Sonntag, 13. Juni 2021

Zu Kopf gestiegen.

aus welt.de,14. 6. 2021

Diese Gemeinsamkeiten haben Hoden und Gehirn
Männer denken mit ihrem besten Stück – diese Redewendung ist gar nicht mal so weit hergeholt. Zumindest weisen die Hodensäcke von Männern und das menschliche Gehirn verblüffende Ähnlichkeiten auf.
 

 
Manchmal hat die Natur ziemlich wundersame Einfälle. Diesen Eindruck bestätigen die Ergebnisse einer portugiesischen Studie eines Forscherteams der Universität von Aveiro, die im Fachmagazin Royal Society Open Biology veröffentlicht wurde. Demnach haben ausgerechnet die Hoden, die für die Produktion von Spermien bei Männern zuständig sind, und das Gehirn auffällig viel gemeinsam.
 
Wie kann das sein?

Das Team aus Biologen und Medizinern unter Leitung von Bárbara Matos verglich den Aufbau sowie die Struktur von 33 Gewebearten, die im Herz, Darm, Gebärmutterhals, den Eierstöcken, der Plazenta, den Hoden und im Hirn vorkommen. 

Gehirn und Hoden haben im Vergleich zu anderen menschlichen Körpergeweben die höchste Anzahl gemeinsamer Proteine.
Bárbara Matos, Biologin Universität von Aveiro 

Nach einer Genanalyse zeigte sich: Das Gewebe von Gehirn und Testikel weist eine Übereinstimmung von 13.442 Proteinen auf – obwohl sie an zwei ziemlich unterschiedlichen Körperregionen existieren, wie die Forscher in ihrer Studie schreiben.

Welche Auswirkung haben die Gemeinsamkeiten von Hoden und Gehirn?
Hoden und Gehirn haben diese verblüffenden Gemeinsamkeiten  Neuronen im Gehirn

Der Befund scheint verblüffend, denn die Funktion beider Organe im Körper unterscheidet sich auf den ersten Blick gewaltig. Während das Gehirn eine komplexe Vielzahl an Aufgaben übernimmt und als Schaltzentrale des Körpers gilt, kümmern sich die pflaumenartigen Geschlechtsorgane beim Mann um genau zwei Dinge: Sie produzieren Spermien sowie androgene Geschlechtshormone, vor allem Testosteron.

Jedoch sind die Aufgabengebiete beider Organe enger miteinander verknüpft als gemeinhin angenommen. Eine frühere Studie aus dem Jahr 2012 hat gezeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen sexueller Dysfunktion, vor allem von Erektionsstörungen beim Mann, und Erkrankungen des Gehirns gibt. Eine weitere Forschungsarbeit von 2009 legt nahe, dass sich Intelligenz und Samenqualität gegenseitig beeinflussen. Die nun nachgewiesenen Ähnlichkeiten im Hinblick auf die Genexpression von Proteinen könnten ein Hinweis darauf sein, wieso sich diese Faktoren gegenseitig beeinflussen.

Hoden und Gehirn haben diese verblüffenden Gemeinsamkeiten
Ein Querschnitt von Spermien im Hodensack in 50-facher Vergrößerung

Das Forscherteam stellte fest, dass die gemeinsamen Eiweiße von Hirn und Hoden vor allem an der Bildung von neuem Gewebe und Zellkommunikation beteiligt sind. Das sei eigentlich nicht weiter ungewöhnlich, wie die Wissenschaftler erklären. Beide Organe haben einen sehr hohen Energiebedarf und verfügen über extrem spezialisierte Zellen – beim Gehirn sind es die Neuronen, beim Hoden die Keimzellen. Hinzu komme, dass sowohl Nervenzellen als auch Spermien ähnlich funktionieren. Beide Zelltypen erfüllen ihre Aufgaben, indem sie Stoffe aus der Zellmembran heraustransportieren – das nennt man Exozytose. Auf diese Weise geben Gehirnzellen Neurotransmitter untereinander weiter. Bei Spermien wird der gleiche Prozess verwendet, um wichtige Informationen zur Befruchtung freizusetzen und um sich mit einer weiblichen Eizelle zu verschmelzen.

Beeinflussen die Proteine in Hoden und Gehirn also auch zum Teil die Intelligenz?
 
Warum ausgerechnet diese beiden Organe so viele Gemeinsamkeiten aufweisen, darüber können die Experten bisher nur Vermutungen anstellen. Ein evolutionärer Ursprung liege nahe, da Hoden und Gehirn während der Artbildung unter ähnlichen Einflüssen entstanden seien.

Die Forscher gehen davon aus, dass auf beide Organe derselbe Selektionsdruck ausgeübt wurde, was dazu führte, dass sie sich konvergent entwickelt haben. Darauf würden vor allem die 60 Protein-codierenden Gene hinweisen, die für den Menschen einzigartig sind – und von denen besonders viele sowohl im Gehirn als auch in den Hoden zu finden sind.

Diese Gene können zu phänotypischen Merkmalen beitragen, die für den Menschen exklusiv sind, wie zum Beispiel die verbesserte kognitive Fähigkeit.
Auszug aus der Studie

Bisher sei die Verbindung beider Organe noch wenig erforscht, betonen die Wissenschaftler. In weiteren Studien soll mithilfe der bisherigen Ergebnisse näher untersucht werden, wie zum Beispiel Funktionsstörungen von Gehirn und Hoden entstehen – und auch, was dagegen helfen könnte.

Eine Ausrede für triebgesteuertes Denken werden wohl aber auch Folgestudien nicht liefern können.

 

Nota. -Ist das menschliche Gehirn aus den männlichen Keimdrüsen hervorgegangen, oder umgekehrt die männlichen Keimdrüsen aus unserm Gehirn?

Aufschlussreich wäre auch die Frage, mit wessen Organen das Gehirngewebe so gar keine Verwandtschaft erkennen lässt.

JE




Donnerstag, 10. Juni 2021

Das "Broken Heart" entsteht im Gehirn.

aus derStandard.at, 6. Juni 2021                                                                                                                       Bis zu fünf Prozent der Patientinnen und Patienten, die mit Verdacht auf Herzinfarkt in die Notaufnahme kommen, leiden eigentlich am Broken-Heart-Syndrom

Das "Broken Heart" entsteht im Gehirn
Das Broken-Heart-Syndrom kann genauso lebensbedrohlich sein kann wie ein richtiger Herzinfarkt. US-Forscher haben nun entdeckt, wie es durch Prozesse im Gehirn begünstigt wird.
 
von Gerlinde Felix

Täuschend ähnlich, aber doch kein Herzinfarkt – auch wenn die Symptome und die erhöhten Troponin-Mengen im Blut, ein Marker für Herzinfarkt-typische Herzmuskelschäden, sowie ein auffälliges Elektrokardiogramm (EKG) zunächst genau dies andeuten.

Erst eine Untersuchung der Herzkranzgefäße mit Katheter und Kontrastmittel zeigt, dass die Gefäße frei durchgängig sind und auch keine Überbleibsel eines Blutgerinnsels zu sehen sind – folglich kein Herzinfarkt stattgefunden hat. Aber trotzdem ist das Broken-Heart-Syndrom ganz und gar nicht harmlos: Die Herzmuskulatur, die die Herzwand bildet, ist geschwächt und die Pumpleistung des Herzens verringert.

Zumeist pumpt die gesamte Vorderwand der linken Herzkammer inklusive Herzspitze gar nicht. Es ist, als wenn dieser Teil des Herzens in eine Winterstarre gefallen wäre. Die der Herz-spitze gegenüberliegende Herzbasis pumpt dagegen wie verrückt. Die linke Herzkammer gleicht dann an der Spitze einem Ballon – der Hals bleibt schmal.

Krisen als Trigger

Etwa drei bis fünf Prozent aller Patientinnen und Patienten, die mit Verdacht auf Herzinfarkt in die Notaufnahme kommen, haben das Broken-Heart-Syndrom. Meist tritt der Herzinfarkt-Doppelgänger unmittelbar nach persönlich großen emotionalen oder körperlichen Krisen auf. Liebeskummer, Trauer, eine niederschmetternde medizinische Diagnose, Mobbing am Arbeits-platz, aber auch ein größerer Lottogewinn können ebenso wie eine Operation oder ein Asth-maanfall das Syndrom triggern. In neun von zehn Fällen sind Frauen betroffen. Die Trigger sind schon länger bekannt, aber was steckt ursächlich hinter dem Syndrom?

Seit ein paar Jahren ist bekannt, dass offenbar bestimmte Gehirnregionen des limbischen Sy-stems beteiligt sind. Wie US-Mediziner des Massachusetts General Hospital in Boston nun feststellten, spielt die Amygdala (Corpora amygdaloideum) eine maßgebliche Rolle. Die Amyg-dala, auch als Mandelkern bekannt, verarbeitet und bewertet Eindrücke, gilt als Angst- und Stresszentrum des Gehirns und wirkt indirekt auf das vegetative Nervensystem ein. Wie sind die Forscher vorgegangen?

Vorbelastung durch Stress

Für ihre Fall-Kontrollstudie setzten die Forscher um Ahmed Tawakol ein spezielles bildge-bendes Verfahren ein, das radioaktiv markierte Glukose verwendet: die Positronen-Emissions-Tomografie (PET). Nervenzellen mit einem gesteigerten Energiebedarf haben einen erhöhten Glukoseverbrauch. Die PET misst nun genau diesen Glukosebedarf. Es zeigte sich, dass die Nervenzellen in der Amygdala von Patientinnen und Patienten mit Broken-Heart-Syndrom vermehrt Glukose aufgenommen hatten und ihre Aktivität folglich gesteigert war – lange be-vor es zu den Herzproblemen kam.

"Eine höhere Aktivität in diesen stressassoziierten Gehirnzentren deutet an, dass der Betrof-fene verstärkt auf Stress reagiert", so der Seniorautor Tawakol. Eine erhöhte Aktivität in der Amygdala könnte, so vermuten die Forscherinnen und Forscher, demnach die mögliche Ent-wicklung eines nachfolgenden Broken-Heart Syndroms andeuten. Sie verglichen zuvor die PET-Aufnahmen der Fall- und der Kontrollgruppe. Dazu verwendeten die Forscherinnen und Forscher die PET-Scans von 41 Personen, bei denen diese Scans durchschnittlich 2,5 Jahre vor einem Broken-Heart-Ereignis aus anderen Gründen durchgeführt wurden. Die Kontrollgrup-pe bildeten 63 Personen, die kein Broken-Heart-Ereignis hatten, ansonsten aber den Patienten ähnlich waren.

Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer mit der höchsten Aktivität des Mandelkerns er-litten tatsächlich bereits innerhalb eines Jahres nach Durchführung des PET-Scans ein Broken-Heart-Syndrom. War die Aktivität dagegen geringer, entwickelte sich das Syndrom später. Die Forscherinnen und Forscher vermuten deshalb, dass bei den Betroffenen eine chronische Stresssituation vorlag, die die Amygdala veranlasste, dauerhaft auf das Herz einwirkende Stresshormone freizusetzen. Dies hat wohl das Herz vorbelastet.

Zehn Prozent versterben in Akutphase

Tritt dann eine akute Stresssituation auf, wie zum Beispiel ein schwerer Knochenbruch oder der Tod eines geliebten Menschen, könnte dies die plötzliche Bewegungsstörung der Herz-wand auslösen. Der Herzmuskel kann sich wieder ganz erholen und die Erkrankung innerhalb von ein bis drei Monaten vollständig ausheilen – vorausgesetzt, die Betroffenen überstehen die Akutphase, die genauso bedrohlich sein kann wie bei einem richtigen Herzinfarkt. Etwa zehn Prozent der Patientinnen und Patienten versterben während der akuten Phase im Kranken-haus.

Besonders hoch ist das Risiko, wenn ein kardiogener Schock auftritt, ausgelöst durch ein Pumpversagen des Herzens bzw. eines Teilabschnitts des Herzens, weil dann lebenswichtige Organe nicht ausreichend durchblutet werden. Ist physischer Stress – Angst spielt sicherlich auch eine Rolle – wie eine Operation oder eine Asthmaattacke der Trigger für das Syndrom, dann ist das Sterberisiko während der akuten Phase und auch danach höher.

Etwa fünf bis zehn Prozent der Patientinnen und Patienten haben zudem nach überstandener Akutphase noch jahrelang ein erhöhtes Risiko für einen Rückfall. Für sie bieten die Erkennt-nisse aus dieser Studie einen Hoffnungsschimmer. Tawakol hofft nämlich, dass es mit Medi-kamenten möglich wird, die stressassoziierte Gehirnaktivität zu verringern. "Studien sollten überprüfen, ob es auf diese Weise gelingt, das Risiko für ein erneutes Broken-Heart-Syndrom zu verringern", sagt Tawakol.

Originalpublikationen

European Heart Journal, Stress-associated neurobiological activity associates with the risk for and timing of subsequent Takotsubo syndrome

 

Nota. - "In neun von zehn Fällen sind Frauen betroffen." - Wo bleibt Ihr Aufschrei, Frau Felix: Wer hat denn da wieder versagt? "Da muss mann doch endlich was machen!"

JE

Samstag, 5. Juni 2021

Plötzlich wollen alle ein Mädchen haben.

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aus nzz.ch, 4. 6. 2

Plötzlich wollen alle ein Mädchen haben 
Früher waren Eltern enttäuscht, wenn sie statt eines Knaben ein Mädchen bekamen. Heute ist es umgekehrt. Obwohl das Geschlecht sonst überall an Bedeutung verliert, sind wir hier offenbar nicht weiter.
 
von Birgit Schmid

Kaum zeigte der Schwangerschaftstest positiv an, stellte sie sich vor, wie sie ihrer Tochter Zöpfe ins Haar flocht. Sie würde ihr niedliche Kleider kaufen, später würden sie zusammen auf Shoppingtour gehen. Dann die ersten vertraulichen Gespräche übers Frauwerden. Das Trösten bei Liebeskummer, die Ermutigung fürs Studium.

Als ihr der Arzt beim Ultraschall vier Monate später das Geschlecht ihres Kindes mitteilte, weinte sie.

Eigentlich erstaunlich: Da will man Genderrollen überwinden, sollen Unterschiede zwischen Frauen und Männern ausgeblendet werden, um sie in vielen gesellschaftlichen Bereichen gleicher zu machen – und dennoch haben werdende Eltern weiterhin ein Wunschgeschlecht für das Kind, das zu ihnen stossen wird. So wie die Schwangere, die in einem Blog über ihre Enttäuschung schrieb, dass sie einen Sohn haben werde.

Die Zukunft ist weiblich

Vor siebzig Jahren wäre sie überglücklich gewesen. Damals, als Buben noch als Stammhalter galten, weil so der Besitz in der Familie blieb. Das ist in vielen Kulturen noch immer so. Eine Hebamme hat mir erzählt, wie freudlos die muslimischen Eltern waren, deren Tochter sie auf die Welt half. In westlichen Gesellschaften hat sich das geändert. Viele Eltern würden sich heute für ein Mädchen entscheiden, wenn sie das Geschlecht wählen könnten.

Darauf verweist auch die Statistik: Viele Paare belassen es bei einer Tochter und wollen keine weiteren Kinder. Was hat zu diesem Wandel geführt? Ist die Zukunft wirklich weiblich, nimmt man mit Töchtern daran teil. Mädchen sind angepasster. Mädchen schneiden besser ab in der Schule. Sie gehen studieren. Wird eine gute Stelle frei, erhält sie heute die Frau und nicht der Mann; Diversität als Gebot. Auch wird das Mannsein medial gerade nicht besonders bewor-ben.

Führt dies zur Bevorzugung des einen Geschlechts, so ist das kein Grund zur Freude. In Indi-en oder China werden weibliche Föten abgetrieben, weshalb es einen Überschuss an Männern gibt. Wenn chinesische Familien, wie soeben vom Politbüro in Peking verkündet, neu drei Kinder haben dürfen, sind vielleicht auch Mädchen willkommener.

Trend zu Family-Balancing

Die Chinesen lernen nun aber auch eine neue Form von Enttäuschung kennen, wie sie bei uns verbreitet ist. Sind nämlich bereits Kinder da, kann sich der Wunsch nach einem bestimmten Geschlecht noch verstärken. Das gemischte Doppel, Mädchen und Knabe, bleibt ein Ideal, und das gilt auch bei drei und mehr Kindern.

Family-Balancing nennt sich das: Warum zwei, drei oder vier vom Gleichen, wenn es abwechslungsreicher ginge? Man sieht kinderreichen Familien an, wie sehr sie sich um Ausgewogenheit bemühen. Vermutlich bekamen David und Victoria Beckham nach drei Knaben nur deshalb ein viertes Kind. «It’s a girl!», konnten sie dann tatsächlich verkünden.

Gut möglich, dass die Reproduktionsmedizin irgendwann auch die Enttäuschung über ein «falsches» Geschlecht nicht mehr zulässt. Noch ist es bei uns verboten, ein Kind nach Geschlecht auszuwählen. In den USA passiert das bereits. Werdende Eltern sprechen das Thema bei einer In-vitro-Befruchtung vermehrt an und lassen durchblicken, dass sie eine Bestellung aufgeben würden, wenn sie dürften.

Vielleicht nennt man sie dereinst mutig, die Familien mit drei, vier oder fünf Kindern vom gleichen Geschlecht. Sie strahlen aus: Man muss nicht jede Erfahrung gemacht haben. Jedes Kind ist einzigartig. Als Prinz Carl Philip von Schweden und seine Frau Sofia kürzlich Eltern eines dritten Sohnes wurden, sahen manche darin wohl einen Makel eines sonst so perfekten Paars. Sie werteten das Kind aufgrund seines Geschlechts ab.

Überlassen Eltern das Geschlecht nicht mehr dem Zufall, wird ihre Enttäuschung noch viel grösser ausfallen. Was, wenn die Bloggerin eine Tochter bekommen hätte und diese all das nicht gewesen wäre, was sich die Mutter vorstellte? Nicht niedlich, keine Verbündete? Der Ultraschall hat nicht nur das Geschlecht ihres Kindes enthüllt, sondern auch ihren Sexismus.

 

Dienstag, 1. Juni 2021

Schon bei den Orangs!

Orang-Utan 

aus scinexx                                                                  Mutter und Tochter bei der Nahrungssuche

Junge Weibchen lernen anders als Männchen
Geschlechtsspezifisches Lernen bereitet Jungtiere auf ihre späteren Lebens-umstände vor

Rollenspezifische Vorbilder: Junge Orang-Utans lernen je nach Geschlecht unterschied-lich, wie Beobachtungen belegen. Demnach orientieren sich weibliche Jungtiere bei der Nahrungssuche vor allem an ihren Müttern oder anderen Weibchen, junge Männchen wählen dagegen fremde ausgewachsene Männchen als Vorbilder. Durch dieses geschlechts-spezifische Lernen erwerben beide Geschlechter jeweils das Wissen, das sie später zum Überleben brauchen.

Sind geschlechtsspezifische Unterschiede im Verhalten oder im Lernen biologisch bedingt? Oder sind sie durch die Gesellschaft und unwillkürliche Rollenzuweisungen angelernt? Bisher gibt es auf diese Fragen keine eindeutige Antwort, zumindest beim Menschen sind die Ein-flussfaktoren zu komplex und miteinander verwoben. Daher liegt ein Blick zu unseren engsten Verwandten nahe. Dieser zeigt, dass es auch bei Menschenaffen geschlechtsspezifische Unter-schiede gibt: Weibliche Jungschimpansen spielen beispielsweise anders als männliche und Gib-bon-Weibchen sind zögerlicher gegenüber Neuem. Bei Schimpansen jagen und fressen die Männchen zudem häufiger Fleisch.

Wie kommt es zu den Verhaltensunterschieden?

Wie es zu solchen geschlechterspezifischen Verhaltensweisen kommt, haben Forscher um Beatrice Ehmann von der Universität Zürich jetzt am Beispiel der Orang-Utans untersucht. Bekannt war bei diesen bereits, dass die Jungtiere mehrere Jahre brauchen, um die Nahrungs-suche zu erlernen, und dass sie sich dabei an ihren Artgenossen orientieren. Ehmann und ihre Kollegen wollten nun herausfinden, wen genau die jungen Orang-Utan-Weibchen und -Männ-chen als Vorbilder nehmen.

Dazu analysierte das Forscherteam detaillierte Beobachtungsdaten aus 15 Jahren zum sozialen Lernen und den Ernährungsgewohnheiten von 50 jungen Orang-Utans aus zwei wilden Suma-tra-Populationen. Um das soziale Lernen von Artgenossen zu ermitteln, verglichen die Wis-senschaftler, wie oft die Jungtiere ihre erwachsenen Artgenossen beobachten und wie viel Zeit sie in deren unmittelbarer Nähe verbrachten.

Weibchen beobachten ihre Mütter, Männchen eher Fremde

Das Ergebnis: Für die Nahrungssuche nahmen die jungen Orang-Utans je nach Geschlecht andere Artgenossen zum Vorbild. So zeigte sich, dass zwar in den ersten drei Lebensjahren weibliche wie männliche Jungtiere vor allem ihre Mutter beobachteten. Doch danach, während des Aufwachsens, änderte sich dies: Junge Weibchen richteten einen Großteil ihrer sozialen Aufmerksamkeit weiterhin auf ihre Mütter oder bekannte Weibchen aus der Umgebung.

Die jungen Männchen beobachteten dagegen ab dem Alter von etwa drei Jahren vorwiegend ausgewachsene Orang-Utan-Männchen, darunter vor allem diejenigen, die aus fremden Gebie-ten eingewandert waren. „Bei jungen Männchen ist die Wahrscheinlichkeit signifikant höher, dass sie zugewanderten Individuen, einschließlich adulten Männchen und unabhängigen Jungtieren beider Geschlechter, zuschauen“, so das Team.

Vorbereitung aufs Erwachsensein

Als Folge dieser Entwicklung hatten sich die jungen Orang-Utan-Weibchen im Alter von etwa acht Jahren im Verhalten stärker an ihre Mütter angeglichen und suchten auch ähnliche Nah-rung. Bei den Männchen stand dagegen zu 35 Prozent auch Futter auf dem Speiseplan, das es bei ihren Müttern nicht gab. „Bemerkenswert ist, dass einige der Nahrungsmittel, die von den jungen Männchen gefressen wurden, vorwiegend von Einwanderern beider Geschlechter ge-fressen wurden“, berichtet das Forschungsteam.

Den biologischen Sinn dahinter sehen Ehmann und ihre Team in einer Vorbereitung auf die spätere Lebensweise: Orang-Utan-Weibchen sind meist ortstreu und bleiben auch als Erwach-sene in ihrem angestammten Gebiet. Für sie ist es daher vorteilhafter, Kenntnisse zu erlernen, die zur Nahrungssuche in ihrer Heimat nützlich sind. Geschlechtsreife Männchen dagegen verlassen das heimische Gebiet. Sie können daher eher davon profitieren, von Artgenossen aus anderen Gebieten zu lernen und so ein breites Nahrungsspektrum zu entwickeln.

Vermutlich auch bei anderen Primaten

„Unsere Studie zeigt, dass junge Orang-Utans geschlechtsspezifische Aufmerksamkeitspräfe-renzen zeigen, wenn es um Vorbilder neben ihrer Mutter geht“, sagt Ehmanns Kollegin Caroline Schuppli. „Unsere Ergebnisse liefern auch Hinweise darauf, dass diese Vorlieben zu unterschiedlichen Lernergebnissen führen und somit ein wichtiger Weg für Orang-Utans sein könnten, geschlechtsspezifische Futtermuster zu erlernen.“

Orang-Utans gelten im Gegensatz zu Schimpansen, Bonobos und Co. als weniger gesellig. Dennoch gehen Ehmann und ihre Kollegen davon aus, dass sich wahrscheinlich auch andere Primaten auf diese Weise geschlechterspezifische Verhaltensweisen aneignen. (PLOS Biology, 2021, doi: 10.1371/journal.pbio.3001173)

Quelle: PLOS


 

aus derStandard.at, 21. Mai 2021

Die Rolemodels der Orang-Utans variieren mit dem Geschlecht
Junge Männchen schauen ihr Futtersuchverhalten bei eingewanderten Artgenossen ab, weibliche Jungtiere bei der Mutter

Neben Schimpansen und Gorillas zählen die Orang-Utans zu den nächsten Verwandten von uns Menschen. Im Vergleich zum Rest der Familie der Hominidae erscheinen die Orang-Utans deutlich weniger gesellig. Frühere Studien zeigten allerdings, dass Jungtiere ihr Wissen und ihre Fertigkeiten hauptsächlich von ihren Müttern sowie von anderen Tieren übernehmen. Soziales Lernen findet bei diesen Menschenaffen durch anhaltendes Beobachten von Artgenossen aus nächster Nähe statt, dem sogenannten Peering.

Ein internationales Team unter Leitung der Universität Zürich (UZH) hat das Peeringverhal-ten von Orang-Utan-Jungtieren an zwei Forschungsstationen in Sumatra und Borneo über einen langen Zeitraum hinweg untersucht. In rund 13 Jahren wurden über 3.100 einzelne Peering-Situationen mit insgesamt 50 Jungtieren beobachtet.

Unterschiedliche Role Models...

Die Resultate der nun im Fachjournal "Plos Biology" erschienenen Studie zeigen, dass sich weibliche und männliche Jungtiere signifikant in der Wahl ihrer Rollenmodelle unterscheiden: Junge männliche Orang-Utans orientieren sich mit zunehmendem Alter in ihrer Entwicklung nicht mehr an ihrer Mutter, sondern an eingewanderten adulten Männchen oder an eingewan-derten Jugendlichen beider Geschlechter.

Weibliche Jungtiere hingegen zeigen ein durchgehend hohes Interesse am Verhalten ihrer Mutter, also an einem maternalen Rollenmodell. Ist dieses nicht verfügbar, dienen auch lokal ansässige ausgewachsene Weibchen und jugendliche Tieren beiderlei Geschlechts als Vorbilder.

... für verschiedene Lebensweisen

Interessanterweise entwickeln sich diese Unterschiede in einer Entwicklungsphase, in dem die Jungtiere noch durchgehend mit ihren Müttern unterwegs sind. Die Mütter ihrerseits unter-scheiden sich nicht in ihren Assoziationsmustern, wodurch sie den weiblichen und den männ-lichen Jungtieren dieselben Lernmöglichkeiten bieten. "Die beiden Geschlechter nutzen die gebotenen Möglichkeiten einfach anders", erklärt Letztautorin Caroline Schuppli von der Universität Zürich und vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie.

"Die unterschiedlichen Rollenmodelle spiegeln sich auch im sozial erlernten Wissen der Jungtiere ab: Weibchen entwickeln ein ähnliches Nahrungsmuster wie ihre Mütter, Männchen dagegen eignen sich vergleichswiese mehr Wissen außerhalb der Repertoires der Mutter an."

Breites Wissen für die Auswanderung

Diese Unterschiede sind sowohl auf das Erlernen von ökologisch relevantem Wissen wie auch auf geschlechtsspezifisches Verhalten zurückzuführen. Beim Eintritt der Geschlechtsreife ver-lassen Orang-Utan-Männchen ihren Geburtsort, um mehrere Jahrzehnte lang durch verschie-dene Gebiete zu ziehen. Da sich diese Regionen in ihrer ökologischen Nahrungsvielfalt un-terscheiden, ist es für männliche Jungtiere von Vorteil, sich ein möglichst breites Wissens-repertoire anzueignen.

Weibliche Jungtiere hingegen bleiben ihrem Geburtsort treu. Für sie zahlen sich möglichst tiefe Kenntnisse des lokalen Gebietes aus. "Zudem vermuten wir, dass sich männliche Jung-tiere von adulten Männchen geschlechtsspezifisches ökologisches Verhalten abschauen. Erwachsene Männchen sind nicht nur deutlich größer als Orang-Utan-Weibchen, sie un-terscheiden sich auch in diversen Aspekten ihres Futtersuch- und Fressverhaltens", so Schuppli.

Parallelen zum Menschen

Die Studienresultate unterstreichen die Bedeutung des sozialen Lernens für die Entwicklung der Jungtiere. Dass soziales Lernen bei den semi-solitären Orang-Utans eine zentrale Rolle in der Entwicklung einnimmt, deutet darauf hin, dass dies auch bei anderen Menschenaffen von zentraler Bedeutung ist. Daraus lässt sich schließen, dass sich die menschliche Fähigkeit des sozialen Lernens kontinuierlich in der Evolution entwickelt hat. Die Ergebnisse dieser Studie dürften überdies für neue Artenschutzstrategien relevant sein, insbesondere bei der Wie-derauswilderung von Hand aufgezogener verwaister Orang-Utans. (red.)

Studie

 

Nota. - Alles nur Erziehung? Na ja. Es kommt darauf an, was man unter Erziehung versteht. Versteht man darunter Konditionierung in vorgegebene Umstände, dann stimmt es für junge Orangs nicht. In ihrem Falle wäre Erziehung die Wahl zwischen Möglichkeiten.

Und siehe da: Die männlichen Jungtiere wählen anders als die weiblichen.

Ein Stereotyp der Humanethologie heißt: Das Weibliche ist innen, das Männliche ist außen. Die weibliche Aufmerksamkeit ist auf das Gegebene gerichtet, die männliche Aufmerksamkeit mehr auf das außerdem Mögliche.

Während der eine unter Erziehung die generationsübergreifende gattungsgeschichtliche Aus-lese und Ausrichtung auf das Überleben in einer spezifischen Umwelt versteht, nennt ein an-derer das Natur. Wenn in beiden Fällen dasselbe gemeint ist, lohnt es nicht, über die Benen-nung zu streiten.

JE