Samstag, 6. März 2021

Wo das Gendern sinnvoll ist.

Bellini

aus derStandard.at, 3.3.2021

Gendermedizin: 
Lehren, dass Frauen und Männer anders krank sind
Die Gendermedizin steht in den meisten Studienplänen angehender Medizinerinnen und Mediziner. Ihre Vermittlung hängt auch vom Willen der Lehrenden ab  

von Selina Thaler

Frauen und Männer sind anders krank. Das ist die Erkenntnis einer relativ jungen Forschungsdisziplin: der Gendermedizin. Diese beschäftigt sich mit den biologischen und sozialen Geschlechterunterschieden bei Krankheiten und deren Behandlung.

Doch bei vielen Ärztinnen und Ärzten dürfte das noch nicht angekommen sein. Zum Beispiel sterben Frauen öfter an Herzinfarkten, weil diese nicht erkannt werden. Sie haben eher "untypische" Symptome wie Schwäche, Übelkeit und Oberbauchschmerzen statt Brustschmerz und Atemnot. Und bei Herzkranken erhöht das Medikament Digoxin die Überlebenschancen bei Männern – verringert sie aber bei Frauen. Umgekehrt bleiben Depressionen bei Männern lange unerkannt.

Nicht jedes Medikament wirkt gleich: Bei Herzkranken kann Digoxin die Lebenschancen von Männern steigern, jene von Frauen allerdings verringern.

Damit das nicht passiert, werden angehende Medizinerinnen und Mediziner seit einigen Jahren im Studium in Sachen Gendermedizin sensibilisiert. In den meisten Lehrplänen der acht medizinischen Unis und Privatunis ist diese mittlerweile verankert, als Ausbildungsziel, Pflichtkurs und/oder Wahlfach. "Das ist eine Querschnittsmaterie und sollte in allen Fächern des Medizinstudiums gelehrt werden", sagt Alexandra Kautzky-Willer, Gendermedizinerin an der Med-Uni Wien. Ihre Uni hat sich bereits im Mission-Statement der Geschlechterforschung verschrieben.

Das ist auch Kautzky-Willers Verdienst: Sie gilt als Pionierin der Geschlechterforschung. 2010 hat sie an der Med-Uni Wien die erste Professur für Gendermedizin im deutschsprachigen Raum angetreten und dort auch die Gender Medicine Unit aufgebaut, die sie leitet. Die Abteilung ist auch mit der Taskforce "Gender und Diversity im Curriculum" in die Entwicklung der Lehrpläne eingebunden. Hier passen Lehrende und Forschende stetig Curriculum und Lehrbücher in puncto Gendermedizin, aber auch im Hinblick auf Ethnien an.

Pflichtvorlesung und stereotype Lehrbücher

Konkret gibt es an der Med-Uni Wien am Studienanfang eine Pflichtvorlesung zu Gendermainstreaming und -medizin. "Da sensibilisieren wir, dass man darauf achtet, dass biologische, psychosoziale oder epigenetische Geschlechterunterschiede nicht egal sind", sagt Kautzky-Willer. Und: "Dass es nicht nur binäre Geschlechter – also klassisch Mann und Frau – gibt, sondern auch Diversität, einschließlich Intersex-Personen und Transsexualität."

Auch in der Inneren Medizin gebe es im Lehrbuch ein eigenes Kapitel zur Gendermedizin, auch in der Kardiologie, Endokrinologie, Psychologie sei sie ein Thema. Und bei der Arzt-Patienten-Kommunikation müsse darauf hingewiesen werden. "Aber es ist sicher auch bei uns noch nicht überall gleich gut vertreten und muss kontinuierlich ausgebaut werden", räumt die Gendermedizinerin ein.

Fallbasiertes Lernen sei für die Vermittlung essenziell, und dass Lehrbücher keine stereotypen Fälle enthalten, betont Kautzky-Willer. Also dass zum Beispiel auf die Unterschiede bei Herzinfarkten eingegangen wird. Oder nicht nur die Mutter, sondern auch der Alleinerzieher gezeigt werden. "In den Lernunterlagen ist oft noch relativ wenig davon, auch weil sie älter sind."

Hängt von Vortragenden ab

Es sei auch wichtig, zu lehren, dass es "die eine Frau gar nicht gibt, den Mann noch eher". Zyklus, hormonelle Verhütung, Hormonersatztherapien, Schwangerschaft oder Stillen machen aus der Hälfte der Bevölkerung einzelne Gruppen, die unterschiedliche Behandlungen brauchen.

Olga Fotiadis, Medizinstudentin im achten Semester, erinnert sich nur an wenige Lehrveranstaltungen, wo auf die gendermedizinschen Unterschiede eingegangen wurde. Die Referentin für Gesellschafts- und Gesundheitspolitik der Hochschulvertretung an der Med-Uni Wien wünscht sich, dass Genderthemen mehr mit den Lehrblöcken verknüpft werden. Zudem "hängt es stark von den Vortragenden ab", ob sie überhaupt thematisiert werden.

Dem stimmt Kautzky-Willer zu: "Es gibt Vortragende, die sich besonders damit beschäftigen, und jene, denen das egal ist, lassen das unter den Tisch fallen." Immer wieder im Studium davon zu hören sei aber noch kein Garant, dass die Gendermedizin auch in der späteren Arztkarriere berücksichtigt wird, sagt Kautzky-Willer. Man müsse sich auch fortbilden.

Interesse steigt

Grundsätzlich stehe die Med-Uni Wien aber laut Kautzky-Willer gut da und habe "eine Vorreiterrolle" in der Unilandschaft. Nur in Wien und an der Med-Uni Innsbruck gibt es Professuren für Gendermedizin. Die anderen Unis "hinken da noch ein bisschen nach". Im deutschsprachigen Raum könnten sich Österreichs Unis aber sehen lassen.

Im Wissenschaftsministerium habe man jedenfalls Interesse daran, dass die Gendermedizin an allen Med-Unis vertreten ist, sagt Kautzky-Willer. Auch das Interesse der Studierenden werde "zunehmend größer". Das merke die Gendermedizinerin auch an der gesteigerten Anzahl an Diplomarbeiten und Dissertationen dazu sowie an PhD-Bewerbungen. Und international werde vermehrt geforscht: "Das ist kein Außenseiterding mehr, das ein paar Feministinnen machen – das ist Wissenschaft."

Nachholbedarf gebe es trotzdem – und zwar überall. Selbst dort, wo die Gendermedizin ihren Ursprung genommen hat, in der Kardiologie, sagt die Medizinerin. "Die Gendermedizin ist erst dann angekommen, wenn sie in der Praxis gelebt wird und die einzelne Patientin, der einzelne Patient davon profitieren." 

 

Nota. - 'Lernen, dass Frauen und Männer anders krank sind': Meine Überschrift ist gar nicht sarkastisch gemeint - wenn sie auch erst durch ihre Umkehrung stimmt. In der Medizin ist - denn sie ist eine uralte Disziplin, deren Praxis viel früher da war als ihre Wissenschaft, der sie überdies lange widerstanden hat - der Unterschied zwischen Männern und Frauen jahrtausen-delang übersehen worden. Jetzt, wo der Geschlechtsunterschied allenthalben zum 'sozialen Konstrukt' vermindert wird, wird auch in der ärztlichen Praxis genauer hingeschaut. Und siehe da: Bei der Suche nach den Sozialisationsfolgen springen zugleich auch die physiologischen Unterschiede ins Auge!

Kein intelligenter Mensch wird den Anteil von Sozial- und Kulturgeschichte an den vorherr-schenden Geschlechterrollen leugnen. Es ist wissenschaftlich ergiebig und sozialpolitisch wünschenswert, ihn so deutlich wie möglich herauszuarbeiten - weil doch anders nicht zu erkennen ist, welche Distinktionen natürlich, nämlich physiologisch begründet sind. 

Dass es aber 'den einen Mann' schon eher gäbe als die eine Frau, erscheint mir doch sehr als ein - halten Sie sich fest - soziales Konstrukt, und möchte wohl gut ebenso der Genderschere verfallen.

JE

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