab Ende August 2021 soll sie sich vor Gericht verantworten. Ihre Anwälte planen laut Medienberichten, zur Verteidigung Beweise für ein psychisches Problem ihrer Klientin vorzulegen. Bei einer Verurteilung drohen ihr bis zu 20 Jahre Haft.
Was versteht man unter Persönlichkeitsstörungen?
Der Begriff bezeichnet ein überdauerndes Muster des Erlebens und Verhaltens, das deutlich von den Erwartungen des Umfelds abweicht. Betroffen sind das Denken (also die Art, wie man sich selbst, andere und Ereignisse wahrnimmt und deutet), das Fühlen, die Impulskontrolle sowie Beziehungen zu anderen. Für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung muss sich das Muster bereits in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter herausgebildet haben, in verschiedenen Situationen zum Tragen kommen und zu Leid oder Beeinträchtigungen im Beruf und Privatleben führen.
Das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen DSM-5 von der American Psychiatric Association unterscheidet zehn verschiedene Persönlichkeitsstörungen, die sich inhaltlich drei Kategorien zuordnen lassen:
Cluster A (sonderbar, exzentrisch, schizophrenienah)
Cluster B (dramatisch, emotional, impulsiv)
Cluster C (ängstlich, vermeidend, unsicher)
Dass die bisherigen diagnostischen Schubladen häufig nicht richtig passen, zeigt die Forschung der letzten Jahre: Den einzelnen Persönlichkeitsstörungen mangelt es an Trennschärfe. Nicht immer kommen verschiedene Diagnostiker zum selben Ergebnis, denn im klinischen Alltag ist eine eindeutige Zuschreibung oft unmöglich. Ein Patient oder eine Patientin hat möglicherweise narzisstische, histrionische und antisoziale Anteile oder neigt zu schizoiden, paranoiden und zwanghaften Zügen. Die neue Version der von der WHO herausgegebenen Internationalen Klassifikation der Krankheiten – die ICD-11 –, die voraussichtlich 2022 in Kraft treten wird und auch in Deutschland gilt, zieht daraus Konsequenzen. Die kategoriale Einteilung der Persönlichkeitsstörung weicht einer weitgehend dimensionalen Erfassung. Anhand der Faktoren negative Affektivität, Distanziertheit, Dissozialität, Enthemmung und Zwanghaftigkeit können Ärzte und Psychologen nun individuellere Profile einer Persönlichkeitsstörung zeichnen und diese als leicht, mittel oder schwer einstufen. Unangetastet bleibt die Borderline-Persönlichkeitsstörung, die laut aktuellem Forschungsstand eine sinnvolle Kategorie darstellt.
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