Samstag, 30. Oktober 2021

Testosteron für jeder*mann**.


aus derStandard.at, 12. 10. 2021

Wie Testosteron das Sexleben von Frauen und Männern beeinflusst
Eine aktuelle Studie zeigt, dass das Hormon wohl für mehr Selbstbefriedigung sorgt – und bei Frauen für Offenheit in Sachen gleichgeschlechtlicher Sex

Kann man am Hormongehalt ablesen, wie viele Sexualpartner eine Person hat und wie oft sie sich selbst befriedigt? Ganz so einfach ist es natürlich nicht – eine britische Forschungsgruppe hat diese Woche aber einen weiteren Beitrag für die Diskussion darüber geliefert. Sie wollte herausfinden, welche Rolle der Testosteronspiegel bei Männern für Partnerschaften und Sexualverhalten spielt – und auch bei Frauen.

Denn um sie geht es in Zusammenhang mit dem Hormon Testosteron relativ selten. Der Wirkstoff wird meistens als männliches Sexualhormon bezeichnet; sogar das Öffentliche Gesundheitsportal Österreichs, das als Herausgeber das Gesundheitsministerium führt, geht auf Testosteron nur im Kontext männlicher Sexualorgane und Hormone ein. Zwar ist es richtig, dass Testosteron bei Männern üblicherweise in höherer Konzentration vorliegt – bei ihnen fällt ein entsprechender Mangel auch häufiger auf. Prinzipiell wird das Hormon aber in allen menschlichen Körpern produziert, sofern die entsprechenden Drüsen keine Probleme bei der Herstellung haben.

Wirkung im ganzen Körper

Diese Hormondrüsen sind die sogenannten Leydig-Zwischenzellen in den Hoden, die Nebennierenrinde und die Eierstöcke: Hier wird Testosteron aus Cholesterin gebaut. Es wandert über das Blut an Zielzellen, die im ganzen Körper sitzen. So beeinflusst es nicht nur das Reifen von Spermien und vor allem in der Pubertät die Entwicklung der Geschlechtsorgane, sondern auch beispielsweise Körperbehaarung, Muskeln, Fettverteilung und das Gehirn.

 

 

Hier prägt der Wirkstoff auch unser Verhalten, wie diverse Forschungsarbeiten nahelegen. Prominent ist der Effekt, den Testosteron auf die Libido hat: Erhöhte Testosteronwerte gehen bei Männern öfter mit einem höheren Bedürfnis nach Sex einher, wobei die Beweislage in einigen Studien nicht eindeutig ist und der genaue Mechanismus unklar.

Hormon im Speicheltest

Das britische Forschungsteam, das sich nun mit Testosteron auseinandersetzte, macht auch darauf aufmerksam, dass Frauen und Testosteron bisher noch wenig untersucht wurden. Generell lag der Fokus bei Sexualhormonstudien – was weibliche Sexualität angeht – in der Vergangenheit eher auf der Fortpflanzung. Und im Hinblick auf Männer wurde zumeist untersucht, wie leistungsfähig sie sexuell sind, also wie gut und häufig sie eine Erektion bekommen können.

In der aktuellen Studie, die im Fachblatt "Journal of Sex Research" veröffentlicht wurde, musste sich die Forschungsgruppe auf eine gewisse Offenheit ihrer Probanden verlassen: Sie sammelte die Angaben, die 1.599 Männer und 2.123 Frauen zwischen 18 und 74 Jahren im Rahmen einer nationalen Umfrage vor rund zehn Jahren über ihr Sexleben machten. Diese verglich sie mit dem jeweiligen Testosteronspiegel der Personen, den sie über Speichelproben erfasste.

Keine besseren Erektionen

Gefragt wurde unter anderem nach Sexualpraktiken, Anzahl und Geschlecht der Sexualpartner in verschiedenen Zeiträumen sowie nach verschiedenen Problemen in Sachen Sexualfunktion. Das alles klärt freilich noch immer nicht über den Wirkmechanismus des Hormons auf. Die Studie liefert aber einige Ergebnisse, die bisherige Erkenntnisse unterstützen und ein facettenreiches Bild über den möglichen Einfluss von Testosteron malen.

Bei den Männern in der Stichprobe gehen höhere Testosteronwerte durchschnittlich sowohl mit mehr Masturbation als auch mit mehr Sexualpartnerinnen einher, stellte die Analyse fest. Sie hatten in den vorangegangenen fünf Jahren eher mit mehr als einer Person gleichzeitig eine sexuelle Beziehung. Und sie gaben eher an, kürzlich heterosexuellen Sex gehabt zu haben (in der Studie wurde der Zusammenhang explizit in Bezug auf vaginalen Geschlechtsverkehr festgestellt). Dafür konnten hier – im Gegensatz zu anderen Studien – keine Hinweise darauf gefunden werden, dass mehr Testosteron für eine "bessere Sexualfunktion", also verlässlichere Erektionen, sorgt.

Gemäßigter Hormoneinfluss

Bei Frauen sieht die Lage etwas anders aus. Auch hier besteht eine Korrelation zwischen höheren Testosteronleveln und Masturbation (die dann häufiger und auch in jüngerer Vergangenheit dokumentiert wurde). Bei Sex mit einem Partner gab es allerdings keinen solchen Zusammenhang. Die Ausnahme: Frauen mit höheren Testosteronwerten gaben häufiger an, bereits mit anderen Frauen Sex gehabt zu haben.

Ihre deutliche Unterscheidung zwischen Selbstbefriedigung und heterosexuellem Sex mit Partnern kann dem Forschungsteam zufolge damit zusammenhängen, dass viele Frauen diesen Praktiken verschiedene Bedeutungen beimessen und jeweils mit unterschiedlichen Motivationen an sie herangehen. Darauf weist auch Erstautorin Wendy Macdowall von der London School of Hygiene and Tropical Medicine hin. Die Ergebnisse passen zu der Annahme, dass bei Frauen hormonelle Einflüsse auf ihr Verhalten stärker von sozialen Einflüssen abgemildert werden. (sic)

Studie

The Journal of Sex Research: "Salivary Testosterone and Sexual Function and Behavior in Men and Women: Findings from the Third British National Survey of Sexual Attitudes and Lifestyles (Natsal-3)" (Open Source)

 

aus scinexx.de, 11. 10. 2021

Testosteron = Erfolg? 
Diese Formel scheint so nicht aufzugehen
Es ist das Synonym für echte Männlichkeit. Nein, nicht der Bart, auch nicht die breiten Schultern oder das schnelle Auto. Gemeint ist das Hormon Testosteron, welches bei Männern eine nicht ganz unbedeutende Wirkung hat. So sorgt es in der Jugend für die körperlichen Veränderungen, hilft dem Muskelwachstum deutlich auf die Sprünge und die Männlichkeit im Schlafzimmer zeugt auch von Testosteron – und durch das Hormon. Ein guter Testosteronwert wird gerne mit Erfolg im Leben gleichgesetzt. Aber bestimmt das Hormon wirklich den Erfolg und erzielen Männer so bessere sozioökonomische Werte? Dieser Artikel schaut sich das einmal an.
 
Was soll Testosteron bewirken?

Das Hormon ist ein wichtiger Bestandteil des männlichen Körpers. Es kommt übrigens auch bei Frauen vor, doch dort in weitaus geringeren Mengen. Es dient beim Mann aus körperlicher Sicht wie folgt:

  • Haut/Haare – Körperbehaarung, Bartwuchs, die Durchfettung der Haut, all diese Attribute werden vom Testosteron gesteuert. Wirklich auffällig ist dies in der Pubertät, wenn sich der Körper ändert.
  • Muskulatur – das Muskelwachstum und auch die Kraft der einzelnen Muskelstränge wird durch Testosteron gesteuert.
  • Gehirn – das Hormon hat einen massiven Einfluss auf Stimmung, Psyche und natürlich die Libido.
  • Verhalten – viel Testosteron wird auch häufig mit einer erhöhten Risikobereitschaft gleichgesetzt. Hier spielen die chemischen Prozesse im Hirn mit hinein. Es scheint so, als würde ein hoher Testosteronspiegel automatisch die Zurückhaltung herabsetzen. Risikobereite Menschen wagen häufiger neue Schritte, sind Risikosportarten zugeneigt und finden sich auch gerne in Casinos ein. Dies gilt auch für Online-Casinos, in denen inzwischen sogar legal Blackjack gespielt werden kann wie hier zu lesen

Auch auf die Knochen, die Stimme und die inneren Organe wirkt das Hormon ein. Diese Funktionen haben natürlich nur einen indirekten Einfluss auf erhöhte Erfolgschancen durch Testosteron. Körperbau, Muskeln, Haare und die Statur hingegen tragen automatisch dazu bei. Es handelt sich zwar nur um subtile und eher unbewusste Merkmale, doch wirkt ein muskulöser, kräftiger, ›männlicher‹ Mann auf viele Menschen respekteinflößender und erfolgreicher, als ein Mann, der eher klein gewachsen und schlank ist.

Art des Zusammenhangs nicht klar

Aber hängt Erfolg von Testosteron ab oder beeinflusst Testosteron den Erfolg? Selbst Studien sind sich diesbezüglich nicht absolut einig, Fakt ist, dass die Wissenschaft viele Jahre davon überzeugt war, dass ein hoher Testosteronspiegel eine bessere Gesundheit und höhere Einkommen bedeutet. Mittlerweile wendet sich das Blatt, denn es wurde herausgefunden, dass es eigentlich der Erfolg ist, der den Testosteronspiegel ansteigen lässt:

  • Ausgangslage – Studien mit Männern ergaben, dass mit dem Testosteronspiegel auch die Risikofreude steigt. In den Testreihen waren Männer mit hohem Spiegel oft selbstständig im eigenen Betrieb oder arbeiteten in Führungspositionen. Das Bildungsniveau war höher, das Gehalt ebenfalls, gleichfalls galten die Männer als risikofreudig und durchsetzungsfähig.
  • Die Forschung – in einer genetischen Studie wurde genau erforscht, ob nun zuerst Testosteron und dann der Erfolg kommt – oder genau andersherum. Die Frage war, ob sozioökonomische Faktoren den Testosteronspiegel positiv oder negativ beeinflussen. Da in den Genen verankert ist, ob überhaupt eine Veranlagung für einen hohen Spiegel besteht, konnte diese Studie bereits mit jungen Männern durchgeführt werden. Zugleich wurde die Studie mit Frauen durchgeführt.
  • Ergebnis – Testosteron ist für den Erfolg eher unwichtig. Zwar konnten, je nach Leseart der Ergebnisse, frühere Studien bekräftigt werden, doch passten die Ergebnisse der Frauen nicht dazu. Probandinnen mit einem hohen Testosteronwert waren oft wenig erfolgreich. Die genetischen Daten hingegen brachten kaum einen Zusammenhang hervor.

Eine gute Erklärung für das Phänomen lässt sich darin finden, dass Stress ein negativer Faktor bei der Testosteronbildung ist. Männer, die aus sozial schlechter gestellten Familien oder Gebieten stammten, die in der Ausbildung unter körperlichem oder psychischem Stress litten, hatten automatisch einen niedrigeren Testosteronwert, ganz unabhängig von der genetischen Disposition.

Was bedeutet das genau?

Stress steht dem Erfolg entgegen. Und der Erfolg ist es, der den Testosteronspiegel leitet, nicht andersherum. Was bedeutet das nun für Männer?

  • Gesund leben – Männer sollten allgemein ein gesundes Leben führen. Sport, ruhig einmal mit dem wohlbekannten Auspowern, gesunde Ernährung und Ruhephasen. So lässt sich der Stress reduzieren, sodass er keine großen Auswirkungen auf den Hormonspiegel hat.
  • Erfolg macht maskulin – dies gilt gerade für die jungen Männer, die das Gefühl haben, der Eimer Testosteron war bei der Vergabe an sie leer. Auch schmächtige Schultern hindern nicht am Erfolg – der Erfolg kann es sein, der das Testosteron fördert.
  • Mangel – besteht allgemein die Befürchtung, dass der Testosteronspiegel sehr niedrig ist, so sollte über ein Blutbild ein Mangel ausgeschlossen werden. Es kann immer geschehen, dass die Ausschüttung zu gering ist, was sich natürlich auch gesundheitlich auswirkt. In diesem Fall kann mit Medikamenten nachgeholfen werden.

Grundsätzlich sollte kein Mann den Testosteronwert als Schild nutzen oder sich dutzende Gedanken machen, wenn der Körperbau nicht dem Highlander nahekommt. Jeder ist verschieden und nicht jeder Mann kann Muskeln aufbauen. Der Erfolg hängt nicht von der Muskelmasse ab, sondern vom Können, Wissen und dem Willen, es zu schaffen. Mit jeder Stufe auf der Erfolgsleiter steigt auch das Selbstbewusstsein und mit ihm kommt die männliche Ausstrahlung direkt.

Und was ist mit der Risikobereitschaft? Sicherlich kennt jeder jemanden in seinem Umfeld, der eher klein und schmächtig ist, der aber notfalls auch den Drachen mit einer Kuchengabel bekämpfen würde: Weil er weiß, dass er schneller ist. Risikobereitschaft bedeutet nicht, unberechenbare Wagnisse einzugehen, sondern den Mut zu haben, einen notwendigen Schritt zur rechten Zeit zu gehen.

Fazit – es kommt nicht nur auf Hormone an

Testosteron ist wichtig für den männlichen Körper. Knochen, Muskeln, Organe, Hirn und der Geschlechtstrieb samt Fortpflanzung hängen davon ab. Viel Testosteron bedeutet neuen Forschungen nach aber nicht direkt Erfolg, sondern Erfolg kann Testosteron mit sich bringen. Wer mit sich hadert, der sollte sich keinesfalls den Kopf zerbrechen. Psychischer Stress lässt den Testosteronspiegel ebenso sinken, wie körperlicher Stress. In der Ruhe liegt die Kraft und wer zur Ruhe kommt, der sieht auch den Weg zum Erfolg.



Dienstag, 26. Oktober 2021

Verdienen Frauen, was sie verdienen?

Bartholomeus Spranger

aus nzz.ch, 25. 10. 2021

Verdienen Frauen, was sie verdienen?
Werden Frauen beim Lohn systematisch diskriminiert, wie dies die Gewerkschaften behaupten? Die Antwort auf diese Frage liegt in der Art der Betrachtung und ist deshalb hochgradig manipulierbar.
 
von Claudia Wirz

Der Anthropologe Carel van Schaik hat zusammen mit dem Historiker Kai Michel letztes Jahr ein Buch veröffentlicht. Es heisst «Die Wahrheit über Eva». Wahrheit ist ein grosses Wort – zumal in der Wissenschaft, wo letztgültige Gewissheiten eher selten vorkommen. Im konkreten Fall ist die Wahrheit mitunter die Geschichte einer Unterdrückung.

Alles nur wegen der Landwirtschaft

Die beiden Autoren erklären nämlich, wie es nach Jahrtausenden des egalitären Zusammenlebens der Geschlechter dazu kommen konnte, dass die Frauen den Männern auf einmal untertan wurden, wodurch ein auf Ungleichheit basierendes Gesellschaftsschema entstanden sei, das bis heute weiterwirke und Männer mit unverdienten Privilegien ausstatte.

Schuld an der ganzen Misere ist laut den Autoren die Erfindung der Landwirtschaft oder, genauer gesagt, das daraus resultierende Konzept des Eigentums. Erst der Privatbesitz machte den Mann, den einstigen Jäger, zum Herrscher über Haus und Hof und zum Verteidiger seiner Ansprüche.

 

 

Diese menschheitsgeschichtlichen Erkenntnisse über das Schicksal von Eva und ihren Schwestern dürften all jenen prima ins Konzept passen, die in der Politik das Narrativ von der diskriminierten Frau auch nach vollendeter Gleichberechtigung und trotz systematischer Frauenförderung mit Hingabe bewirtschaften. Denn das Diskriminierungsthema ist politisch schlicht zu lukrativ, um fallengelassen zu werden.

Und so wird uns seit Jahrzehnten beinah mantramässig eingetrichtert, dass Frauen für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt seien als Männer. Ein guter Teil dieses Lohnunterschieds, sagen Gewerkschaften und die Gleichstellungslobby, sei Ausdruck wahrhafter Diskriminierung. Daraus lässt sich trefflich politischer «Handlungsbedarf» ableiten.

Überschätzte Unterschiede

Doch an dieser vermeintlichen Wahrheit über Eva gibt es schon lange Zweifel. In einer komplexen Arbeitswelt lassen sich Löhne nicht so einfach vergleichen wie Hotelzimmerpreise auf einem Buchungsportal. Was heisst schon gleiche Arbeit? Was ist gleiche Qualifikation? Welche Rolle spielen die Erfahrung oder die Flexibilität? Ist ein akademischer Titel unabhängig vom Fachgebiet immer gleich viel wert?

Schon vor Jahren beanstandete der Arbeitsmarktökonom George Sheldon, dass die «objektiven Faktoren» bei den Lohnvergleichen nicht abschliessend geklärt und definiert seien. Dadurch seien die Ergebnisse von Lohnvergleichen hochgradig steuerbar. Man kann sich, zugespitzt formuliert, eine Lohndiskriminierung auch herbeirechnen.

Eine neue Untersuchung von Anthony Strittmatter vom Institut Polytechnique de Paris und Conny Wunsch von der Universität Basel bestätigt diese Problematik. Strittmatter und Wunsch kommen zum Schluss, dass die unerklärten Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen durch die Standardanalysen oft überschätzt werden. «Wendet man modernere Methoden an», schreiben sie, «kommt man zu deutlich geringeren Differenzen.»

Es lohnt sich also, gewisse liebgewonnene Wahrheiten über Eva zu hinterfragen, vor allem dann, wenn sie darauf angelegt sind, staatliche Regulierungen auszulösen.

Claudia Wirz ist freie Journalistin und Redaktorin beim «Nebelspalter».

 

Nota. - Ein halbes Jahrhundert feministisches Trommelfeuer und eine self-fulfilling prophecy: Ich war mal ein gutwilliger und lernfreudiger Mann, der sich im Kleinen wie im Großen alle-zeit selber ein Bild machte, grundsätzlich immer bereit, überkommene Gewissheiten in Zwei-fel zu ziehen und neue Gedanken auszuprobieren. Inzwischen bin ich so, wie man mir seit damals auf den Kopf zusagt: Wann und wo immer FRauen über ihr ungerechtes Los lamentie-ren, wisch ich's mit Links beiseite und sage: Lasst mich in Ruh.

Dies ist eine gute Gelegenheit, zwischendurch zu bemerken: Die Sache mit dem Pay Gap ist in der Tat "hochgradig manipulierbar"! Mathematik gilt den meisten Zeitgenossen zu Unrecht als eine Geheimwissenschaft  - aber Statistische Mathematik ist eine! Es ist ja vorstellbar, dass da eine zahlenmäßige Differenz vorliegt, die aus bekannten Faktoren nicht erklärbar ist. Das be-deutet noch lange nicht, dass es feministisch erklärt werden muss. Aber vielleicht doch? Da müssen die Statistischen Mathematiker erst noch ein bisschen nach unbekannten Faktoren suchen.

JE

 

Dienstag, 12. Oktober 2021

Über Narzisst:innen.

Wer ist die Schönste im ganzen Land? 

aus spektrum.de, 29. 3. 2021

Die übersehenen Narzisstinnen
Männer gelten als narzisstischer als Frauen. Doch eine bestimmte pathologische Form wird bei Frauen oft nicht erkannt.


von Corinna Hartmann

Elizabeth Holmes hatte es geschafft: Mit Anfang 30 war sie die weltweit jüngste Selfmade-Milliardärin. Sie zierte die Cover der bedeutendsten Wirtschaftsblätter, und das »Time Magazine« kürte sie zu einer der 100 einflussreichsten Personen der Gegenwart. Die Welt hatte lange auf so eine Vorzeigeunternehmerin und Powerfrau gewartet; auf eine, die auf Augenhöhe war mit Microsoft-Gründer Bill Gates, Tesla-CEO Elon Musk und dem 2011 verstorbenen Apple-Chef Steve Jobs. Letzterer war Holmes' großes Vorbild. Nicht nur beruflich, auch modisch eiferte sie ihm nach und trug meist einen schwarzen Rollkragenpullover.

Ihre Idee versprach so revolutionär zu sein wie das iPhone: Ein neues Analysesystem soll schon mit wenigen Tropfen Blut zahlreiche Labortests durchführen, Viren, Antikörper und Krebsmarker nachweisen und innerhalb weniger Minuten nach mehr als 100 Krankheiten fahnden. Um diesen Plan umzusetzen, brach Holmes ihr Studium des Chemieingenieurwesens an der Stanford University ab und gründete das Start-up Theranos. Mit ihrem selbstbewussten Auftreten, ihren großen blauen Augen und ihrem Charisma zog sie Menschen in ihren Bann und gewann zahlreiche wohlhabende Unterstützer. Medienmogul Rupert Murdoch, US-Bildungsministerin Betsy DeVos, der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger und viele andere investierten Millionen in ihre Firma.


Narzissmus – Schwierige Persönlichkeiten Dieser Artikel ist enthalten in Spektrum Kompakt, Narzissmus – Schwierige Persönlichkeiten

Der Haken: Das von Theranos angepriesene Blutanalysesystem, das die medizinische Diagnostik revolutionieren sollte, hat nie funktioniert. Patienten hatten reihenweise falsche Testergebnisse erhalten. Holmes steht im Verdacht, die Öffentlichkeit jahrelang getäuscht und das unbrauchbare Gerät wissentlich in Umlauf gebracht zu haben. Als Mitarbeiter von Theranos sich 2015 an die Presse wandten, platzte die Blase. Es war alles eine große Show. Holmes, so wirkt es, wollte um jeden Preis als Wunderkind gefeiert werden. Dabei schien sie nicht zu stören, dass dadurch Menschen zu Schaden kamen. Macht und Erfolg wurden womöglich zum Selbstzweck. Viele Experten vermuten hinter ihrem selbstdarstellerischen und manipulativen Verhalten einen Hang zum Narzissmus. Dass der Fall Holmes großes Aufsehen erregte, lag aber nicht nur an der Dreistigkeit des ihr zu Last gelegten Betrugs, sondern auch am Geschlecht der Verdächtigen.

Großartig und verletzlich

Narzissmus ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das in der Bevölkerung normal verteilt ist und sowohl positive als auch negative Seiten hat. Von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung spricht man erst, wenn eine hohe Ausprägung zu Leid und Problemen führt.

  • Männer erhalten die Diagnose häufiger als Frauen. Das kann an unterschiedlichen Charaktermerkmalen und Geschlechterklischees liegen sowie daran, dass Frauen eher zu einer Form des pathologischen Narzissmus neigen, die leicht übersehen wird.

  • Bei diesem so genannten vulnerablen Narzissmus halten sich Betroffene zwar ebenfalls insgeheim für etwas ganz Besonderes und haben hohe Ansprüche, neigen aber zu einem niedrigeren Selbstwertgefühl und vermeiden Bewertungssituationen.


    Auch wenn Sigmund Freud Frauen noch für das eitlere Geschlecht hielt – heute gilt der Narzissmus als typisch männliche Charaktereigenschaft. Prominente, denen man einen Hang dazu nachsagt, sind der US-Präsident Donald Trump, der Rapper Kanye West oder der Fußballer Cristiano Ronaldo. Doch längst nicht jeder, der großspurig auftritt, ist deswegen gleich krank. In der Persönlichkeitspsychologie versteht man unter Narzissmus ein Merkmal, das wie Körpergröße oder Intelligenz in der Bevölkerung normalverteilt ist. Die meisten bewegen sich im Mittelfeld, sehr hohe und sehr niedrige Ausprägungen kommen selten vor. Einer der meistverwendeten Narzissmus-Fragebogen erfasst drei Hauptkennzeichen: Autoritätsanspruch und Führungsdenken (zum Beispiel »Ich bin der geborene Anführer«), Hang zur Selbstdarstellung (»Ich stehe gerne im Mittelpunkt«) sowie ausbeuterisches Verhalten (»Es fällt mir leicht, andere zu manipulieren«).

    Ein gewisses Maß dieser Persönlichkeitseigenschaft ist sogar hilfreich. Wer viel von sich hält, tritt oft charmant auf, kommt bei anderen gut an und hat Erfolg im Beruf. Erst wenn die Ausprägung so extrem wird, dass sie bei Betroffenen oder ihrem Umfeld erhebliches Leid verursacht, spricht man von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Der Anteil der Männer, die eine solche Diagnose erhalten, liegt Untersuchungen zufolge in der Tat höher als bei Frauen.Das könnte Sie auch interessieren: Spektrum Psychologie: Ist mein Partner ein Narzisst?

    Schwankendes Selbstwertgefühl

    Entgegen der landläufigen Meinung fühlen sich pathologische Narzissten nicht einfach besonders wertvoll. Stattdessen schwankt ihr Selbstwertgefühl je nach Situation stark und hängt mehr als üblich von der Anerkennung durch andere ab. Häufig begeben sich Betroffene erst in Behandlung, wenn sie in eine schwere Krise geraten und das sorgfältig aufgebaute Kartenhaus zusammenbricht, etwa nach Misserfolgen, einer Trennung oder einer Kündigung. Die psychischen Folgen gehen mitunter bis hin zu Suizidgedanken.<

    Obwohl das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen DSM-5 die narzisstische Persönlichkeitsstörung als einheitliches Syndrom beschreibt, sprechen neuere Forschungsbefunde dafür, dass verschiedene Subtypen der Persönlichkeitsstörung existieren. Neben dem grandiosen Narzissmus, welcher der Diagnose im DSM-5 sehr nahekommt, gibt es nämlich einen so genannten vulnerablen Narzissmus.

  • Elizabeth Holmes Elizabeth Holmes | Die Gründerin des Bluttest-Start-ups Theranos im Gerichtssaal des kalifornischen San José. Sie ist wegen Betrugs angeklagt.

    Vulnerable Narzissten sind allerdings nicht so leicht als solche zu erkennen. Sie sehen sich zwar insgeheim auch als etwas ganz Besonderes und haben eine hohe Anspruchshaltung, trauen sich jedoch oft nicht, das Lob einzufordern, nach dem sie dürsten. Stattdessen haben sie große Angst vor dem Feedback anderer und schämen sich sehr, wenn sie Kritik erhalten. Arroganz, Überheblichkeit und dominantes Verhalten kommen kaum vor. »Betroffene wirken eher ängstlich und depressiv. Anders als beim grandiosen Narzissmus gehen vulnerable Narzissten ihre Mitmenschen nicht offen aggressiv an und werten sie nicht ab«, sagt Claas-Hinrich Lammers, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Asklepios Klinik Nord in Ochsenzoll. »Sie haben auch Größenfantasien. Aber sie trauen sich aus Angst vor Ablehnung nicht, diese nach außen zu tragen.«

    Während grandiose Narzissten eine hohe Selbstwirksamkeit haben und daher überzeugt sind, die eigenen Ziele problemlos erreichen zu können, zweifeln Narzissten vom vulnerablen Typ an ihrer Handlungsmacht. Dadurch sind sie häufig sozial gehemmt und vermeiden Situationen, in denen sie bewertet werden. Das sei ein wesentlicher Unterschied, meint Lammers. »Beim grandiosen und vulnerablen Narzissmus handelt es sich nicht etwa um zwei Seiten einer Medaille. Vielmehr sind es zwei eigenständige Typen des Narzissmus mit sehr unterschiedlichen Persönlichkeitsprofilen.« Demnach weisen grandiose Narzissten bei den Big Five – den fünf gängigsten Persönlichkeitseigenschaften, die den Charakter eines Menschen beschreiben – eine geringe soziale Verträglichkeit bei hoher Extraversion auf. In anderen Worten: Sie sind kontaktfreudig, aber rücksichtslos, was eine ausgesprochen explosive Mischung ergibt. Vulnerable Narzissten vertragen sich ebenfalls nicht gut mit anderen, sind jedoch eher introvertiert, neurotisch – also emotional labil –, haben ein niedrigeres Selbstwertgefühl und eine geringere Lebenszufriedenheit. Sie treten nach außen hin weniger prahlerisch und feindselig auf und werden daher seltener als Narzissten erkannt. Es gibt allerdings gute Gründe, diese weniger offensichtliche Form auch als Narzissmus zu bezeichnen: »Gemeinsam haben beide Typen neben der sozialen Unverträglichkeit ihre Größenfantasien, die Selbstbezogenheit und die hohe Anspruchshaltung«, sagt Lammers.

    »Sowohl ein niedriger Selbstwert als auch überhöhte Vorstellungen von der eigenen Person sind mit Problemen im zwischenmenschlichen Bereich verbunden«
    (Astrid Schütz, Persönlichkeitspsychologin)

    Frauen, so zeigt die Forschung, neigen eher zu diesem vulnerablen Narzissmus. »Sowohl ein niedriger Selbstwert als auch überhöhte Vorstellungen von der eigenen Person sind mit Problemen im zwischenmenschlichen Bereich verbunden«, weiß die Persönlichkeitspsychologin Astrid Schütz von der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Obgleich die Unterschiede insgesamt sehr gering sind, hätten Frauen öfter einen geringen Selbstwert, der zudem öfter von äußeren Einflüssen abhänge. »Das heißt, sie sind häufiger mal auf ein Schulterklopfen angewiesen, um sich wohlzufühlen«, ergänzt Katharina Geukes, die sich an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit Fragen der Persönlichkeit beschäftigt. Forscher um die Psychologin Emily Grijalva, damals an der University of Buffalo, analysierten 2015 mehr als 300 Studien zu Narzissmus bei Männern und Frauen. Das Resultat: Männer erreichen insgesamt höhere Narzissmus-Werte. Sie neigen vor allem stärker zu ausbeuterischem Verhalten, zu Autoritätsanspruch und Führungsdenken. Im Hang zur Selbstdarstellung haben sie einen weniger großen Vorsprung, im vulnerablen Narzissmus ziehen Frauen gleich.

    Egoismus, Machtstreben und Angeberei

    »Diese Durchschnittswerte bedeuten natürlich nicht, dass jeder Mann narzisstischer ist als jede Frau. Es gibt sehr wohl narzisstische Frauen. Die Unternehmerin Elizabeth Holmes etwa war sehr charismatisch, beutete Investoren und Mitarbeiter aber gleichzeitig schamlos aus, was typisch für Narzissten ist«, sagt Emily Grijalva zu den Ergebnissen. »Die Gesellschaft akzeptiert Egoismus, Machtstreben und Angeberei bei Männern eher, da diese Eigenschaften im Widerspruch zum Bild der Frau stehen, die als bescheiden und fürsorglich gilt.« Katharina Geukes hält den Vorsprung von Männern im Narzissmus ebenfalls für überschätzt: »Der Geschlechterunterschied ist relativ stabil über die Lebensspanne, aber nicht so groß, wie man meinen könnte. Anders als das Stereotyp vom narzisstischen Mann vermuten lässt, sind die Unterschiede eher gering.«

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    Eine bedeutende Studie auf dem Gebiet veröffentlichten die Persönlichkeitsforscher Paul Costa, Robert McCrae und Antonio Terracciano 2001. Sie nutzten Persönlichkeitsprofile von 23 000 Männern und Frauen aus 26 verschiedenen Ländern (darunter Indien, Deutschland, die USA, Peru, Südafrika und Russland), die Wissenschaftler mit einem gängigen Fragebogen erhoben hatten. Dabei entdeckten sie einen kleinen, statistisch bedeutsamen Geschlechterunterschied in den typischen Charaktereigenschaften: Frauen waren im Schnitt zugewandter, freundlicher, jedoch auch ängstlicher und sensibler für eigene Gefühle als Männer. Die hingegen schätzten sich durchweg als durchsetzungsfähiger und offener für neue Ideen ein. Die weiblichen Teilnehmer hatten demnach in den Persönlichkeitsfacetten Verträglichkeit, Introversion und Neurotizismus, also emotionale Labilität, die Nase vorn. Die männlichen waren weniger verträglich, weniger neurotisch und extravertierter. Das Ergebnis entspricht weitgehend gängigen Geschlechterklischees, beruht allerdings ausschließlich auf Selbsteinschätzungen der Probanden. Jedoch untermauern andere Studien diesen Befund. Psychologen um Jeffrey Gagne von der University of Texas in Arlington erfassten 2013 das Temperament von 714 Dreijährigen. Eltern und Versuchsleiter, die das Verhalten der Kinder analysierten, schätzten Jungen im Schnitt als aktiver ein, während sie Mädchen als schüchterner, aber kontrollierter und konzentrierter bewerteten. Bei gegengeschlechtlichen Zwillingen, die unter nahezu identischen Bedingungen aufwuchsen, zeigte sich der gleiche Effekt. Das deutet darauf hin, dass sich Männer und Frauen schon sehr früh im Charakter unterscheiden – oder dass das zumindest so wahrgenommen wird, was ebenso an kulturellen Rollenerwartungen liegen könnte.

    »Bei der narzisstischen Persönlichkeit kann man davon ausgehen, dass sie bis zu 50 Prozent erblich bedingt ist« Claas-Hinrich Lammers, Psychiater

    Dass Frauen seltener den typischen grandiosen, sondern eher einen vulnerablen Narzissmus an den Tag legen, hat daher wahrscheinlich mit ihrem generellen Hang zu Introvertiertheit und Neurotizismus zu tun. »Vulnerabler Narzissmus und Neurotizismus überlappen stark. Wer neurotisch ist, macht sich über alles Mögliche Sorgen. Beim vulnerablen Narzissmus beziehen sich die Sorgen vor allem auf die Wahrung des positiven Selbstbilds – das heißt auch darauf, wie man bei anderen ankommt. Was in dem Fall allerdings Henne und was Ei ist oder ob vulnerabler Narzissmus und Neurotizismus einen gemeinsam Ursprung haben, ist noch schwer zu sagen«, erklärt Katharina Geukes. Doch möglicherweise legt das angeborene Temperament den Grundstein dafür, welche Art von Störung man später entwickelt. »Der genetische Anteil an der Entstehung von Persönlichkeitsstörungen wird gemeinhin unterschätzt. Bei der narzisstischen Persönlichkeit kann man davon ausgehen, dass sie bis zu 50 Prozent erblich bedingt ist«, erklärt Claas-Hinrich Lammers. Darüber hinaus gibt es erste Hinweise, wonach unterschiedliche Faktoren in der Kindheit die Entwicklung der beiden Formen begünstigen. Während übertriebene Verwöhnung und Bewunderung des Kindes durch die Eltern offenbar grandiose Persönlichkeitszüge fördert, könnte ein inkonsistenter Erziehungsstil zu einem schwankenden Selbstwertgefühl führen und beim vulnerablen Narzissmus eine Rolle spielen. Methodisch stehen solche Befunde zum Einfluss früher Erfahrungen auf die Entstehung von Störungen allerdings auf wackeligen Beinen, denn Forscher müssen sich in der Regel auf Erzählungen der Patienten verlassen.

    Wahrscheinlich gibt es noch einen anderen Grund, weshalb Frauen seltener die Diagnose narzisstische Persönlichkeitsstörung erhalten. »Es gibt einen klaren Geschlechter-Bias in der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen«, gibt Lammers zu bedenken. Anders gesagt: Psychologen und Psychiater sind auch nur Menschen und lassen sich von gängigen Klischees beeinflussen. Legt man Fachleuten denselben Fallbericht vor und nennt den Patienten einmal Anna und einmal Paul, erhält Paul öfter die Diagnose einer narzisstischen, Anna die einer histrionischen Persönlichkeitsstörung. Der Begriff stammt vom »Histrionen«, dem Schauspieler im antiken Rom. Betroffene zieht es entsprechend auf die Bühne. Sie lieben es, im Mittelpunkt zu stehen, geben sich dramatisch und kapriziös, sind selbstbezogen und schnell gekränkt. »Hinter dem klassischen Macho steckt, wenn man es genau nimmt, oftmals eher ein Histrioniker als ein Narzisst«, bemerkt Lammers. Mit der narzisstischen Persönlichkeit hat die histrionische das gesteigerte Bedürfnis nach Anerkennung gemein.

    Geschlechterklischees bei der Diagnose

    An der Ähnlichkeit dieser beiden Krankheitsbilder sieht man, wie schwierig eine trennscharfe Zuordnung zu einer bestimmten Persönlichkeitsstörung ist. Daher kann es leicht passieren, dass Behandler sich bei der Diagnosefindung vom Geschlecht des Patienten leiten lassen: Der typische Narzisst ist ein Mann, die Histrionikerin und Borderlinerin ist eine Frau. Letztere Persönlichkeitsstörung äußert sich typischerweise in starken Schwankungen im Sozialverhalten, in der Stimmung und Selbstwahrnehmung, die sowohl für die Person selbst als auch für ihre soziale Umgebung belastend sind. Borderline galt lange Zeit als weibliches Phänomen. »In der Tat erhalten mehr Frauen die Diagnose – allerdings zeigen neuere Studien, dass Borderline bei Männern in annähernd gleichem Maß auftritt. Dass betroffene Männer sich seltener in Behandlung begeben, hängt wahrscheinlich mit geschlechtstypischen Rollenerwartungen zusammen«, sagt Astrid Schütz.

    Ein Team von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster um Michael Grosz und Mitja Back hat noch eine weitere Eigenart des weiblichen Narzissmus entdeckt. Es entwickelte einen Fragebogen, der verschiedene Facetten der Eigenschaft besonders genau misst und unter anderem erhebt, in welchen Lebensbereichen sie zum Tragen kommen. Frühere Studien hatten gezeigt, dass sich zwei Aspekte unterscheiden lassen: die Selbstaufwertung und die Abwertung anderer. Die Münsteraner Verhaltenswissenschaftler erhoben diese beiden für Intelligenz (»Ich bin ein Genie« versus »Die meisten Leute sind dumm«), Attraktivität (»Ich bin sehr gut aussehend« versus »Die meisten Leute sind nicht sehr attraktiv«), soziale Dominanz (»Ich bin sehr durchsetzungsstark« versus »Die meisten Leute sind Schwächlinge«), soziales Engagement (»Ich bin außerordentlich hilfsbereit« versus »Die meisten Leute sind rücksichtslose Egoisten«) und eine neutrale Kategorie (»Ich bin großartig« versus »Die meisten Leute sind Verlierer«). 

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    In einer bisher unveröffentlichten Erhebung an 1682 Menschen zeigten Männer eine stärkere narzisstische Tendenz, andere abzuwerten, als Frauen sowie in fast allen Bereichen ausgeprägtere narzisstische Selbstaufwertungstendenzen. Die Ausnahme: Männer und Frauen hielten sich gleich häufig für außerordentlich attraktiv. »Schönheit ist wahrscheinlich eine Domäne, die Männern im Vergleich nicht so wichtig ist. Frauen sind zumindest in westlichen Kulturen stärker darauf geprägt, gut aussehen zu müssen«, sagt Grosz. Beim sozialen Engagement, in dem Elizabeth Holmes offenbar brillieren wollte, war der Geschlechterunterschied ebenfalls geringer als in den anderen Bereichen, was zu den gängigen Erwartungen der Gesellschaft an Frauen passt. Männer sahen sich dennoch als die größeren Wohltäter an.

    Die heute 37-jährige Holmes hat sich bis jetzt nie entschuldigt und streitet alle Vorwürfe gegen sie ab. Ob sie sich ihre Schuld selbst eingesteht, bleibt ein Rätsel. Der Prozess gegen sie musste bereits mehrere Male verschoben werden. Erst auf Grund der Covid-19-Pandemie, dann weil sie im Juli 2021 Mutter wurde. Ab Ende August 2021 soll sie sich vor Gericht verantworten. Ihre Anwälte planen laut Medienberichten, zur Verteidigung Beweise für ein psychisches Problem ihrer Klientin vorzulegen. Bei einer Verurteilung drohen ihr bis zu 20 Jahre Haft.

    Was versteht man unter Persönlichkeitsstörungen?

    Der Begriff bezeichnet ein überdauerndes Muster des Erlebens und Verhaltens, das deutlich von den Erwartungen des Umfelds abweicht. Betroffen sind das Denken (also die Art, wie man sich selbst, andere und Ereignisse wahrnimmt und deutet), das Fühlen, die Impulskontrolle sowie Beziehungen zu anderen. Für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung muss sich das Muster bereits in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter herausgebildet haben, in verschiedenen Situationen zum Tragen kommen und zu Leid oder Beeinträchtigungen im Beruf und Privatleben führen.

    Das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen DSM-5 von der American Psychiatric Association unterscheidet zehn verschiedene Persönlichkeitsstörungen, die sich inhaltlich drei Kategorien zuordnen lassen:

    Cluster A (sonderbar, exzentrisch, schizophrenienah)

  • Paranoide Persönlichkeitsstörung: Misstrauen und Argwohn gegen andere. Betroffene sind nachtragend und unterstellen böswillige Motive.
  • Schizoide Persönlichkeitsstörung: Distanziertheit in sozialen Beziehungen, einzelgängerisches Verhalten, Gefühlskälte
  • Schizotype Persönlichkeitsstörung: eigentümliches Verhalten, seltsame Überzeugungen, Hang zu Aberglauben und Übersinnlichem, Unbehagen in sozialen Beziehungen
  • Cluster B (dramatisch, emotional, impulsiv)

  • Antisoziale Persönlichkeitsstörung: rücksichtslose Missachtung der Rechte anderer, Reizbarkeit, Impulsivität, aggressives Verhalten, Lügen und Betrügen bei fehlender Reue
  • Borderline-Persönlichkeitsstörung: Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen und im Selbstbild, Impulsivität, starke Angst davor, verlassen zu werden, Selbstverletzung, Wutausbrüche, chronisches Gefühl der Leere
  • Histrionische Persönlichkeitsstörung: übermäßige Emotionalität und Streben nach Aufmerksamkeit, sexuell verführerisches oder provokantes Verhalten, theatralischer Gefühlsausdruck, wenig Distanz in sozialen Beziehungen
  • Narzisstische Persönlichkeitsstörung: übertriebenes Gefühl der eigenen Großartigkeit, Bedürfnis nach Bewunderung und Mangel an Empathie. Anspruchshaltung und Arroganz.
  • Cluster C (ängstlich, vermeidend, unsicher)

  • Vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung: soziale Gehemmtheit, Gefühl von Unzulänglichkeit, Überempfindlichkeit gegenüber Kritik. Betroffene halten sich für unterlegen und unattraktiv.
  • Dependente Persönlichkeitsstörung: Bedürfnis, versorgt zu werden, Unterwürfigkeit, Klammern, Trennungsangst. Betroffene haben Probleme, eigene Entscheidungen zu treffen, die eigene Meinung zu vertreten, und sind ungern allein.
  • Zwanghafte Persönlichkeitsstörung: Beschäftigung mit Ordnung, Perfektion, Details, Listen und Plänen. Starkes Bedürfnis nach Kontrolle, unflexibles Verhalten.
  • Dass die bisherigen diagnostischen Schubladen häufig nicht richtig passen, zeigt die Forschung der letzten Jahre: Den einzelnen Persönlichkeitsstörungen mangelt es an Trennschärfe. Nicht immer kommen verschiedene Diagnostiker zum selben Ergebnis, denn im klinischen Alltag ist eine eindeutige Zuschreibung oft unmöglich. Ein Patient oder eine Patientin hat möglicherweise narzisstische, histrionische und antisoziale Anteile oder neigt zu schizoiden, paranoiden und zwanghaften Zügen. Die neue Version der von der WHO herausgegebenen Internationalen Klassifikation der Krankheiten – die ICD-11 –, die voraussichtlich 2022 in Kraft treten wird und auch in Deutschland gilt, zieht daraus Konsequenzen. Die kategoriale Einteilung der Persönlichkeitsstörung weicht einer weitgehend dimensionalen Erfassung. Anhand der Faktoren negative Affektivität, Distanziertheit, Dissozialität, Enthemmung und Zwanghaftigkeit können Ärzte und Psychologen nun individuellere Profile einer Persönlichkeitsstörung zeichnen und diese als leicht, mittel oder schwer einstufen. Unangetastet bleibt die Borderline-Persönlichkeitsstörung, die laut aktuellem Forschungsstand eine sinnvolle Kategorie darstellt.