Montag, 1. Februar 2021

Nein, fundamental sind die Unterschiede im Gehirn nicht.

 

aus derStandard.at, 31. Jänner 2021

Erfolglose Suche nach Geschlechterunterschieden im Gehirn
Die Vorstellung, dass es grundlegende Geschlechterunterschiede im Gehirn gibt, habe die Forschung in die Irre geleitet, sagt die britische Neurowissenschafterin Gina Rippon

Frauen sind besser im Multitasking, Männern dagegen liegt das abstrakte Denken mehr: Vorstellungen davon, wie sich die Gehirne von Frauen und Männern unterscheiden, sind tief im kollektiven Bewusstsein verankert – aber sie sind falsch. Die britische Neurowissenschafte-rin Gina Rippon beschäftigt sich seit Jahren mit Studien zu Geschlechterunterschieden im Gehirn. Insbesondere stützt sie sich dabei auf moderne bildgebende Verfahren des zentralen Nervensystems, genannt Neuroimaging. In ihrem vielbeachteten Buch "The Gendered Brain" legte Rippon dar, dass es nach dem aktuellen Wissensstand keine fundamentalen Unterschiede zwischen den Gehirnen von Männern und jenen von Frauen gibt.

 

STANDARD: Mit den modernen bildgebenden Methoden hat die Hirnforschung heute viel effektivere Werkzeuge zur Hand als früher. Welche Einsichten hat Neuroimaging hinsichtlich möglicher Unterschiede zwischen den Gehirnen von Männern und Frauen ans Licht gebracht?

Rippon: Ich bin der Meinung, dass die Neuroimaging-Forschung des 21. Jahrhunderts immer noch dieselben Fehler macht, die auch schon Gehirnforscher im 19. Jahrhundert gemacht haben: Man fokussiert sich zu sehr auf Strukturen. Selbst im 21. Jahrhundert wissen wir nicht, was die Größe verschiedener Strukturen im Gehirn im Hinblick auf bestimmte Funktionen bewirkt. Bedeutet eine große Amygdala (Teil der Funktionseinheit des Gehirns, die für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist, Anm.), dass man emotionaler ist? Bedingt eine stärker vernetzte linke Gehirnhälfte, dass man sprachlich begabt ist? Wir wissen es nicht, und diese Fragen setzen einen unzulässigen Fokus.

STANDARD: Welche Fragen sollten Ihrer Meinung nach stattdessen gestellt werden?

Rippon: Ich würde sagen: Wir müssen auf die Sprache des Gehirns hören. Wir sollten uns ansehen, wie das Gehirn in jedem Individuum funktioniert, etwa wenn es darum geht, ein Problem zu lösen oder mit jemandem zu interagieren. Das ist natürlich sehr schwierig, weil diese Prozesse immer flüchtig sind. Aber wenn man das im Laufe der Zeit verfolgt, bekommt man einen Eindruck, wie ein bestimmtes Gehirn zum Beispiel ein Problem löst. Ausgehend davon kann man sich ansehen, ob es dabei Unterschiede zwischen den Individuen gibt. Dennoch sind immer noch viele Forscher bestrebt, Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen zu finden: Jeden Monat erscheinen hunderte Publikationen zu Unterschieden im Gehirn zwischen den Geschlechtern, zwischen Menschen, die ein- oder zweisprachig aufgewachsen sind, oder zwischen wem auch immer.

 

 

STANDARD: Warum glauben so viele Menschen, dass es Geschlechterunterschiede im Gehirn gibt, obwohl die wissenschaftliche Evidenz dafür, wie Sie in Ihrem Buch "The Gendered Brain" gezeigt haben, sehr dürftig ist?

Rippon: Das hat damit zu tun, dass Geschlechterunterschiede jeden betreffen. Es geht dabei nicht um eine abstrakte Theorie, wie Schwarze Löcher oder die Stringtheorie. Jeder von uns zählt sich zu einem Geschlecht, und jeder von uns hat ein Gehirn. Es ist eine angenehme Form der Gewissheit, zu wissen, dass Männer so sind und Frauen anders, und das aufgrund ihrer Gehirne. Es ist ein Bestätigungsfehler: Menschen nehmen die Informationen auf, die sie in ihrem Glauben bestärken. Es ist daher sehr schwierig, an diesen vermeintlichen Gewiss-heiten zu rütteln, zumal wir in einer Welt mit ohnehin schon vielen Ungewissheiten leben.

STANDARD: Auch Sie selbst waren einst überzeugt davon, dass es fundamentale Geschlechterunterschiede im Gehirn gibt. Wie kam es, dass Sie Ihre Ansicht schließlich geändert haben?

Rippon: Als Neuroimaging aufkam, dachte man, dass man damit viele Probleme lösen können wird. Es gab die Vorstellung, dass man Kriminelle aufspüren oder herausfinden kann, wer welche Partei wählt, wenn man sich das Gehirn ansieht. Als ich in die Neurowissenschaften kam, war ich davon überzeugt, dass es Unterschiede zwischen der linken und der rechten Gehirnhälfte gibt und dass das in Verbindungen mit Unterschieden zwischen Männern und Frauen steht. Ich führte verschiedene Studien dazu durch, konnte aber nichts finden. Zunächst dachte ich, dass ich grundlegende Fehler machte. Doch zur selben Zeit stellte sich heraus, dass falsche Ansprüche an Neuroimaging gestellt werden: Man kann damit keine Kriminellen her-ausfiltern. Ich und einige andere sahen uns die Evidenzen zu den Geschlechterunterschieden an, und da zeigte sich, dass diese ziemlich schwach sind: Es gibt in den Gehirnstrukturen kei-nen großen Unterschied zwischen Männern und Frauen.

STANDARD: Könnten künftige Forschungen zu einem anderen Ergebnis kommen?

Rippon: Ich bin mir sicher, dass, wenn wir erst einmal bessere Technologien haben, die uns erlauben, das Gehirn im Detail anzusehen, wir auch in der Lage sein werden, kleine Unter-schiede zu finden. Ich bin aber überzeugt, dass das Geschlecht nur ein Aspekt von vielen ist, die unser Gehirn beeinflussen, jedoch nicht der bestimmende Faktor. 

 

Nota. - Mir Verlaub: Fundamental sind die Unterschiede selbst bei den Fortpflanzungsorganen nicht - die sind in Gegenteil genau auf einander abgestimmt. Vielleicht polar, wenn man so will, nämlich im Hinblick auf die gemeinsame Aufgabe, aber nicht durchgehend binär. Der Zellenaufbau - das Fundament - ist im Prinzip derselbe. Dieselbe ist aber auch - am andern Ende - die Funktion im Gesamtorganismus.

Das ist ein Spiel mit Worten: Machen tausend kleine Unterschiede einen großen Unterschied, oder erst tausendundeiner? Das ist das philosophische Unproblem, das in der Geschichte unter dem Namen Sorites bekannt war, auch genannt das Problem der "vagen Begriffe". Eil-fertige würden sagen, das seien unbestimmte und ergo keine Begriffe. Oft stimmt das, nicht aber bei sogenannten Wechselbegriffen; die sind sehr wohl bestimmt, aber durch einander. Sie können nur miteinander im Diskurs verwendet werden, nicht aber gegeneinander im apodik-tischen Satz ("So ist es"). Vorausgesetzt ist nämlich, dass das Problem festgestellt ist, von dem der Diskurs redet. 

Wenn Männlich und Weiblich durch einander bestimmt sind, nämlich durch Entgegensetzung, dann wird die empirische Forschung, wenn sie bei diesem Gegensatz anfängt, an keiner Stelle der Biologie den Punkt ausfindig machen können, wo der Gegensatz zuerst auftritt. Man wird ihn von einem Pol zum andern und rückwärts auf der Spur bleiben können, ohne je andere Unterschiede zu finden, als solche, die "lediglich quantitativ" sind. Es ist eine umgekehrte Pe-titio principii.

Man muss sie ihrerseits umkehren. Man analysiert das empirische Material, nämlich die Phy-siologie der Fortpflanzungsorgane. Ab einem bestimmten Punkt wird man einen spezifischen Unterschied feststellen, den man einstweilen den geschlechtlichen nennt, und der ab da immer größer wird. Ganz am Ende wird der eine immer noch sagen "Ist der aber groß!", und der andere sagt "Der ist ja kleiner als ich dachte."

Und bis zum Schluss haben wir es noch immer lediglich mit dem Sexus zu tun gehabt. Und die vereinigte Zeitgenossinnenschaft schreit auf: "Aber wo bleibt der* die* das* Gender?"

Zurück auf Anfang.

JE

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