Munch, Melancholie
aus welt.de, 14. 12. 2018
„Depressionen werden bei Männern systematisch unterdiagnostiziert“
Von Tanja Koch
Manche Stereotypen halten sich hartnäckig: Demnach neigen insbesondere
Frauen zu Depressionen. Ein Irrglaube – dies zeigt auch die dreimal
höhere Suizidrate bei Männern. Es gibt einen Grund, warum sie durch das
Diagnoseraster fallen.
Mark
Hogencamp liegt schreiend auf dem Boden. „Wir müssen in Deckung gehen,
wir müssen in Deckung gehen!“, ruft er panisch. Sein Gesicht ist vor
Angst verzerrt, die Augen sind zugekniffen. Hogencamp leidet an Angstattacken.
Er bildet sich ein, animierte Barbiepuppen zu sehen. Sie prügeln auf
ihn ein, sehen aus wie Nazis. Fünf weitere Barbiepuppen erscheinen,
weiblich und auf Stöckelschuhen. Mit Maschinengewehren erschießen sie
die Angreifer, retten Hogencamp.
Die Szenen stammen aus dem
Trailer zum Film „Willkommen in Marwen“, der Anfang 2019 ins Kino kommt.
Steve Carell spielt die Hauptrolle, die Geschichte des Films ist wahr.
Nach einem Barbesuch im April 2000 wird der Maler Mark Hogencamp
verprügelt und erkrankt an einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Als seine Versicherung die nötige Therapie nicht mehr bezahlt, flüchtet
er sich in eine Fantasiewelt: das belgische Miniaturdorf Marwencol, das
er in seinem Garten aufbaut. Dort durchlebt er die traumatische
Erfahrung wieder und wieder und versucht, sie zu bewältigen.
Ein
Mann, der an einer psychischen Störung leidet, und weibliche Helden –
das ist in Mainstream-Medien ein ungewohntes Bild. Denn entsprechend dem
Stereotyp sind Frauen ängstlich, schwach und traurig, Männer hingegen stark und belastbar.
Statistiken
über Depressionen bei Männern und Frauen scheinen das auf den ersten
Blick zu bestätigen. Es gibt eine deutliche „Gender Depression Gap“,
eine Schere, die besagt, dass zwei- bis dreimal so viele Frauen wie
Männer die Diagnose Depression erhalten. Doch es gibt noch eine andere
Zahl: Etwa dreimal so viele Männer im Vergleich zu Frauen begehen
Selbstmord. Wie passt das zusammen?
Dass Männer ein geringeres
Depressionsrisiko haben, schließt Anne Maria Möller-Leimkühler,
Sozialwissenschaftlerin an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und
Psychotherapie München, aus: „Es gibt keine Daten, die das biologisch
oder psychologisch belegen können. Vielmehr handelt es sich um eine
systematische Unterdiagnostik
bei Männern“, erklärt sie. Depressionen seien keine Frauenkrankheit.
Ein Faktor sei, dass Männer noch immer seltener zum Arzt gehen – trotz
Aktionen wie dem „Movember“, bei der für einen Monat lang
Schnurrbart-Tragen angesagt ist. Das Ziel der Bewegung: auf Themen der
Männergesundheit aufmerksam machen.
Zum anderen gebe es bei der Depressionsdiagnose
einen „Genderbias“, also eine Verzerrung der Wahrnehmung durch
Geschlechtervorurteile: „Die Depressionsforschung wurde hauptsächlich
anhand von weiblichen Probanden durchgeführt.“ Die so entstandenen
Diagnosefragebögen sind eigentlich nicht auf Männer übertragbar. Denn:
Häufiges Weinen und Grübeln, Selbstzweifel, Angstzustände – Symptome wie
diese geben sie selten an, oft aus Scham, weil derartige Gefühle als
typisch weiblich gelten. Trotz Erkrankung fallen also viele Männer durch
das Diagnoseraster.
Um
Depressionen bei Männern besser zu erkennen, reiche es aber nicht aus,
das Diagnoseraster zu erweitern, erklärt Möller-Leimkühler. Depressionen
und entsprechende Gefühle sollten gleichzeitig nicht mehr als Schwäche
oder persönliches Versagen angesehen werden. Zudem müssten Männer
lernen, einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen zu bekommen und sich von
der Vorstellung des starken Mannes zu lösen. „Denn: Je stärker sich ein
Mann an diese Normen gebunden fühlt, desto eher fühlt er sich
unmännlich, wenn er Probleme hat, diese zu erfüllen. Studien zeigen,
dass dies mit einem höheren Depressionsrisiko einhergeht“, erklärt
Möller-Leimkühler.
Bei
vielen Männern äußern sich Depressionen aber tatsächlich ganz anders.
Anstatt traurig zu sein, zu grübeln und über den psychischen Stress zu
sprechen, kompensieren sie ihn auf der Verhaltensebene. „Die
Unterschiede bei den Symptomen basieren darauf, wie Männer mit
emotionalen Konflikten umgehen“, erklärt Möller-Leimkühler. Sie hätten
keinen unmittelbaren Draht zu ihren Gefühlen – was nicht nur
hirnanatomische, sondern auch sozialisationsbedingte Gründe habe:
„Jungen lernen schon früh, ihre Emotionen zu kontrollieren, was später
dazu führen kann, dass die typischen und eher bei Frauen beobachteten
Depressionssymptome verleugnet, verdrängt oder abgewehrt werden.“ Das
allerdings kann Symptome wie Aggressionen, Süchte und antisoziales Verhalten auslösen.
Suizidalität
hingegen ist ein Anzeichen, das bei beiden Geschlechtern auf eine
Depression hinweist. Die Rate ist bei Männern jedoch dreimal so hoch wie
bei Frauen. „Der Suizidversuch bei Frauen ist ein Hilfeschrei, Männer
setzen ihr Vorhaben dagegen mit härteren Methoden gezielt um. Sie haben
eine deutlich stärkere Selbsttötungsabsicht, denn wenn ihnen selbst das
nicht gelingt, wäre es ja peinlich“, sagt Möller-Leimkühler.
Nota. - Es berichtet eine Frau über die Forschungen einer Frau. Na so ein Zufall.
JE
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