aus spektrum.de, 14. 6. 2019
Im Westen kein Sperma
Seit
den 1970er Jahren hat die Spermienanzahl von Männern aus westlichen
Industrienationen um mehr als die Hälfte abgenommen. Was ist die Ursache
dafür? Und stimmen die Zahlen überhaupt? Es ist kompliziert.
von Janosch Deeg
Sperma-Krise wurde im Sommer 2017 ausgerufen: Wissenschaftler von der
Hebräischen Universität Jerusalem hatten in der bis dahin
umfangreichsten Analyse zu diesem Thema bestätigt, wofür es bereits
einige Zeit Indizien gab: Die Männer der Industrienationen produzieren
immer weniger Spermien – im Vergleich zu vor 40 Jahren nur noch halb so
viele. Und der Rückgang sei über die Jahre relativ konstant gewesen,
berichtete das Forscherteam in seiner Publikation, die im Juli 2017 in der Fachzeitschrift »Human Reproduction Update« erschien.
Ergebnisse, die Besorgnis erregend klingen und wohl für Aufsehen
sorgten – mutmaßlich nicht wegen der angeblich traditionell
nachrichtenarmen Sommermonate.
Bereits vorher hatten etliche andere
wissenschaftliche Untersuchungen diesen Trend erkannt, aber entweder
waren die dabei analysierten Datenmengen zu gering oder die Methoden
wiesen gravierende Mängel auf. Bezüglich der Studie aus Israel ließ sich
diese Kritik nicht mehr aufrechterhalten: Akribisch hatten die
beteiligten Wissenschaftler nach allen bis zu diesem Zeitpunkt
durchgeführten wissenschaftlichen Sperma-Studien gefahndet. Insgesamt
rund 7500 hatten sie gefunden.
Der Großteil der Arbeiten war
jedoch nicht geeignet, um sie in die Metaanalyse einzuschließen. Bei
ihnen hatte nämlich eine Vorauswahl der Teilnehmer stattgefunden: Sie
litten zum Beispiel an bestimmten Krankheiten oder nahmen Medikamente
ein, waren Raucher oder klagten ohnehin über Fruchtbarkeitsprobleme.
Solche Selektionen verfälschen das Ergebnis. Daher hatten die Forscher
nur diejenigen Studien herausgepickt, bei denen die Probanden nicht auf
Grund bestimmter Kriterien teilgenommen hatten. Dazu zählen etwa
Spermauntersuchungen von Militärdienstleistenden oder College-Studenten.
Im Westen kein Sperma
Am
Ende waren 185 Arbeiten übrig geblieben. Das reicht aus, um statistisch
signifikante Ergebnisse zu erhalten – und die haben es in sich: In den
westlichen Industrienationen ist die Spermienkonzentration im
untersuchten Zeitraum von 1973 bis 2011 um 52 Prozent zurückgegangen und
die Spermienanzahl pro Samenerguss sogar um nahezu 60 Prozent, so die
alarmierenden Befunde der Studie. Ein weiteres überraschendes Detail: In
der restlichen Welt, etwa Südamerika, Asien oder Afrika, gibt es diesen
Trend nicht.
Über
die Ursachen des Spermienrückgangs machten die beteiligten
Wissenschaftler in der Publikation keine Aussage. Sie plädieren
lediglich dafür, die Gründe und Auswirkungen dieses Rückgangs dringend
zu erforschen.
Als Reaktion auf die Studienergebnisse meldeten
sich etliche Experten zu Wort und mahnten zur Besonnenheit. Sabine
Kliesch, Chefärztin für Klinische und Operative Andrologie am Centrum
für Reproduktionsmedizin und Andrologie des Universitätsklinikums
Münster, äußerte in einem Statement gegenüber dem Science Media Center
etwa, man solle die Daten nicht überbewerten: »Es besteht meines
Erachtens kein Grund, beunruhigt zu sein! Die gezeigten Veränderungen
befinden sich alle in einem hoch-normalen Bereich (…).«
Unfruchtbarkeit lässt sich daraus nicht ableiten
Der
Zellbiologe Artur Mayerhofer, Professor am Biomedizinischem Centrum der
Ludwig-Maximilians-Universität München, gab gegenüber dem Science Media
Center zu bedenken, dass weder die Spermienfunktionalität wie
Beweglichkeit noch morphologische Veränderungen in der Analyse
berücksichtigt worden seien. Bezüglich der Fruchtbarkeit sind das aber
entscheidende Parameter. Daher lasse sich aus den Daten nicht ableiten,
ob Männer tatsächlich unfruchtbarer geworden sind, meint Mayerhofer.
Auch
für Stefan Schlatt, Direktor des Zentrums für Reproduktionsmedizin und
Andrologie am Universitätsklinikum Münster, bestand auf Grund der
Ergebnisse kein Grund zur Panik. »Der Mann stirbt nicht aus.« Die Männer
in den westlichen Industrienationen hätten im Schnitt immer noch rund
47 Millionen Spermien je Milliliter Ejakulat. »Das ist eine stolze Zahl;
damit ist der Mann sehr fertil«, äußerte sich der Biologe damals. Die
Weltgesundheitsorganisation WHO gibt als Grenze 15 Millionen Spermien
pro Milliliter an. Alles darunter gilt als niedrig und kann mit
Problemen bei der Fortpflanzung einhergehen.
Erneute
Nachfrage bei Schlatt, zwei Jahre später. Ist der Rückgang denn
wirklich nicht bedenklich? Auch weiterhin sieht der
Reproduktionsmediziner die Fruchtbarkeit des Mannes nicht in Gefahr. Die
Abnahme der Spermienanzahl hält er jedoch für eine Tatsache – auch wenn
nicht alle systematischen Fehler beseitigt wurden: »Die heute
angewendeten standardisierten Verfahren haben sich erst über die
Jahrzehnte entwickelt – und selbst heute hat man teilweise noch
Schwierigkeiten, Messungen aus unterschiedlichen Laboren miteinander zu
vergleichen.«
Besonders die Referenzdaten aus den 1970er Jahren
stünden auf sehr wackligen Füßen. Gleichwohl könnten diese Mängel in den
Messungen nicht den beobachteten Rückgang erklären. »Die Anzahl der
Spermien bei Männern in den westlichen Ländern sinkt tatsächlich – und
dafür muss es Ursachen geben«, sagt Schlatt. Aber welche, das wisse man
noch nicht.
Der Reproduktionsexperte vermutet, dass etliche
Faktoren eine Rolle spielen könnten. In diesem Zusammenhang verweist er
auf die Funktionsweise des Hodens. Der Mensch habe die Fähigkeit, die
Spermienanzahl zu modulieren – und zwar mittels zweier Hirnareale, des
Hypothalamus und der Hypophyse. »Hier wird gewissermaßen abgefragt, wie
viele Spermien produziert werden sollen.« Die Antwort hängt von
verschiedenen Parametern ab. Bei Krankheit, Stress oder Übergewicht
produzieren die Hoden zum Beispiel deutlich weniger oder sogar fast
keine Spermien. Etliche Faktoren können also die Menge der Spermien
verringern.
Ein Konglomerat aus Einflüssen
Zudem hänge die
Spermienanzahl stark davon ab, wie oft ein Mann ejakuliere, so Schlatt.
Etwa sieben Tage dauert es, bis der Nebenhoden, das Speicherorgan, in
dem die Spermien auf ihren Einsatz warten, komplett gefüllt ist. Männer,
die diesen Speicher aber täglich entleeren, haben viel weniger Spermien
im Ejakulat als solche, die dies nur einmal pro eine Woche tun. »Jetzt
nehmen wir mal an, dass wir in den westlichen Industrienationen häufiger
ejakulieren als noch vor 40 Jahren.«
Gründe
dafür ließen sich wohl finden, etwa: geringerer Einfluss der Kirche,
mehr Pornografie, größere sexuelle Freiheit. Das Resultat: »Die
Portionen werden kleiner – aber nicht so klein, dass sie in einen
abnormalen Bereich rutschen«, so Schlatt. Unsere heutige Spermienanzahl
entspreche einfach derjenigen eines regelmäßig ejakulierenden Mannes,
spekuliert der Forscher. Das wäre eine ziemlich banale Erklärung für die
»Spermakrise«.
Beunruhigender wäre es hingegen, wenn die zunehmenden Fälle
von Hodenkrebs beim Rückgang der Spermien eine Rolle spielen würden.
Bislang gibt es zwar noch keine Hinweise darauf – denkbar wäre aber auch
das, so Schlatt. Den Ursprung für steigende Zahlen an Hodenkrebs
vermuten Experten in der Entwicklungsphase des Hodens im Embryo.
»Offenbar passiert irgendetwas in der Frühschwangerschaft, was die
Hodenaktivität und die so genannte Keimzelldifferenzierung beeinflusst.«
Das kann dann zu Krebs im Erwachsenenalter führen – und vielleicht auch
zu einer verringerten Spermienproduktion.
Hodengröße beeinflusst Spermienanzahl
Wie
schwierig es allerdings ist, den Rückgang der Spermien richtig
einzuordnen, wird deutlich, wenn man die Variabilität der Spermienanzahl
bei unterschiedlichen Gruppen von Männern analysiert: Je größer die
Hoden, desto mehr Sperma produzieren diese. Und die Größe variiert
offenbar signifikant zwischen verschiedenen Völkern: Schweden hätten
beispielsweise ziemlich große Hoden, Finnen und Dänen eher kleine,
erzählt Schlatt.
In den USA gibt es je nach Region signifikante
Unterschiede, was daran liegt, dass dort jeweils andere Völker
eingewandert sind. Das bedeutet: Die durchschnittliche Anzahl an
Spermien hängt auschlaggebend davon ab, wo man die Daten erhebt. Gut
konzipierte Studien können diesen Einfluss eliminieren, jedoch sind
derartige Untersuchungen bislang Mangelware. Erschwerend kommt hinzu,
dass diese Variable nur eine unter vielen ist, die es zu kontrollieren
gilt. Schlatt glaubt daher: »Es ist fast unmöglich, Studien zu
entwerfen, die alle Faktoren berücksichtigen.«
Über eine weitere
mögliche Ursache der abnehmenden Spermienmenge spekulierte die an der
israelischen Studie beteiligte Wissenschaftlerin Shanna H. Swan in einer
Pressemitteilung aus dem Jahr 2017: Die Tatsache, dass man den Rückgang
nur in der westlichen Welt beobachte, deute stark darauf hin, dass kommerziell eingesetzte Chemikalien eine kausale Rolle spielen könnten.
Weichmacher schaden den Spermien*
Eine
Kausalität zwischen dem Einsatz bestimmter Chemikalien und dem Rückgang
sei sehr schwierig nachzuweisen und erfordere weitere, breit angelegte
Forschungsanstrengungen, erklärte Sabine Kliesch gegenüber dem Science
Media Center. Und auch Schlatt vertritt eine ähnliche Meinung: »Es gibt
keine Evidenz dafür, dass es irgendwelche bestimmten Chemikalien sind.«
Unbestritten sei jedoch, dass bestimmte Stoffe, so genannte endokrine
Disruptoren, negative Auswirkungen auf die Spermienqualität haben. Wenn
solche Stoffe in den Körper gelangen, können sie bereits in geringsten
Mengen durch Veränderung des Hormonsystems die Gesundheit schädigen. Sie
werden daher auch als Umwelthormone bezeichnet.
Dass solche Stoffe einen negativen Einfluss auf die
Fruchtbarkeit haben, ist bereits in etlichen Untersuchungen gezeigt
worden. Relativ aktuelle Beweise lieferte etwa das Forscherteam um
Richard G. Lea, Professor für Reproduktionsbiologie an der University of
Nottingham: Es hatte herausgefunden, dass
die Spermienqualität auch bei Hunden, die als Haustiere gehalten
wurden, über die letzten drei Jahrzehnte hinweg deutlich nachgelassen
hat. Die Forscher schließen daraus, dass Stoffe in der direkten
Umgebung der Tiere und deren Herrchen die Spermien schädigen. In einer
Publikation, die im Frühjahr 2019 im Fachblatt »Nature« erschien,
stellten die Wissenschaftler dann den Einfluss zweier Chemikalien, DEHP und PCB153, auf die Spermienqualität von Hunden und Menschen vor.
DEHP ist einer der prominentesten Weichmacher in Plastikprodukten, der
in die Nahrung übergehen kann. PCB153 ist in bestimmten fettigen
Lebensmitteln enthalten. Bereits in niedrigen Konzentrationen, so die
Wissenschaftler, beeinflussen die Stoffe die Spermienqualität von Mensch
und Hund negativ. Dass DEHP die Fruchtbarkeit verringert, ist
allerdings schon lange klar. Daher ist in vielen Ländern die Verwendung
dieses Weichmachers bereits massiv eingeschränkt worden. Innerhalb der
EU darf die Industrie DEHP beispielsweise bereits seit Anfang 2015 nicht
mehr ohne spezielle Zulassung verwenden.
Nur der Westen betroffen?
Schlatt
glaubt jedoch nicht daran, dass lediglich einzelne Stoffe den
Spermienrückgang zu verantworten haben. Dann müsste auch in vielen
nichtwestlichen Ländern ein ähnlicher Rückgang zu verzeichnen sein. Denn
er ist der Meinung, dass in manchen Teilen der Erde die Menschen
solchen Schadstoffen noch mehr ausgesetzt sind als in der
westlichen Welt.
Allerdings gibt es begründete Zweifel daran,
dass der Rückgang tatsächlich nur in den westlichen Industrienationen zu
beobachten ist: »In Asien und Afrika finden kaum Studien statt. Die
allermeisten Daten haben wir aus Europa und den USA.« Sinnvolle
Vergleiche gelingen jedoch nur, wenn in allen Teilen der Erde über
mehrere Jahre standardisierte Daten erhoben werden. Gleichwohl gibt es
solche Arbeiten nicht. Die Weltgesundheitsorganisation WHO plant, dies
in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu ändern. Erst dann wird sich
zeigen, ob die Spermienanzahl tatsächlich nur in der westlichen Welt
rückläufig ist.
Die Frage, was mit unserem Sperma los ist, kann
also bislang nicht zufrieden stellend beantwortet werden. Dazu sind erst
umfangreichere und global erhobene standardisierte Daten nötig. Auf
dieser Basis kann dann eine gezielte Suche nach Ursachen stattfinden.
Bevor es so weit ist, rät Schlatt den Männern – ganz unabhängig von
einer angeblichen »Spermakrise«–, ihre Lebensgewohnheiten zu
überdenken: Mäßig Sport treiben, nicht rauchen und wenig Alkohol trinken
wirke sich zum Beispiel sehr positiv auf die Spermienqualität und somit
die Fruchtbarkeit des Mannes aus.
*)Nota. - Weichmacher schaden der Mämmlichkeit in jeder Hinsicht.
JE
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