Dienstag, 23. Februar 2021

Einträglich und gefällig.

aus derStandard.at, 20. 2. 2021

Feminismus als schickes Label: 
Verkauft und verraten
Beate Hausbichler untersucht, wie der Konsumkapitalismus die Frauenbewegung gekapert hat und aus politischer Arbeit Arbeit an uns selbst wurde. Ein Vorabdruck
 
von Beate Hausbichler

Es läuft gut für den Feminismus. Er taucht inzwischen auf Notizbüchern und T-Shirts als Schriftzug in goldenen Lettern und in Songtexten von Superstars auf. Medien entdecken das Potenzial feministischer Debatten, traumhafte Leser- und Leserinnenzahlen zu bringen.

Mode- und Kosmetikkonzerne bieten ihre Produkte erfolgreicher denn je unter dem Label "Selbstermächtigung" feil, Musikstreamingdienste bieten Playlists mit den "Top Feminist Songs" an, und wirklich jede und jeder im mittleren bis oberen Management weiß, dass es ohne "Diversity" kaum noch geht.

Auch die berufliche Vernetzung entlang des gemeinsamen Nenners "Feminismus" läuft her-vorragend: Man macht es den "old boys’ clubs" dieser Welt nach und schmiedet entlang der Geschlechtergrenze Seilschaften – für einen leichteren, schnelleren, erfolgreicheren Weg an die Spitze. Warum auch nicht?

 

 

Immerhin könnte der geballte Feminismus in der Populärkultur, in den Medien, in Werbungen und in jedem Netzwerktreffen beruflich ambitionierter Frauen schon irgendwie und irgend-wann durchsickern, sodass wir auch in unseren echten Leben etwas davon zu spüren bekom-men, etwas, das weit über feministische Symbolik und feministische Ästhetik hinausgeht. Doch bisher ist nichts gesickert – und genau das ist das Problem.

Warum ausgerechnet jetzt?

Warum ausgerechnet jetzt? Warum wird Feminismus seit einigen Jahren genau von jenen umarmt, mit denen sich der Feminismus eigentlich angelegt hat? Der Schönheitsindustrie, den Mainstream-Medien, der Kulturindustrie und den Eliten. Was am Feminismus konnte zu einem derart funktionierenden Produkt umgeformt werden?

Abseits vom Label "Feminismus" gibt es viele Feminismen, mit jeweils unterschiedlichem Fokus. Diese Vielfalt bedeutet allerdings nicht Beliebigkeit, vielmehr zeugt sie von der Vielfalt feministischer Identitäts- und Interessenpolitiken, daran erinnert die Soziologin Christa Wichterich.

Feminismus muss auf der Seite derer stehen, die überlappenden Formen von Diskriminierung ausgesetzt sind. Er muss den Stimmen von schwarzen Frauen ebenso Gehör verschaffen wie jenen von Arbeiterinnen, intersexuellen Menschen, Menschen mit Migrationsgeschichte, Geflüchteten, Alleinerziehenden, Lesben oder Transfrauen. Er muss gegen Sexismus ebenso eintreten wie gegen Rassismus, gegen ökonomische Ungleichheit wie gegen Homo- und Transfeindlichkeit.

Es ist dieser Ansatz eines intersektionalen Feminismus, wie ihn die US-amerikanische Rechtsprofessorin Kimberlé´ Crenshaw formuliert hat, der mir sinnvoll erscheint. Und nein, es ist nicht kompliziert. Es lässt sich einfach auf die Frage reduzieren, auf welcher Seite man stehen will.

Frisch glattgebügelt, adrett und nett. Der populäre Feminismus hat sich rausgeputzt und angepasst.
Verheißungsvolle Forderungen

Aber wie lässt sich nun daraus ein profitables Produkt machen? Die Frauenbewegung hat einige eingängige Slogans hinterlassen: "Our Bodies, Ourselves", die Forderung, über den eigenen Körper entscheiden zu können oder dass das "Private politisch" ist. Autonomie, Selbstbestimmung, Selbstermächtigung, Freiheit. Diese zentralen Begriffe des Feminismus sind auch große Versprechen des Konsumkapitalismus, der noch dazu die schnelle Einlösung dieser Versprechen in Aussicht stellt.

Oder sagen wir so: Ein T-Shirt mit dem Slogan "Girl Power" oder "The Future is Female" hilft schon mal. Es schafft ein wohliges Gefühl des Fortschritts. Und die verheißungsvollen Forderungen nach Autonomie, Selbstbestimmung, Selbstermächtigung (Empowerment!) und Freiheit liefern nicht nur Produkte, sie schaffen auch einen wunderbaren Rahmen für neoliberale Praktiken, in denen die Verantwortung für sich selbst im Vordergrund steht, während staatliche soziale Netze immer löchriger werden.

Dass der Feminismus vom Kapitalismus gekapert wurde, das sagte die israelische Soziologin Eva Illouz vor Jahren fast schon schulterzuckend, weil das in politisch-feministischen, aktivistischen und akademischen Kreisen auch längst bekannt ist. Die US-amerikanische Politikwissenschafterin Nancy Fraser hat darüber ebenso analytisch und kompromisslos geschrieben wie die britische Kulturwissenschafterin Angela McRobbie. Auch die US-amerikanische Popkultur-Expertin Andi Zeisler hat sich ebenso ausführlich dem Ausverkauf des Feminismus gewidmet. Und dieser Ausverkauf geht ungehindert weiter.

Wir müssen deshalb ganz genau hinschauen, wo sich dieser marktförmige, populäre Feminismus überall findet und wie er sich entwickelt hat. Und inwiefern wirken wir selbst dabei mit, Feminismus als Marke zu nutzen, und berauben ihn so seiner politischen Kraft? Kapitalismus und Neoliberalismus umarmen den Feminismus. Und sie tun das inzwischen so fest, dass dem Feminismus als soziale und politische Bewegung die Luft genommen wird. So fest, dass jegliche Widersprüche plattgedrückt werden und jede Vielschichtigkeit, die ihn ausmacht und seinen kritischen Geist am Leben erhält, abhandenkommt.

Verquerer Feminismus

Denn so offenkundig der Hype um Feminismus inzwischen ist, so klar ist auch, dass der realpolitische Zustand feministischer Frauenpolitik in einem großen Widerspruch zur neuen "Sexyness" des Feminismus steht. Gegen die wenig aufregenden Probleme gibt es nach wie vor keine wirkungsvolle Politik: keine gegen die hohe Frauenarmut im Alter, keine dagegen, dass in Branchen mit einem starken Frauenüberhang miese Löhne gezahlt werden; keine dagegen, dass Frauen noch immer zum größeren Teil die Arbeiten erledigen, die es in jedem Leben braucht, für die aber niemand zahlt – das Pflegen, Umsorgen, Putzen und vieles mehr.

Bei alldem gibt es keine Fortschritte. Aufgrund der Corona-Krise werden sich Ungerechtigkeiten in den allermeisten Ländern noch verschärfen. Das gilt auch für die Auswirkungen der Klimakrise: Ärmere Bevölkerungsschichten sind auch von dieser weitaus stärker betroffen. 80 Prozent derer, die wegen des Klimawandels ihre Heimat verlassen müssen, sind Frauen.

In all den Jahren, in denen Feminismus in die Werbung, in die Medien, in Serien und Filme eingezogen ist und immer mehr zum Label für Selbstmarketing mit politischem Touch wurde, hat sich weder die riesige Lücke von 40 Prozent zwischen den Pensionen von Männern und Frauen verkleinert, noch sind weniger Frauen durch ihren Partner ermordet worden.

Die Werbung zeigt uns heute zwar ein paar Achselhaare bei ihren Models, auf Instagram bekommen wir Menstruationsblutflecken auf Bettlaken unter dem Motto "Period Pride" zu sehen, und die Debatten in sozialen Medien strotzen nur so vor radikalfeministischem Vokabular. All das geriert sich wahnsinnig politisch. Vielleicht gibt es gesellschaftliche Veränderungen als Reaktion auf all das und wir sehen es nur noch nicht klar genug. In den immergleichen Zahlen bezüglich Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Sexualität und Herkunft drücken sie sich jedenfalls nicht aus.

In kaptitalistischen Netzen verheddert

Doch es wäre unfair, dem jüngeren politischen Engagement vorzuwerfen, dass es zwar höchst aktiv und sichtbar sei, aber bisher kaum Spuren hinterlassen habe. Zehn oder vielleicht fünfzehn Jahre auf einer weitaus größeren Bühne, als es sie bisher gab, reichen dafür nicht. Allerdings müssen wir uns fragen, ob sich Teile dieses Aktivismus schon selbst in neoliberalen und kapitalistischen Netzen verheddert haben. Auch wenn das streckenweise schmerzhaft sein kann.

Die neue Warenförmigkeit von Feminismus durchdringt klassische wie soziale Medien, die Schönheitsindustrie und die Kulturindustrie, bis hin zu unserem Verständnis von Autonomie. Begonnen hat die Vereinnahmung von politischen Forderungen wie "Autonomie" schon früh. Schon vor 100 Jahren wurden Frauen in der Werbung "als Frauen" angesprochen, was und wie sie sein sollten.

"Wir helfen dir, richtig zu sein", "wir sind auf deiner Seite", so die dahinterliegende Botschaft: die richtige Ehefrau, die richtige Hausfrau, die richtige Mutter. Heute sind die Anforderungen an die Geschlechterrollen natürlich andere, oder besser gesagt: Heute sind weitere Anforderungen hinzugekommen. Unternehmen wollen uns so sehr dabei helfen, ihnen gerecht zu werden, dass wir inzwischen kaum mehr unterscheiden können, was noch Produkt und was schon eine Bewegung ist.

Body-Positivity?

In Deutschland waren Firmen maßgeblich an einer Petition beteiligt, die letztlich zur Senkung der sogenannten Tamponsteuer beigetragen hat. Was ist davon zu halten, wenn Firmen – auch wenn es hippe Start-ups sind – Politik machen? Und was sollen wir von einem Aktivismus halten, der uns noch weitere Aufgaben, weitere Arbeit am Selbst umhängt?

Mit dem kämpferischen Ruf "Body Positivity!" erzählen uns jene Unternehmen, die uns jahrzehntelang völlig jenseitige Idealvorstellungen von Frauenkörpern eingehämmert haben, nun: "Liebe deinen Körper!" Für die Arbeit daran, wie wir diese Selbstliebe plötzlich hinbekommen, steht die Ratgeberindustrie schon Gewehr bei Fuß. Meditieren, achtsam sein, richtig atmen. So oder so: Die Arbeit bleibt. Und nicht mehr nur am schlanken Körper, sondern gleich am ganzen Selbst. Und dieser Arbeit sind keine Grenzen gesetzt.

Den größten Einfluss auf die Popularisierung von Feminismus haben wohl – wie bei anderen Entwicklungen auch – die sogenannten Neuen Medien. Geschlechterdebatten haben durch soziale Medien einen noch nie dagewesenen Stellenwert gewonnen. Allerdings liegt das nicht an einem neuen Bewusstsein für die Notwendigkeit von Gleichberechtigung, so viel sei schon verraten.

In den Medien wird Gleichberechtigung lediglich zur Debatte gestellt. Maßnahmen gegen Diskriminierung werden zum Streitthema gemacht. Feminismus kommt medial häufiger vor, das stimmt. Er kommt aber in einem krawalligen Stil vor, dem von sozialen Medien noch zusätzlich eingeheizt wird. Und soziale Medien sind ohnehin ein heikles Feld für politische Inhalte.

Die dort herrschende Ökonomie der Aufmerksamkeit ringt uns immer wieder den Griff zu unlauteren Mitteln ab: Kategorische, kantige Aussagen bringen dort mehr als Abwägung und Annäherung – überlegen oder gar zögern geht nicht. Was uns das bringt? Sehr schlampig geführte politische Diskurse und kaum Erkenntnisgewinn.

Doch darum geht es Facebook, Twitter oder Instagram auch gar nicht. Es geht darum, dass wir maximal viel Zeit auf diesen Plattformen verbringen, damit sie uns maximal viel Werbung zeigen können. Wenn Feminismus nun vorwiegend auf diesen Plattformen stattfindet, wird auch der dortige politische Diskurs davon vereinnahmt. Auch im Kontext von Feminismus werden die strikten Regeln der Kommunikation, die uns diese Plattformen vorgeben, bereitwillig befolgt.

Selbstermächtigung
Beate Hausbichler, "Der verkaufte Feminismus. Wie aus einer politischen Bewegung ein profitables Label wurde". 22,– Euro / 224 Seiten. Residenz-Verlag 2021

Wir müssen uns auch jenen Netzwerken für Frauen widmen, die sich ebenfalls verstärkt unter dem Label Feminismus zusammenfinden. Netzwerke, die sich letztendlich aber nur den Karrieren der Einzelnen verschrieben haben. Netzwerke, in denen jeder Erfolg der Einzelnen als feministischer Erfolg gefeiert wird.

Es ist genau diese Art der Individualisierung, die sich durch alle Bereiche zieht, in denen Feminismus heute so erfolgreich verkauft wird. Es geht nicht um politische Ziele für möglichst viele, sondern um den Erfolg oder auch nur um das Zurandekommen der Einzelnen. In diesem Sinne werden Autonomie und Selbstermächtigung erfolgreich zu neoliberalen Praktiken umgemodelt.

Der britischen Amerikanistin Catherine Rottenberg zufolge ist Neoliberalismus nicht nur ein ökonomisches System, das Privatisierung und Deregulierung forciert. Wir haben es vielmehr mit einer alles durchdringenden neoliberalen Rationalität zu tun, die auch den Diskurs über Feminismus erreicht hat.

Eine Rationalität, die Menschen zu unternehmerischen, Profit generierenden Akteurinnen und Akteuren macht, eine Rationalität, die eine neue Form des Individualismus kreiert, den auch der populäre Feminismus anpreist. Auch er steht in einem erschreckenden Zusammenhang mit Leistung und der Optimierung des Selbst, des eigenen, und nur des eigenen Lebens.  


Nota. - Soll ich das etwa kommentieren? Ich sag mal so: Nicht verkauft und verraten, sondern nach einem halben Jahrhundert schließlich auf den Begriff gebracht.

JE

 

 

Sonntag, 21. Februar 2021

Frauenhass müsste strafbar sein.

É. Lévy, Orpheus wird von den Erinnyen zerrissen
aus Tagesspiegel.de, 21. 2. 2021

Gewalt gegen Frauen „Eifersuchtsdramen“? Es ist der Frauenhass! 
Noch wird nicht dokumentiert, wie viele Straftaten aus frauenfeindlichen Motiven begangen werden. Das muss sich ändern. Ein Kommentar. 
 
Oft wird nicht dokumentiert, welche Taten aus frauenfeindlichen Motiven begangen werden.

Für viele Frauen ist es Alltag. Sie ertragen unerwünschte Berührungen oder Sprüche, bekommen hasserfüllte Nachrichten zugeschickt, die sie als Menschen degradieren. Oder schlimmer: Sie werden vergewaltigt, körperlich bedroht oder psychisch fertiggemacht. Sie erfahren Hass und Gewalt, weil sie Frauen sind.

Diese Erfahrung machen auch Politikerinnen. Bei einer „Spiegel“-Befragung von 64 weiblichen Abgeordneten im Bundestag haben 69 Prozent angegeben, sie hätten „frauenfeindlichen Hass“ erlebt. Die Hälfte der Befragten musste schon einmal die Bundestagsverwaltung, die Polizei oder den Staatsschutz einschalten. Damit wird frauenfeindliche Gewalt endlich einmal sichtbar.

Meist bleibt sie unsichtbar. Denn frauenfeindliche Vorfälle oder Gewalt gegen Frauen tauchen in polizeilichen Statistiken zumeist unter der Rubrik „partnerschaftliche Gewalt“ oder unter „Onlinehass“ auf. Es wird also nicht eindeutig dokumentiert, welche und wie viele Taten aus frauenfeindlichen Motiven begangen werden. Und so kann auch die Politik das Problem ignorieren.

Das muss sich ändern. Frauenfeindlichkeit findet sich als Ideologie auch in Manifesten rechter Terroristen wieder. Frauen, die Rassismus erleben, sind noch häufiger Hass und Gewalt ausgesetzt. Diese Realität in Deutschland muss besser dokumentiert werden; die Verbindungen zwischen digitaler und analoger Gewalt müssen aufgezeigt werden.

Frauenfeindlichkeit als eigene Rubrik erfassen

Nun gibt es Bewegung. Eine parteiübergreifende Koalition von Politikerinnen fordert, dass Straftaten aus frauenfeindlichem Motiv als eigene Rubrik in der polizeilichen Kriminalstatistik erfasst werden. Den Stein ins Rollen hatte CSU-Digitalstaatsministerin Dorothee Bär gebracht, die SPD schloss sich an und auch die Frauen Union der CDU. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht hält es „für sinnvoll“. 

Sichtbar machen. Politikerinnen fordern die Aufnahme von Frauenfeindlichkeit in die polizeiliche Kriminalstatistik.

Der Haken: Zuständig wäre das CSU-geführte Bundesinnenministerium von Horst Seehofer. In seiner Zeit als Ministerpräsident hatte die CSU 2018 einen entsprechenden Antrag der Grünen für Bayern abgelehnt. Aber in anderen Fragen hat sich Seehofer ja lernfähig erwiesen.

Was durch ein Frauenhass-Register erreicht werden kann, zeigt sich in Frankreich. Seit 2017 gilt dort Sexismus sogar als strafverschärfendes Motiv. Die Schwelle zur Anzeige ist seither gesunken: 2019 gab es laut französischem Gleichstellungsbericht 46 Prozent mehr Beschwerden wegen sexueller Belästigung als im Vorjahr. Und die Statistik zeigt klar: 87 Prozent der Opfer sexistischer Straftaten waren Frauen, 91 Prozent der erfassten Täter Männer.

Riesiges Dunkelfeld verringern

Auch hierzulande könnte eine Erfassung das riesige Dunkelfeld der Sexualdelikte verkleinern: Bislang werden nur geschätzt zehn Prozent der Taten tatsächlich angezeigt. Wirkungsvoll wäre eine Dokumentation des Motivs „Frauenfeindlichkeit“ bei Straftaten, wenn sie dazu führt, spezifischere und bessere Hilfsangebote zu schaffen. Gerade in der Coronakrise wurde sichtbar, wie unterfinanziert Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen deutschlandweit sind.

Aber auch die Medien sind gefragt. Noch zu häufig verharmlosen sie dieses Motiv – etwa wenn Morde an Frauen als „Beziehungstaten“ oder „Eifersuchtsdramen“ bezeichnet werden. Auch das hält Frauen davon ab, Anzeige zu erstatten. Dabei hat Frauenhass – viel zu oft – sogar tödliche Folgen. Statistisch stirbt jeden dritten Tag eine Frau in Deutschland durch die Gewalt ihres Partners oder Ex-Partners.

Wir müssen diese Gewalt beim Namen nennen. Macho-Gehabe, Hasskommentare oder Taten, die aus Eifersucht passieren, basieren auf einem frauenfeindlichen Weltbild. Das müssen wir durch gezieltes Erfassen sichtbar machen, um es besser zu bekämpfen.

 

Nota. - Beste Schwester, ich bin groß, breitschultrig, blond und blauäugig. Du ahnst ja gar-nicht, wie nah man, nein: frau mir schon getreten ist! Zwar Gewalt war nicht dabei, ich bin ja groß und breitschultrig, und Mikrogewalt darf ich als Mann(*) wohl nicht zählen. Doch wann immer ich nicht dienen mochte, hats an männerfeindlichen Hasskommentaren nicht gefehlt. Ich wünschte, dass derlei gleichstellungshalber in einer (beim Bundesinnenministerium anzu-siedelnden?) Statistik erfasst wird. Mein Gott, was da alles sichtbar würde!

Brüderliche Grüße, JE.

Montag, 15. Februar 2021

Da könnte ja jeder schreiben, wie's ihm gefällt!


aus Tagesspiegel.de, 15. 2. 2021

Polemik! Protest! Polizei!  
Wenn KommunikationswissenschaftlerInnen zu viel gendern
Wissenschaftsfreiheit in den (Gender-)Sternen – eine Fallstudie im Fach der Kommunikationswissenschaft.
 
von Stephan Russ-Mohl

Gendersterne erhitzen nicht nur beim Tagesspiegel die Gemüter von Leserinnen und Lesern. Ausgerechnet die Fachzeitschrift „Publizistik“ und die eng mit ihr liierte Deutsche Gesell-schaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, also die Fachgesellschaft, in der sich Medienforscher organisieren, ist jetzt in eine handfeste Auseinandersetzung um die Gender-sternchen und das Binnen-I geraten. Der Stil, in dem der Konflikt ausgetragen wird, tangiert zugleich sehr viel höhere Güter, wie etwa die Presse-, die Meinungs- und die Wissenschafts-freiheit.

Den Anstoß lieferte der Kommunikationswissenschaftler Rudolf Stöber (Universität Bam-berg), der auch viele Jahre an der FU Berlin arbeitete. Sein Forumsbeitrag über „Genderstern und Binnen-I“, die er für Indizien „falscher Symbolpolitik in Zeiten zunehmenden Illibera-lismus“ hält, hat einen Proteststurm ausgelöst. Stöbers These: Der neue Sprachgebrauch sei „latent manipulativ, unausgewogen, latent ideologisch, polarisierend und zudem an falscher Stelle sprachsensibel“; er würde mögliche Nebenwirkungen nicht angemessen berücksichtigen. „Aus gut gemeinten Gründen“ werde „etwas schlecht Gemachtes“, das er in dem Moment, wo es durch universitäre oder behördliche Vorschriften erzwungen werden soll, in die Nähe von Orwells „Neusprech“ aus dem dystopischen Roman „1984“ rückt.

Einseitig, aber gründlich recherchiert

Stöbers Diskussionsbeitrag ist gewiss einseitig und zugespitzt – aber gründlich recherchiert und voller wissenswerter Details. Fachlich ist er fraglos fundierter als das meiste, was auch in hochwertigen Zeitungen zum Thema bisher zu lesen war. Die fünf Herausgeber, darunter auch drei Herausgeberinnen, hatten den Essay einstimmig abgesegnet. Stöbers Philippika ist so mit dem Gütesiegel kollegialer Prüfung versehen, auch wenn er keinen strengen „double blind peer review“ überstehen musste, dem nur die Hauptartikel der Zeitschrift unterzogen werden.

Statt darauf, wie von der Redaktion vorgesehen, mit einer klugen Replik zu reagieren, haben dann über 350 Mitglieder*Innen der Fachgesellschaft – das sind ein knappes Drittel aller Mitglieder – in einem „offenen Brief“ der Redaktion „Versagen“ vorgeworfen. Stöbers Vor-gehensweise sei „unwissenschaftlich, polemisierend und diffamierend“. Als Beleg werden Zitate aus dem Kontext gerissen. Kostprobe: Der Beitrag diskreditiere geschlechtergerechte Sprachformen als „Marotte zur Spaltung der Gesellschaft“ (S. 8) und erklärt, sie seien ein „Zeichen von Halbbildung“ (S. 3), oder „magisches Denken, das auf einem Irrtum beruht“ (S. 5) und aus Unkenntnis entstanden (S. 7). Er stellt Diskussion und Befürwortung der Verwen-dung von Gender-Star und Binnen-I in Kontexte von „Gedankenpolizei“ (S. 3). Stöber, so heißt es weiter, suche „nicht die Debatte, sondern verlässt die Ebene einer sachlichen Argu-mentation“ – ein Vorwurf, der sich bei genauerer Betrachtung vor allem gegen die Briefau-toren selbst richtet. Denn ihre Zitat-Collage verdichtet den Originaltext eben in einer Weise, welche Stöbers differenzierte Aussagen grob verfälscht.

Vorstand soll in die Autonomie der Redaktion eingreifen

Der Brief ist an den Vorstand der Fachgesellschaft gerichtet – offenbar in der Erwartung, dass dieser in die Autonomie der Redaktion eingreifen möge. Das hat nicht nur den Vorstand, die Redaktion und Stöber überrascht, sondern seinem Beitrag, der seit Dezember öffentlich zu-gänglich ist, inzwischen viel unerwartete Aufmerksamkeit beschert.

Stöber befürchtet indes auch einen einschüchternden Effekt der Aktion: Mails von Frauen und Männern „bestätigen den Genderstern-Druck“. Eine junge Kollegin habe ihm geschrieben, sie traue sich in der jetzigen Phase ihrer Karriere nicht, offen Stellung zu beziehen. Weitere, auch gestandene Kollegen schrieben Forschungsanträge nur noch mit einem Genderstern, um sie im Begutachtungsprozess nicht zu gefährden. Andere fürchteten, nicht mehr publizieren zu können, wenn sie nicht den Genderstern verwenden.

Der Zufall wollte es, dass sich zeitgleich das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ konstituierte, in dem sich über 70 Forscher zusammengeschlossen haben, um die Freiheit von Forschung und Lehre zu verteidigen – zunächst ohne einen einzigen Kommunikationswissenschaftler. Den „offenen Brief" nahmen dann allerdings einige Medienforscher zum Anlass, der Gruppierung beizutreten.

Protest der alten, weißen Männer

Zehn Emeriti protestierten zudem als „alte, weiße Männer“, darunter auch die Wiener Ordi-narien Georg Franck und Wolfgang R. Langenbucher, mit einer Mail, die sie im Schneeball-system verbreiteten, gegen den offenen Brief und stellten sich vor die Redaktion der Fachzeit-schrift. Fünf dieser Gruppe sind vormalige FU-Professoren, einer davon – so viel Transparenz muss sein – ist der Autor dieses Beitrags, der damit in die Rolle des teilnehmenden Beobach-ters oder wahlweise auch eines „Haltungs“-Journalisten schlüpft.

Die zehn Professoren sehen in dem „Offenen Brief“ den Versuch, die Redaktions- , Mei-nungs- und Wissenschaftsfreiheit des Faches „auf den Denkkorridor zu verengen, der den Ansichten der Briefverfasser entspricht“. Es gehe jetzt darum, „dass sich die Kommunika-tions- und Medienwissenschaften inhaltlich mit der Presse-, Meinungs- und Redefreiheit intensiv befassen“. Obwohl von vielen „geschätzten Kolleginnen und Kollegen unterzeich-net“, offenbare der offene Brief, „dass es derzeit eine Strömung gibt, die sich schwertut, diese Grundsätze auf sich selbst anzuwenden“.

K-Wissenschaft muss kommunizieren lernen

Die Autoren des offenen Briefes haben vermutlich genau das Gegenteil dessen erreicht, was sie erreichen wollten: Maximale Publizität für Stöbers Polemik – und auch die attackierte Redaktion der „Publizistik“ dürfte eher gestärkt worden sein.

Es ist nicht zuletzt eine Fallstudie, wie Konflikte eskalieren und die Betroffenen in zwei Lager spalten, wenn ungeschickt kommuniziert wird und wenn mit Druckmittel und Moralkeule der wissenschaftlichen Diskurs gefährdet wird, statt mit Argumenten den Streit auszufechten. Der tragikomische Aspekt der Geschichte ist, dass das ausgerechnet Kommunikationswissenschaft-lern passiert, die anderen kluges Kommunizieren beibringen sollen.

 

 


Freitag, 12. Februar 2021

Hormone verändern die Denkarbeit.


aus Die Presse, Wien, 6.02.2021

Hormone verändern die Denkarbeit

Monat für Monat steuern Hormone den Zyklus der Frau. Dass dabei bei manchen Frauen emotionale Schwankungen auftreten können, ist bekannt. Die Salzburger Neurobiologin Belinda Pletzer geht einen Schritt weiter. Sie untersucht, ob sich die Hormonveränderungen nicht nur auf Gefühle und Stimmung, sondern generell auf die Arbeit und Funktion des Gehirns auswirken. Ein Gebiet, zu dem es bisher noch vergleichsweise wenig Forschung gibt.

„Wir haben herausgefunden, dass einige Gehirnregionen in bestimmten Zyklusphasen in ihrer Struktur und Aktivität verändert sind“, erklärt Pletzer. Kurz vor dem Eisprung sei im Hippocampus mehr graue Masse und damit mehr Aktivität feststellbar. In ihren Studien hat Pletzer Frauen während der verschiedenen Zyklusphasen kognitive Aufgaben gestellt und dabei die Gehirnströme gemessen. Die Frauen – alle hatten einen natürlichen Zyklus und nahmen keine Pille – mussten etwa auf einem Plan von A nach B navigieren oder die Form von rotierenden Körpern beurteilen. Zudem ging es um verbale Aufgabenstellungen wie das Wiederholen von Begriffen.

Keine Leistungsunterschiede

Das Ergebnis: Die Frauen schnitten bei den Lösungen der gestellten Aufgaben in der Zyklusphase mit hohem Östrogenspiegel nicht besser oder schlechter ab als in einer mit niedrigerem Östrogenspiegel. Aber: Es gibt deutliche Unterschiede, welche Gehirnregionen in der jeweiligen Zyklusphase gerade besonders aktiv waren. „Eigentlich wird oft vermutet, dass Frauen in der Phase mit hohen weiblichen Hormonen besonders in jenen Aufgabenbereichen, die normalerweise als ,weiblich‘ gelten, gut sind. Das war aber nicht so, es gab keine Leistungsunterschiede über den Zyklus hinweg“, erläutert die Neurobiologin. 

Die gleichbleibenden Ergebnisse könnten auf Lerneffekte zurückzuführen sein, weil die Frauen bei ähnlichen Aufgaben durch die Wiederholungen trainieren, sagt Pletzer. Ruheaufnahmen des Gehirns deuten aber auf eine andere Erklärung hin. „Wir vermuten, dass das Gehirn sich sehr flexibel an die hormonellen Unterschiede anpasst.“ Es habe sich gezeigt, dass die Gehirnregionen in den einzelnen Zyklusphasen anders kommunizieren, die Information andere Wege nimmt und anders verarbeitet wird – auch wenn das Ergebnis schließlich gleichbleibt.

Wieso das so ist, kann Pletzer noch nicht sagen. Die Neurobiologin vermutet aber, dass auch die zyklusbedingten Stimmungsschwankungen auf unterschiedliche Verarbeitungswege im Gehirn zurückzuführen sein könnten.

Parallel arbeitet Pletzer, die Biologie, Psychologie, Philosophie und Mathematik abgeschlossen und ein Forschungsjahr in Kalifornien verbracht hat, an einem Projekt, das mit einem Starting Grant des Europäischen Forschungsrats dotiert wurde: Sie untersucht die Wirkung der künstlichen Hormone der Antibabypille auf das Gehirn. Dabei sollen Frauen vor, während und nach der Einnahme der Pille kognitive Aufgaben lösen, um erkennen zu lassen, ob es Gehirnregionen gibt, die auf die Einnahme ansprechen und ob dieser Einfluss nach dem Absetzen des Medikaments wieder verschwindet. Corona verzögert die Untersuchung: Schließlich muss Pletzer für die Studie 300 Probandinnen gewinnen. Wer teilnehmen will, kann sich auf Facebook (Arbeitsgruppe Hormon und Gehirn) oder Instagram (Hormon.und.gehirnlab) melden.

 

Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Samstag, 6. Februar 2021

Der Kampf ums Kindeswohl, die Wissenschaft und die Interessen von Frauen.

                                                                   zu Männlich aus FAZ.NET, 6. 2. 2021                                                                                                                              zu Levana, oder Erziehlehre
Kampf ums Kindeswohl 
Eine Studie soll klären, was nach einer Scheidung das Beste fürs Kind ist. Zahl-reiche Hinweise legen nahe, dass das Familienministerium die Forschung sabo-tiert.
 

Jedes Jahr entscheiden Richter über das Schicksal von 170.000 Kindern. Die Beamten müssen verbindlich festlegen, was nach der Trennung der Eltern das Beste für die Minderjährigen ist: Sollen sie vor allem bei einem Elternteil wohnen (Residenzmodell) oder künftig die eine Hälfte der Zeit beim Vater und die andere bei der Mutter leben (Wechselmodell)? Es geht um Lebensentscheidungen – und um sehr viel Geld.

Dem Bundesfamilienministerium zufolge kommt es in neun von zehn Fällen zur klassischen Rollenverteilung: Die Kinder bleiben bei der Mutter, der Vater zahlt Unterhalt. Die Frage ist, ob das so bleiben sollte. Würde das Wechselmodell zum neuen Ideal erhoben werden und ein Kind fortan genau 50 Prozent beim Vater leben, müsste dieser erheblich weniger Unterhalt fürs Kind an seine Exfrau zahlen. Vor allem für die Mütter im Land stehen viele Milliarden Euro im Feuer.

Für den Gesetzgeber und die Familienrichter sollte das aber nicht entscheidend sein. Zentrale Frage ist schon heute, was das Beste für das Kind ist. Ein paar internationale Studien dazu gibt es, mit Blick auf die deutschen Verhältnisse aber ist die empirische Forschungslage dünn. Diesen Missstand soll die 1,5 Millionen Euro teure Studie „Kindeswohl und Umgangsrecht“ beheben. Sie soll wissenschaftlich fundiert beantworten, was nach einer Scheidung im Regelfall gut fürs Kind ist.

Zumindest sollte sie das mal. Fakt ist: Die kostspielige Erhebung ist lange überfällig. Die Entscheidung, sie in Auftrag zu geben, fiel vor knapp sieben Jahren. Den Zuschlag erhielt die Forschungsgruppe Petra, die jahrzehntelange Erfahrung in der Kinder- und Familienhilfe hat, sowie Franz Petermann von der Universität Bremen. Koordiniert und praktisch umgesetzt wurde die Studie von Anfang an von Stefan Rücker, der die Forschungsgruppe Petra leitet.

Mindestens drei Jahre überfällig

Dem Ausschreibungstext zufolge sollte das Forschungsvorhaben Mitte 2015 beginnen und „spätestens Ende 2018 mit der Abgabe des Schlussberichts abgeschlossen sein“. Das hat nicht geklappt, der Termin wurde mehrmals verlegt. Derzeit versichert das Ministerium, die Studie „noch in dieser Legislaturperiode“ zu veröffentlichen. Falls es so kommt, hätte sie doppelt so lange gedauert und wäre drei Jahre überfällig.

Warum aber dauert es sechs Jahre (oder länger), um zu klären, welche Erfahrungen Kinder nach der Trennung ihrer Eltern gemacht haben? Das Familienministerium nennt dafür zwei Gründe. Im Jahr 2018 erkrankte Petermann schwer, am 1. August 2019 verstarb er. „In der Folge ist sein Institut an der Uni Bremen aufgelöst worden, so dass ohne weiteres auch kein Mitarbeiter von dort die Abschlussarbeiten mitübernehmen konnte“, so das Ministerium. Danach habe die Corona-Pandemie zu weiteren Verzögerungen geführt.

Auf den ersten Blick sind das triftige Gründe, die selbst drei Jahre Verzögerung erklären könnten. Nun aber wird es spannend: Auf Nachfrage der F.A.Z. erklärt Marc Serafin, Leiter des Jugendamts von Sankt Augustin und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Studie, dass die gewünschte Auswertung bereits am 30. April 2019 abgegeben wurde. „Die Studie liegt dem Ministerium mit allen Ergebnissen vor, das hat mir Studienleiter Rücker schon vor fast zwei Jahren versichert.“ Falls das stimmt, wären die Rechtfertigungen des Ministeriums vorgeschoben, denn die Ergebnisse hätten bereits drei Monate vor dem Tod Petermanns und acht Monate vor Beginn der Corona-Pandemie vorgelegen.

„Vorfassungen, die Verschwörungstheorien nähren“

Genau an diesem Punkt beginnt der Streit, denn das Familienministerium bestreitet energisch, ein publizierfähiges Werk erhalten zu haben. „Die Studiennehmer haben im April 2019 einzelne Entwurfsteile in einer Rohfassung übermittelt“, behauptet das Ministerium. Der Streit darüber, was da im April 2019 abgegeben wurde, beschäftigt mittlerweile sogar das Verwaltungsgericht Berlin. Die Rechtsanwälte des Ministeriums schreiben, „die ersten Entwurfsteile bzw. vorläufigen Fassungen bedürfen noch grundlegender Überarbeitung“. Und noch härter: Eine öffentliche Diskussion könne nur auf einer substantiierten Erkenntnisgrundlage geführt werden „und nicht auf einer Materialsammlung/nicht ausgewerteten Vorfassungen, die Verschwörungstheorien nähren und interessengeleitetem Missbrauch offenstehen. Die vorgelegten Unterlagen entsprechen noch keinen wissenschaftlichen und fachlichen Standards.“

Studienkoordinator Rücker selbst kann sich nicht dazu äußern, wie weit die Studie ist. Er darf sich laut Vertrag mit dem Ministerium nicht mal gegen den Vorwurf verteidigen, im April 2019 eine grottenschlechte Arbeit abgegeben zu haben. Allerdings versichert er: „Ich habe in meinem Leben in jedem Forschungsprojekt streng auf die wissenschaftlichen Gütekriterien geachtet. Wegen unserer hervorragenden Reputation werden wir seit Jahrzehnten von vielen Ministerien beauftragt.“

Glücklicherweise gibt es weitere Menschen, die mit der Studie vertraut sind. Johannes Münder beispielsweise. Der 77-jährige Jurist war 30 Jahre lang Universitätsprofessor und ist Träger des Bundesverdienstkreuzes. Außerdem sitzt er im wissenschaftlichen Beirat der Studie. Anders als das Familienministerium sagt der Professor, er habe „eine weit entwickelte Fassung der Studie gelesen“.

„Die wollen in diesem verseuchten Feld auf keine Mine treten“

Warum aber ist die Studie dann noch nicht erschienen? „Das Ministerium hat die Sorge, zwischen den Schützengräben der Väter- und der Mütterlobby zerrissen zu werden“, sagt Münder. „Die wollen in diesem verseuchten Feld auf keine Mine treten.“

Schärfer urteilt Hildegund Sünderhauf-Kravets von der Hochschule Nürnberg: „Die Arbeit ist mit Sicherheit gut, Dr. Rücker ist ein renommierter Wissenschaftler, der hat bestimmt keinen Mist abgeliefert.“ Die Professorin, die ebenfalls im wissenschaftlichen Beirat der Studie sitzt, klagt genau wie Jugendamtsleiter Serafin darüber, dass eben jener Beirat vom Ministerium „kaltgestellt wurde“. Die letzte Sitzung im April 2017 sei „streng durchchoreographiert“ gewesen. „Fragesteller und Antwortgeber waren vorher abgesprochen, und ich konnte nicht mehr zu Wort kommen“, klagt die Juristin. Danach, seit nunmehr vier Jahren, hat das Ministerium den Beirat nicht mehr einberufen. Und Serafin und Sünderhauf-Kravets versichern beide, auf ihre Nachfragen nie eine Antwort aus Berlin erhalten zu haben.

Beide glauben auch nicht, dass Studienkoordinator Rücker im April 2019 eine schlechte Arbeit abgegeben hat. „Der Leumund von Herrn Rücker ist tadellos. Die Konzeption der Studie war fundiert und alles lief seriös“, sagt Serafin. Für ihn steht fest: „Die Studie wird vom Ministerium hinausgeschleppt.“ Und er fragt sich, „ob man die Ergebnisse abschwächen möchte“. Auch Marcus Weinberg, einer der Initiatoren der Studie, familienpolitischer Sprecher der Union und Beiratsmitglied zweifelt: „Das Ministerium war nie mit dem eigentlich zu erwartenden Verve bei dieser Studie. Die Euphorie der zuständigen Arbeitsebene im Ministerium wirkte eher gebremst.“

Ungleich stärker bläst Professorin Sünderhauf-Kravets ins Horn. Falls die im April 2019 abgegebene Fassung wirklich so schlecht sei, wie das Ministerium behauptet, „dann zeigt die Arbeit doch den wissenschaftlichen Beiräten, die können das besser beurteilen als irgendwelche Abteilungsleiterinnen im Ministerium“. Für die Juristin ist klar: „Offensichtlich verhindert das Ministerium die Veröffentlichung und auch die Arbeit des Beirats.“ Warum aber sollte das Ministerium so etwas tun? Die Professorin antwortet: „Es gibt Ergebnisse, die dem stark feministisch geprägten Mitarbeiterinnenstab im Ministerium nicht gefallen.“

Dafür spricht auch ein vielsagender Eintrag im Jahresbericht 2019 der Forschungsgruppe Petra. Dort steht schwarz auf weiß: „Entgegen den Erwartungen musste weiterhin an der Studie Kindeswohl und Umgangsrecht gearbeitet werden, weil es Modifikationswünsche der Auftraggeberin (Bundesfamilienministerium) umzusetzen galt.“

Ob diese „Modifikationswünsche“ wissenschaftlich geboten oder politisch gewollt sind, ist nicht leicht zu prüfen, denn die Ergebnisse der Studie werden gehütet wie ein Staatsgeheimnis. Im Verlauf Dutzender Gespräche berichten mehrere Quellen jedoch übereinstimmend, dass Rücker herausgefunden habe, dass es für das Kindeswohl im Regelfall das Beste ist, wenn Mutter UND Vater dem Kind erhalten bleiben. Ist das dem Ministerium „zu väter-freundlich“, wie mancher behauptet? Die Behörde selbst weist das weit von sich. „Der Vorwurf entbehrt jeder Grundlage.“ Die Befragungen der Eltern und Kinder würden „nach wissenschaftlich neutralen Kriterien ausgewertet“.

„Die Haus- und Hofberichterstatterin des Ministeriums“

Doch ist dem wirklich so? Endgültig beantworten lässt sich die Frage nicht. Allerdings gibt es noch mehr Indizien. Anfangs war vereinbart, dass die Zustimmung eines Elternteils ausreicht, damit ein Kind an der Studie teilnehmen darf. Um sich rechtlich abzusichern, wurde extra eine Stellungsnahme des Bundesjustizministeriums eingeholt, die das bestätigte. Zur Überraschung des Beirats änderte das Familienministerium später trotzdem die Vorgaben: Obwohl viele Befragungen schon abgeschlossen waren, sollten plötzlich doch beide Elternteile dem Interview zustimmen müssen. Nach hitziger Diskussion forderte der Beirat das Ministerium formal auf, „zum ursprünglichen Verfahren zurückzukehren“.

Die Frage drängt sich auf, warum sich das Ministerium überhaupt derart ins Forschungsdesign einmischte und die Zustimmung beider Elternteile anordnete. Zwei Erklärungen sind dafür zu hören. Die wohlmeinende: Dem Familienministerium war die Stellungnahme des Justizministeriums zu unsicher. Es wollte ganz sicher gehen, dass die erhobenen Daten verwendet werden dürfen. Die böswillige Erklärung: In den Familien, in denen Vater und Mutter zerstritten sind, kommt die zweite Zustimmung nicht zustande. Dann bleiben nur Familien übrig, in denen es gut läuft. Der Status quo, das mütterfreundliche Residenzmodell, wäre womöglich von Vorneherein bestätigt.

Stutzig macht auch, wie es nach dem Tod von Professor Petermann weiterging: Ohne eine weitere Ausschreibung und ohne den wissenschaftlichen Beirat auch nur zu informieren, wurde Sabine Walper damit beauftragt, die Studiendaten erneut zu analysieren. Aus Sicht des Ministeriums ist die Pädagogin und Psychologin eine „Wissenschaftlerin, die über eine mit der von Dr. Petermann vergleichbare Expertise in diesem Bereich verfügt“.

Markus Witt vom Verein „Väteraufbruch für Kinder“ kritisiert hingegen, Walper sei „die Haus- und Hofberichterstatterin des Ministeriums“. Bereits in der Vergangenheit habe sie „wissenschaftliche Ergebnisse anderer Forscher einseitig interpretiert“. Walper selbst weist derartige Vorwürfe zurück: „Ich bin vollkommen offen gegenüber den Befunden, alles andere wäre keine Wissenschaft.“ Ferner versichert sie, das Ministerium übe keinen inhaltlichen Druck aus.

Alles nur Zufall?

Völlig unstrittig ist, dass Walper über jede Menge Erfahrung auf ihrem Forschungsgebiet verfügt. Ebenso unstrittig aber ist, dass sie stellvertretende Direktorin des Deutschen Jugendinstituts in München ist – und das erhält laut neustem Jahresbericht 72 Prozent seiner Einnahmen vom Bundesfamilienministerium. Aus geschäftlicher Sicht wäre es für sie ratsam, es sich mit dem größten Geldgeber nicht zu verscherzen.

Am Ende bleibt die Frage: Ist es Zufall, dass die Studie drei Jahre länger dauert, dass das Ministerium plötzlich auf der Zustimmung beider Elternteile bestand, dass ein renommierter Wissenschaftler angeblich eine grottenschlechte Arbeit abgibt, dass der Beirat vier Jahre lang nicht mehr tagen darf? Und dass unter allen denkbaren Instituten ausgerechnet jenes nachträglich beauftragt wird, das drei Viertel seiner Mittel vom Familienministerium erhält?

 

Nota. - Manch eineR zischelt was von mafiösen Strukturen. Doch glauben Sie mir, das ist maßlos übertrieben. Immerhin unterliegt unser Öffentlicher Dienst politischer Kontrolle. Da liegt in diesem Fall der Hund allerdings begraben.

JE

 

Montag, 1. Februar 2021

Nein, fundamental sind die Unterschiede im Gehirn nicht.

 

aus derStandard.at, 31. Jänner 2021

Erfolglose Suche nach Geschlechterunterschieden im Gehirn
Die Vorstellung, dass es grundlegende Geschlechterunterschiede im Gehirn gibt, habe die Forschung in die Irre geleitet, sagt die britische Neurowissenschafterin Gina Rippon

Frauen sind besser im Multitasking, Männern dagegen liegt das abstrakte Denken mehr: Vorstellungen davon, wie sich die Gehirne von Frauen und Männern unterscheiden, sind tief im kollektiven Bewusstsein verankert – aber sie sind falsch. Die britische Neurowissenschafte-rin Gina Rippon beschäftigt sich seit Jahren mit Studien zu Geschlechterunterschieden im Gehirn. Insbesondere stützt sie sich dabei auf moderne bildgebende Verfahren des zentralen Nervensystems, genannt Neuroimaging. In ihrem vielbeachteten Buch "The Gendered Brain" legte Rippon dar, dass es nach dem aktuellen Wissensstand keine fundamentalen Unterschiede zwischen den Gehirnen von Männern und jenen von Frauen gibt.

 

STANDARD: Mit den modernen bildgebenden Methoden hat die Hirnforschung heute viel effektivere Werkzeuge zur Hand als früher. Welche Einsichten hat Neuroimaging hinsichtlich möglicher Unterschiede zwischen den Gehirnen von Männern und Frauen ans Licht gebracht?

Rippon: Ich bin der Meinung, dass die Neuroimaging-Forschung des 21. Jahrhunderts immer noch dieselben Fehler macht, die auch schon Gehirnforscher im 19. Jahrhundert gemacht haben: Man fokussiert sich zu sehr auf Strukturen. Selbst im 21. Jahrhundert wissen wir nicht, was die Größe verschiedener Strukturen im Gehirn im Hinblick auf bestimmte Funktionen bewirkt. Bedeutet eine große Amygdala (Teil der Funktionseinheit des Gehirns, die für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist, Anm.), dass man emotionaler ist? Bedingt eine stärker vernetzte linke Gehirnhälfte, dass man sprachlich begabt ist? Wir wissen es nicht, und diese Fragen setzen einen unzulässigen Fokus.

STANDARD: Welche Fragen sollten Ihrer Meinung nach stattdessen gestellt werden?

Rippon: Ich würde sagen: Wir müssen auf die Sprache des Gehirns hören. Wir sollten uns ansehen, wie das Gehirn in jedem Individuum funktioniert, etwa wenn es darum geht, ein Problem zu lösen oder mit jemandem zu interagieren. Das ist natürlich sehr schwierig, weil diese Prozesse immer flüchtig sind. Aber wenn man das im Laufe der Zeit verfolgt, bekommt man einen Eindruck, wie ein bestimmtes Gehirn zum Beispiel ein Problem löst. Ausgehend davon kann man sich ansehen, ob es dabei Unterschiede zwischen den Individuen gibt. Dennoch sind immer noch viele Forscher bestrebt, Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen zu finden: Jeden Monat erscheinen hunderte Publikationen zu Unterschieden im Gehirn zwischen den Geschlechtern, zwischen Menschen, die ein- oder zweisprachig aufgewachsen sind, oder zwischen wem auch immer.

 

 

STANDARD: Warum glauben so viele Menschen, dass es Geschlechterunterschiede im Gehirn gibt, obwohl die wissenschaftliche Evidenz dafür, wie Sie in Ihrem Buch "The Gendered Brain" gezeigt haben, sehr dürftig ist?

Rippon: Das hat damit zu tun, dass Geschlechterunterschiede jeden betreffen. Es geht dabei nicht um eine abstrakte Theorie, wie Schwarze Löcher oder die Stringtheorie. Jeder von uns zählt sich zu einem Geschlecht, und jeder von uns hat ein Gehirn. Es ist eine angenehme Form der Gewissheit, zu wissen, dass Männer so sind und Frauen anders, und das aufgrund ihrer Gehirne. Es ist ein Bestätigungsfehler: Menschen nehmen die Informationen auf, die sie in ihrem Glauben bestärken. Es ist daher sehr schwierig, an diesen vermeintlichen Gewiss-heiten zu rütteln, zumal wir in einer Welt mit ohnehin schon vielen Ungewissheiten leben.

STANDARD: Auch Sie selbst waren einst überzeugt davon, dass es fundamentale Geschlechterunterschiede im Gehirn gibt. Wie kam es, dass Sie Ihre Ansicht schließlich geändert haben?

Rippon: Als Neuroimaging aufkam, dachte man, dass man damit viele Probleme lösen können wird. Es gab die Vorstellung, dass man Kriminelle aufspüren oder herausfinden kann, wer welche Partei wählt, wenn man sich das Gehirn ansieht. Als ich in die Neurowissenschaften kam, war ich davon überzeugt, dass es Unterschiede zwischen der linken und der rechten Gehirnhälfte gibt und dass das in Verbindungen mit Unterschieden zwischen Männern und Frauen steht. Ich führte verschiedene Studien dazu durch, konnte aber nichts finden. Zunächst dachte ich, dass ich grundlegende Fehler machte. Doch zur selben Zeit stellte sich heraus, dass falsche Ansprüche an Neuroimaging gestellt werden: Man kann damit keine Kriminellen her-ausfiltern. Ich und einige andere sahen uns die Evidenzen zu den Geschlechterunterschieden an, und da zeigte sich, dass diese ziemlich schwach sind: Es gibt in den Gehirnstrukturen kei-nen großen Unterschied zwischen Männern und Frauen.

STANDARD: Könnten künftige Forschungen zu einem anderen Ergebnis kommen?

Rippon: Ich bin mir sicher, dass, wenn wir erst einmal bessere Technologien haben, die uns erlauben, das Gehirn im Detail anzusehen, wir auch in der Lage sein werden, kleine Unter-schiede zu finden. Ich bin aber überzeugt, dass das Geschlecht nur ein Aspekt von vielen ist, die unser Gehirn beeinflussen, jedoch nicht der bestimmende Faktor. 

 

Nota. - Mir Verlaub: Fundamental sind die Unterschiede selbst bei den Fortpflanzungsorganen nicht - die sind in Gegenteil genau auf einander abgestimmt. Vielleicht polar, wenn man so will, nämlich im Hinblick auf die gemeinsame Aufgabe, aber nicht durchgehend binär. Der Zellenaufbau - das Fundament - ist im Prinzip derselbe. Dieselbe ist aber auch - am andern Ende - die Funktion im Gesamtorganismus.

Das ist ein Spiel mit Worten: Machen tausend kleine Unterschiede einen großen Unterschied, oder erst tausendundeiner? Das ist das philosophische Unproblem, das in der Geschichte unter dem Namen Sorites bekannt war, auch genannt das Problem der "vagen Begriffe". Eil-fertige würden sagen, das seien unbestimmte und ergo keine Begriffe. Oft stimmt das, nicht aber bei sogenannten Wechselbegriffen; die sind sehr wohl bestimmt, aber durch einander. Sie können nur miteinander im Diskurs verwendet werden, nicht aber gegeneinander im apodik-tischen Satz ("So ist es"). Vorausgesetzt ist nämlich, dass das Problem festgestellt ist, von dem der Diskurs redet. 

Wenn Männlich und Weiblich durch einander bestimmt sind, nämlich durch Entgegensetzung, dann wird die empirische Forschung, wenn sie bei diesem Gegensatz anfängt, an keiner Stelle der Biologie den Punkt ausfindig machen können, wo der Gegensatz zuerst auftritt. Man wird ihn von einem Pol zum andern und rückwärts auf der Spur bleiben können, ohne je andere Unterschiede zu finden, als solche, die "lediglich quantitativ" sind. Es ist eine umgekehrte Pe-titio principii.

Man muss sie ihrerseits umkehren. Man analysiert das empirische Material, nämlich die Phy-siologie der Fortpflanzungsorgane. Ab einem bestimmten Punkt wird man einen spezifischen Unterschied feststellen, den man einstweilen den geschlechtlichen nennt, und der ab da immer größer wird. Ganz am Ende wird der eine immer noch sagen "Ist der aber groß!", und der andere sagt "Der ist ja kleiner als ich dachte."

Und bis zum Schluss haben wir es noch immer lediglich mit dem Sexus zu tun gehabt. Und die vereinigte Zeitgenossinnenschaft schreit auf: "Aber wo bleibt der* die* das* Gender?"

Zurück auf Anfang.

JE