Montag, 29. März 2021

Vulnerable Narzisst:innnen.


aus spektrum.de, 29.03.2021


Die übersehenen Narzisstinnen
Männer gelten als narzisstischer als Frauen. Doch eine bestimmte pathologische Form wird bei Frauen oft nicht erkannt.


von Corinna Hartmann

Elizabeth Holmes hatte es geschafft: Mit Anfang 30 war sie die weltweit jüngste Selfmade-Milliardärin. Sie zierte die Cover der bedeutendsten Wirtschaftsblätter, und das »Time Maga-zine« kürte sie zu einer der 100 einflussreichsten Personen der Gegenwart. Die Welt hatte lange auf so eine Vorzeigeunternehmerin und Powerfrau gewartet; auf eine, die auf Augen-höhe war mit Microsoft-Gründer Bill Gates, Tesla-CEO Elon Musk und dem 2011 verstor-benen Apple-Chef Steve Jobs. Letzterer war Holmes' großes Vorbild. Nicht nur beruflich, auch modisch eiferte sie ihm nach und trug meist einen schwarzen Rollkragenpullover.

Ihre Idee versprach so revolutionär zu sein wie das iPhone: Ein neues Analysesystem soll schon mit wenigen Tropfen Blut zahlreiche Labortests durchführen, Viren, Antikörper und Krebsmarker nachweisen und innerhalb weniger Minuten nach mehr als 100 Krankheiten fahnden. Um diesen Plan umzusetzen, brach Holmes ihr Studium des Chemieingenieurwesens an der Stanford University ab und gründete das Start-up Theranos. Mit ihrem selbstbewussten Auftreten, ihren großen blauen Augen und ihrem Charisma zog sie Menschen in ihren Bann und gewann zahlreiche wohlhabende Unterstützer. Medienmogul Rupert Murdoch, US-Bil-dungsministerin Betsy DeVos, der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger und viele andere investierten Millionen in ihre Firma.

Dossier 2/2021 Dieser Artikel ist enthalten in Gehirn&Geist Dossier 2/2021

Der Haken: Das von Theranos angepriesene Blutanalysesystem, das die medizinische Dia-gnostik revolutionieren sollte, hat nie funktioniert. Patienten hatten reihenweise falsche Test-ergebnisse erhalten. Holmes steht im Verdacht, die Öffentlichkeit jahrelang getäuscht und das unbrauchbare Gerät wissentlich in Umlauf gebracht zu haben. Als Mitarbeiter von Theranos sich 2015 an die Presse wandten, platzte die Blase. Es war alles eine große Show. Holmes, so wirkt es, wollte um jeden Preis als Wunderkind gefeiert werden. Dabei schien sie nicht zu stören, dass dadurch Menschen zu Schaden kamen. Macht und Erfolg wurden womöglich zum Selbstzweck. Viele Experten vermuten hinter ihrem selbstdarstellerischen und manipulativen Verhalten einen Hang zum Narzissmus. Dass der Fall Holmes großes Aufsehen erregte, lag aber nicht nur an der Dreistigkeit des ihr zu Last gelegten Betrugs, sondern auch am Ge-schlecht der Verdächtigen.

Auf einen Blick
Großartig und verletzlich

  1. Narzissmus ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das in der Bevölkerung normal verteilt ist und sowohl positive als auch negative Seiten hat. Von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung spricht man erst, wenn eine hohe Ausprägung zu Leid und Problemen führt.

  2. Männer erhalten die Diagnose häufiger als Frauen. Das kann an unterschiedlichen Charaktermerkmalen und Geschlechterklischees liegen sowie daran, dass Frauen eher zu einer Form des pathologischen Narzissmus neigen, die leicht übersehen wird.

  3. Bei diesem so genannten vulnerablen Narzissmus halten sich Betroffene zwar ebenfalls insgeheim für etwas ganz Besonderes und haben hohe Ansprüche, neigen aber zu einem niedrigeren Selbstwertgefühl und vermeiden Bewertungssituationen.


Auch wenn Sigmund Freud Frauen noch für das eitlere Geschlecht hielt – heute gilt der Narzissmus als typisch männliche Charaktereigenschaft. Prominente, denen man einen Hang dazu nachsagt, sind der US-Präsident Donald Trump, der Rapper Kanye West oder der Fußballer Cristiano Ronaldo. Doch längst nicht jeder, der großspurig auftritt, ist deswegen gleich krank. In der Persönlichkeitspsychologie versteht man unter Narzissmus ein Merkmal, das wie Körpergröße oder Intelligenz in der Bevölkerung normalverteilt ist. Die meisten bewegen sich im Mittelfeld, sehr hohe und sehr niedrige Ausprägungen kommen selten vor. Einer der meistverwendeten Narzissmus-Fragebogen erfasst drei Hauptkennzeichen: Auto-ritätsanspruch und Führungsdenken (zum Beispiel »Ich bin der geborene Anführer«), Hang zur Selbstdarstellung (»Ich stehe gerne im Mittelpunkt«) sowie ausbeuterisches Verhalten (»Es fällt mir leicht, andere zu manipulieren«).

Ein gewisses Maß dieser Persönlichkeitseigenschaft ist sogar hilfreich. Wer viel von sich hält, tritt oft charmant auf, kommt bei anderen gut an und hat Erfolg im Beruf. Erst wenn die Ausprägung so extrem wird, dass sie bei Betroffenen oder ihrem Umfeld erhebliches Leid verursacht, spricht man von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Der Anteil der Männer, die eine solche Diagnose erhalten, liegt mit 7,7 Prozent in der Tat höher als bei Frauen (4,8 Prozent).

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Schwankendes Selbstwertgefühl

Entgegen der landläufigen Meinung fühlen sich pathologische Narzissten nicht einfach be-sonders wertvoll. Stattdessen schwankt ihr Selbstwertgefühl je nach Situation stark und hängt mehr als üblich von der Anerkennung durch andere ab. Häufig begeben sich Betroffene erst in Behandlung, wenn sie in eine schwere Krise geraten und das sorgfältig aufgebaute Kartenhaus zusammenbricht, etwa nach Misserfolgen, einer Trennung oder einer Kündigung. Die psychi-schen Folgen gehen mitunter bis hin zu Selbstmordgedanken.

Obwohl das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen DSM-5 die narziss-tische Persönlichkeitsstörung als einheitliches Syndrom beschreibt, sprechen neuere For-schungsbefunde dafür, dass verschiedene Subtypen der Persönlichkeitsstörung existieren. Neben dem grandiosen Narzissmus, welcher der Diagnose im DSM-5 sehr nahekommt, gibt es nämlich einen so genannten vulnerablen Narzissmus.


Elizabeth HolmesElizabeth Holmes | Die Gründerin des Bluttest-Start-ups Theranos, im Gerichtssaal des kalifornischen San José. Sie ist wegen Betrugs angeklagt.

Vulnerable Narzissten sind allerdings nicht so leicht als solche zu erkennen. Sie sehen sich zwar insgeheim auch als etwas ganz Besonderes und haben eine hohe Anspruchshaltung, trauen sich jedoch oft nicht, das Lob einzufordern, nach dem sie dürsten. Stattdessen haben sie große Angst vor dem Feedback anderer und schämen sich sehr, wenn sie Kritik erhalten. Arroganz, Überheblichkeit und dominantes Verhalten kommen kaum vor. »Betroffene wirken eher ängstlich und depressiv. Anders als beim grandiosen Narzissmus gehen vulnerable Nar-zissten ihre Mitmenschen nicht offen aggressiv an und werten sie nicht ab«, sagt Claas-Hinrich Lammers, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Asklepios Klinik Nord in Ochsenzoll. »Sie haben auch Größenfantasien. Aber sie trauen sich aus Angst vor Ableh-nung nicht, diese nach außen zu tragen.«

Während grandiose Narzissten eine hohe Selbstwirksamkeit haben und daher überzeugt sind, die eigenen Ziele problemlos erreichen zu können, zweifeln Narzissten vom vulnerablen Typ an ihrer Handlungsmacht. Dadurch sind sie häufig sozial gehemmt und vermeiden Situatio-nen, in denen sie bewertet werden. Das sei ein wesentlicher Unterschied, meint Lammers. »Beim grandiosen und vulnerablen Narzissmus handelt es sich nicht etwa um zwei Seiten einer Medaille. Vielmehr sind es zwei eigenständige Typen des Narzissmus mit sehr unterschied-lichen Persönlichkeitsprofilen.« Demnach weisen grandiose Narzissten bei den Big Five – den fünf gängigsten Persönlichkeitseigenschaften, die den Charakter eines Menschen beschreiben – eine geringe soziale Verträglichkeit bei hoher Extraversion auf. In anderen Worten: Sie sind kontaktfreudig, aber rücksichtslos, was eine ausgesprochen explosive Mischung ergibt. Vulne-rable Narzissten vertragen sich ebenfalls nicht gut mit anderen, sind jedoch eher introvertiert, neurotisch – also emotional labil –, haben ein niedrigeres Selbstwertgefühl und eine geringere Lebenszufriedenheit. Sie treten nach außen hin weniger prahlerisch und feindselig auf und werden daher seltener als Narzissten erkannt. Es gibt allerdings gute Gründe, diese weniger offensichtliche Form auch als Narzissmus zu bezeichnen: »Gemeinsam haben beide Typen neben der sozialen Unverträglichkeit ihre Größenfantasien, die Selbstbezogenheit und die hohe Anspruchshaltung«, sagt Lammers.

»Sowohl ein niedriger Selbstwert als auch überhöhte Vorstellungen von der eigenen Person sind mit Problemen im zwischenmenschlichen Bereich verbunden«
(Astrid Schütz, Persönlichkeitspsychologin)

Frauen, so zeigt die Forschung, neigen eher zu diesem vulnerablen Narzissmus. »Sowohl ein niedriger Selbstwert als auch überhöhte Vorstellungen von der eigenen Person sind mit Pro-blemen im zwischenmenschlichen Bereich verbunden«, weiß die Persönlichkeitspsychologin Astrid Schütz von der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Obgleich die Unterschiede ins-gesamt sehr gering sind, hätten Frauen öfter einen geringen Selbstwert, der zudem öfter von äußeren Einflüssen abhänge. »Das heißt, sie sind häufiger mal auf ein Schulterklopfen ange-wiesen, um sich wohlzufühlen«, ergänzt Katharina Geukes, die sich an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit Fragen der Persönlichkeit beschäftigt. Forscher um die Psychologin Emily Grijalva, damals an der University of Buffalo, analysierten 2015 mehr als 300 Studien zu Narzissmus bei Männern und Frauen. Das Resultat: Männer erreichen ins-gesamt höhere Narzissmus-Werte. Sie neigen vor allem stärker zu ausbeuterischem Verhalten, zu Autoritätsanspruch und Führungsdenken. Im Hang zur Selbstdarstellung haben sie einen weniger großen Vorsprung, im vulnerablen Narzissmus ziehen Frauen gleich.

Egoismus, Machtstreben und Angeberei

»Diese Durchschnittswerte bedeuten natürlich nicht, dass jeder Mann narzisstischer ist als jede Frau. Es gibt sehr wohl narzisstische Frauen. Die Unternehmerin Elizabeth Holmes etwa war sehr charismatisch, beutete Investoren und Mitarbeiter aber gleichzeitig schamlos aus, was typisch für Narzissten ist«, sagt Emily Grijalva zu den Ergebnissen. »Die Gesellschaft akzep-tiert Egoismus, Machtstreben und Angeberei bei Männern eher, da diese Eigenschaften im Widerspruch zum Bild der Frau stehen, die als bescheiden und fürsorglich gilt.« Katharina Geukes hält den Vorsprung von Männern im Narzissmus ebenfalls für überschätzt: »Der Geschlechterunterschied ist relativ stabil über die Lebensspanne, aber nicht so groß, wie man meinen könnte. Anders als das Stereotyp vom narzisstischen Mann vermuten lässt, sind die Unterschiede eher gering.«

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Eine bedeutende Studie auf dem Gebiet veröffentlichten die Persönlichkeitsforscher Paul Costa, Robert McCrae und Antonio Terracciano 2001. Sie nutzten Persönlichkeitsprofile von 23 000 Männern und Frauen aus 26 verschiedenen Ländern (darunter Indien, Deutschland, die USA, Peru, Südafrika und Russland), die Wissenschaftler mit einem gängigen Fragebogen erhoben hatten. Dabei entdeckten sie einen kleinen, statistisch bedeutsamen Geschlechter-unterschied in den typischen Charaktereigenschaften: Frauen waren im Schnitt zugewandter, freundlicher, jedoch auch ängstlicher und sensibler für eigene Gefühle als Männer. Die hin-gegen schätzten sich durchweg als durchsetzungsfähiger und offener für neue Ideen ein. Die weiblichen Teilnehmer hatten demnach in den Persönlichkeitsfacetten Verträglichkeit, Intro-version und Neurotizismus, also emotionaler Labilität, die Nase vorn. Die männlichen waren weniger verträglich, weniger neurotisch und extravertierter. Das Ergebnis entspricht weitge-hend gängigen Geschlechterklischees, beruht allerdings ausschließlich auf Selbsteinschät-zungen der Probanden. Jedoch untermauern andere Studien diesen Befund. Psychologen um Jeffrey Gagne von der University of Texas in Arlington erfassten 2013 das Temperament von 714 Dreijährigen. Eltern und Versuchsleiter, die das Verhalten der Kinder analysierten, schätzten Jungen im Schnitt als aktiver ein, während sie Mädchen als schüchterner, aber kon-trollierter und konzentrierter bewerteten. Bei gegengeschlechtlichen Zwillingen, die unter nahezu identischen Bedingungen aufwuchsen, zeigte sich der gleiche Effekt. Das deutet darauf hin, dass sich Männer und Frauen schon sehr früh im Charakter unterscheiden – oder dass das zumindest so wahrgenommen wird, was ebenso an kulturellen Rollenerwartungen liegen könnte.
»Bei der narzisstischen Persönlichkeit kann man davon ausgehen, dass sie bis zu 50 Prozent erblich bedingt ist«
(Claas-Hinrich Lammers, Psychiater)

Dass Frauen seltener den typischen grandiosen, sondern eher einen vulnerablen Narzissmus an den Tag legen, hat daher wahrscheinlich mit ihrem generellen Hang zu Introvertiertheit und Neurotizismus zu tun. »Vulnerabler Narzissmus und Neurotizismus überlappen stark. Wer neurotisch ist, macht sich über alles Mögliche Sorgen. Beim vulnerablen Narzissmus beziehen sich die Sorgen vor allem auf die Wahrung des positiven Selbstbilds – das heißt auch darauf, wie man bei anderen ankommt. Was in dem Fall allerdings Henne und was Ei ist oder ob vul-nerabler Narzissmus und Neurotizismus einen gemeinsam Ursprung haben, ist noch schwer zu sagen«, erklärt Katharina Geukes. Doch möglicherweise legt das angeborene Temperament den Grundstein dafür, welche Art von Störung man später entwickelt. »Der genetische Anteil an der Entstehung von Persönlichkeitsstörungen wird gemeinhin unterschätzt. Bei der nar-zisstischen Persönlichkeit kann man davon ausgehen, dass sie bis zu 50 Prozent erblich be-dingt ist«, erklärt Claas-Hinrich Lammers. Darüber hinaus gibt es erste Hinweise, wonach unterschiedliche Faktoren in der Kindheit die Entwicklung der beiden Formen begünstigen. Während übertriebene Verwöhnung und Bewunderung des Kindes durch die Eltern offenbar grandiose Persönlichkeitszüge fördert, könnte ein inkonsistenter Erziehungsstil zu einem schwankenden Selbstwertgefühl führen und beim vulnerablen Narzissmus eine Rolle spielen. Methodisch stehen solche Befunde zum Einfluss früher Erfahrungen auf die Entstehung von Störungen allerdings auf wackeligen Beinen, denn Forscher müssen sich in der Regel auf Erzählungen der Patienten verlassen.

Wahrscheinlich gibt es noch einen anderen Grund, weshalb Frauen seltener die Diagnose narzisstische Persönlichkeitsstörung erhalten. »Es gibt einen klaren Geschlechter-Bias in der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen«, gibt Lammers zu bedenken. Anders gesagt: Psy-chologen und Psychiater sind auch nur Menschen und lassen sich von gängigen Klischees beeinflussen. Legt man Fachleuten denselben Fallbericht vor und nennt den Patienten einmal Anna und einmal Paul, erhält Paul öfter die Diagnose einer narzisstischen, Anna die einer histrionischen Persönlichkeitsstörung. Der Begriff stammt vom »Histrionen«, dem Schau-spieler im antiken Rom. Betroffene zieht es entsprechend auf die Bühne. Sie lieben es, im Mittelpunkt zu stehen, geben sich dramatisch und kapriziös, sind selbstbezogen und schnell gekränkt. »Hinter dem klassischen Macho steckt, wenn man es genau nimmt, oftmals eher ein Histrioniker als ein Narzisst«, bemerkt Lammers. Mit der narzisstischen Persönlichkeit hat die histrionische das gesteigerte Bedürfnis nach Anerkennung gemein.

Geschlechterklischees bei der Diagnose

An der Ähnlichkeit dieser beiden Krankheitsbilder sieht man, wie schwierig eine trennscharfe Zuordnung zu einer bestimmten Persönlichkeitsstörung ist. Daher kann es leicht passieren, dass Behandler sich bei der Diagnosefindung vom Geschlecht des Patienten leiten lassen: Der typische Narzisst ist ein Mann, die Histrionikerin und Borderlinerin ist eine Frau. Letztere Per-sönlichkeitsstörung äußert sich typischerweise in starken Schwankungen im Sozialverhalten, in der Stimmung und Selbstwahrnehmung, die sowohl für die Person selbst als auch für ihre so-ziale Umgebung belastend sind. Borderline galt lange Zeit als weibliches Phänomen. »In der Tat erhalten mehr Frauen die Diagnose – allerdings zeigen neuere Studien, dass Borderline bei Männern in annähernd gleichem Maß auftritt. Dass betroffene Männer sich seltener in Be-handlung begeben, hängt wahrscheinlich mit geschlechtstypischen Rollenerwartungen zu-sammen«, sagt Astrid Schütz.

Ein Team von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster um Michael Grosz und Mitja Back hat noch eine weitere Eigenart des weiblichen Narzissmus entdeckt. Es entwickelte einen Fragebogen, der verschiedene Facetten der Eigenschaft besonders genau misst und unter anderem erhebt, in welchen Lebensbereichen sie zum Tragen kommen. Frühere Studien hatten gezeigt, dass sich zwei Aspekte unterscheiden lassen: die Selbstaufwertung und die Abwertung anderer. Die Münsteraner Verhaltenswissenschaftler erhoben diese beiden für Intelligenz (»Ich bin ein Genie« versus »Die meisten Leute sind dumm«), Attraktivität (»Ich bin sehr gut aussehend« versus »Die meisten Leute sind nicht sehr attraktiv«), soziale Dominanz (»Ich bin sehr durchsetzungsstark« versus »Die meisten Leute sind Schwächlinge«), soziales Engagement (»Ich bin außerordentlich hilfsbereit« versus »Die meisten Leute sind rücksichts-lose Egoisten«) und eine neutrale Kategorie (»Ich bin großartig« versus »Die meisten Leute sind Verlierer«).

 

Nota. - Sagen Sie bloß, das kennen Sie nicht: Da hat man*n eine halbe Stunde lang um den heißen Brei herumgeflötet, bis Sie endlich Klartext geredet haben - da geht ein Lamento los, wie unsensibel Sie mit Mensch:innen "umgehen"! Obiger Text ändert nichts am Sachverhalt; aber er hilft Ihnen, es sich nicht weiter zu Herzen zu nehmen: Sie wissen jetzt immerhin, bei welchem Namen Sie das Kind nennen können.

JE

 

 

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Sonntag, 28. März 2021

Der Geschlechtsdimorphismus beim Menschen ist älter als er selbst.

 

aus derStandard.at, 27. März 2021                                   Ein weibliches menschliches Becken und der Schädels eines Neugeborenen

Beckenunterschiede von Mann und Frau sind viel älter als gedacht
Analyse und Vergleiche des Skeletts von Schimpansen und Menschen weisen auf Ursprünge dieses Geschlechtsdimorphismus hin

Damit die Geburt beim modernen Menschen überhaupt funktionieren kann, muss der Kopf des im Verhältnis ohnehin schon sehr großen Babys mit seinem geradezu riesigen Gehirn durch das Becken passen. Daher ist das weibliche Becken beim Menschen deutlich weiter als jenes des Mannes. Dieser anatomische Geschlechtsunterschied ist nicht allein dem Homo sapiens vorbehalten – und er dürfte viel älter sein als bisher vermutet: Wie Wiener Forscher gemeinsam mit Kollegen im Fachjournal "Nature Ecology & Evolution" berichten, zeigte die Analyse des Knochenbaus von Schimpansen einen ähnlichen Sexualdimorphismus.

Lücke in den Funden

Die Suche nach den Ursprüngen des Geschlechtsdimorphismus des Beckens wird durch die Tatsache erschwert, dass dieser Teil des Skeletts bei fossilen Überresten menschlicher Vorfahren meist nicht gut erhalten geblieben ist. Daher war bisher nicht klar, ob die Unterschiede gleichzeitig mit dem aufrechten Gang oder erst später, mit dem immer größer werdenden menschlichen Gehirn entstanden ist.

Barbara Fischer vom Department für Evolutionsbiologie der Universität Wien hat gemeinsam mit Kollegen vom Konrad-Lorenz-Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung in Klosterneuburg (NÖ) und der Universität Calgary (Kanada) Beckenunterschiede beim Menschen mit jenen bei Schimpansen verglichen. Bei der nächstverwandten noch lebenden Art des modernen Menschen erfolgt die Geburt weitaus einfacher, da ihre Neugeborenen kleiner als jene der Menschen sind.

Die gleichen Muster

Bei der Analyse der 3D-Daten von Becken zeigte sich trotz der großen Artunterschiede das gleiche Muster von Geschlechtsunterschieden zwischen Männchen und Weibchen. Das Ausmaß war aber nur halb so groß wie beim Menschen. Die Wissenschafter schließen daraus, dass es die Unterschiede bereits beim gemeinsamen Vorfahren der beiden Arten gab und daher alle ausgestorbenen Menschenarten wie etwa die Neandertaler vermutlich ebenfalls dasselbe Muster im Becken besessen haben.

Geschlechtsunterschiede im Becken beim Menschen (oben) und beim Schimpansen (unten). Die beiden mittleren Spalten zeigen die tatsächlichen Geschlechtsunterschiede, in den beiden äußeren Spalten in der Unterschied überzeichnet dargestellt. Die weiblichen Becken sind links, die männlichen rechts gezeigt.

Beckenunterschiede zwischen den Geschlechtern gibt es bei praktisch allen Gruppen von Säugetieren. Ausgeprägt sind diese bei jenen Arten, etwa Fledermäuse oder manche Primaten, die noch größere Neugeborene relativ zur Größe ihres Geburtskanals zur Welt bringen als der Mensch. Aber selbst bei manchen Arten wie Katzen oder Opossums, die winzige Neugeborene zur Welt bringen, unterscheiden sich die Becken von Weibchen und Männchen ähnlich wie beim Menschen.

Keine Neuentwicklung?

Für die Forscher weist dies auf ein altes, evolutionär konserviertes Muster hin. "Wir denken, dass der moderne Mensch dieses Muster der Beckenunterschiede nicht neu entwickelt, sondern von frühen Säugetieren geerbt hat, die dasselbe Problem hatten wie der Mensch, nämlich sehr große Neugeborene gebären zu müssen", erklärte Fischer in einer Aussendung. Als sich im Lauf der menschlichen Evolution das Gehirn und damit der Kopf vergrößerte, konnte das weibliche Becken deshalb rasch größer werden, waren doch die dafür notwendigen entwicklungsbiologischen und genetischen Mechanismen bereits vorhanden. (red,)

JE

Freitag, 26. März 2021

Die pp. Fruchtbarkeitskrise ist ein Hoax.


 
aus Tagesspiegel.de, 26. 3. 2021

Was hinter dem angeblichen Spermienschwund steckt 
Die Medizinerin Shanna Swan sieht die Menschheit gefährdet, weil Männer weniger Spermien bilden. Ein Androloge hält das für übertrieben – und hat eine Warnung. 

von

Das Überleben der Menschheit ist bedroht – zumindest, wenn es nach der US-amerikanischen Umweltmedizinerin Shanna Swan geht. In ihrem kürzlich erschienenen Buch „Count Down“ berichtet die Wissenschaftlerin an der New Yorker „Ican School Of Medicine at Mount Sinai“, dass eine Fruchtbarkeitskrise eine ähnlich große Gefahr für den Menschen bedeutet wie die Klimakrise.

Hintergrund ist eine Studie aus dem Jahre 2017, nach der die Zahl der Spermien pro Mann in westlichen Ländern zwischen 1973 und 2011 um bis zu 60 Prozent gesunken ist. Zu den betroffenen Weltregionen zählen Nordamerika, Europa, Australien und Neuseeland. Traut man den Modellierungen Swans, könnte die Zahl der Spermien bis zum Jahr 2045 auf null sinken. Das würde bedeuten: keine natürlich gezeugten Babys mehr und eine Bedrohung für den Fortbestand der Menschheit.

Verantwortlich für den Spermienschwund sind Swan zufolge unter anderem Chemikalien in Plastikprodukten, Kosmetikartikeln oder Pestiziden. Neuere Studien machen auch zunehmende Fettleibigkeit, veränderte Ernährungsgewohnheiten und Umweltgifte für gesunkene Spermienzahlen verantwortlich. Kann es wirklich sein, dass die Weltgemeinschaft in eine existenzielle Fruchtbarkeitskrise schlittert? Eine solche Frage weiß die Andrologie, das männliche Pendant zur Gynäkologie, zu beantworten. Ein Anruf bei Stefan Schlatt, dem Direktor des Centrums für Reproduktionsmedizin und Andrologie am Universitätklinikum Münster: „In den westlichen Ländern hat die durchschnittliche Spermienzahl in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich abgenommen“, sagt der Wissenschaftler Schlatt. „Panik ist jedoch völlig unangebracht. Es gibt mehrere mögliche Gründe für diesen Rückgang, die nicht dramatisch sein müssen.“

Sorgen macht dem Andrologen etwas anderes: „Die Zahl der Entwicklungsstörungen im männlichen Reproduktionssystem nimmt zu, insbesondere Hodenkrebs wird häufiger. Eine Ursache für dieses Phänomen zu finden, ist ein viel wichtigeres und drängenderes Problem als die immer noch in einen unbedenklichen Bereich gesunkene Spermienzahl.“

Spermienzahl hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab

Zum einen gingen gesunkene Spermienzahlen gut möglich auf methodische Schwierigkeiten in Studien der vergangenen Jahrzehnte zurück: Eine dieser Schwierigkeiten ist laut Schlatt das Einhalten von mehrtägigen Ejakulationspausen vor einem Samenerguss, der für die Spermienzählung in einem Behälter landet.

„Die Spermienzahl in einem Ejakulat hängt auch davon ab, wie oft der Mann beim Geschlechtsverkehr oder der Selbstbefriedigung ejakuliert. Je öfter jemand ejakuliert, desto mehr leert sich der Samenspeicher in den Nebenhoden und desto geringer fällt die Spermienzahl aus.“

Das Einhalten dieser Pause ist in den Studien allerdings nicht kontrollierbar und die Versuchsleiter müssen ihren Probanden glauben. Damit könnte jedoch auch die Spermienzahl zwischen Studien stark schwanken. Vernachlässigen viele Probanden bei einer Studie die Pause vor dem Samenerguss, ist die Spermienzahl in den Proben nach unten verzerrt.

Gesunkene Spermienzahlen nur im Westen beobachtet

„Ein Mann, der sich vor 40 Jahren überwunden hat und wegen ausbleibender Schwangerschaft zum Andrologen gegangen ist, hat sich möglicherweise eher an die Karenzzeit gehalten, als Studienteilnehmer in späteren Studien.“ Alleine schon aus diesem Grund könnten aktuellere Spermienzahlen geringer ausfallen als in der Vergangenheit. Allerdings lässt sich diese Annahme nicht mehr im Nachhinein kontrollieren.

„In arabischen oder asiatischen Ländern gehen die Spermienzahlen jedenfalls nicht wirklich zurück“, macht Schlatt deutlich. Auch hier sei allerdings unklar, woran das liegt. „Deutsche Männer ejakulieren mehrmals die Woche, wodurch die Spermienspeicher nie ganz voll werden. Aus diesem Grund könnte die Spermienzahl bei Samenergüssen vergleichsweise geringer ausfallen.“ Möglicherweise seien arabische oder asiatische Männer weniger aktiv, weshalb die erfasste Spermienzahl bei Stichproben höher ausfällt – das bleibt allerdings eine Vermutung.

Der Androloge Schlatt fügt hinzu: „Ein Mann zählt laut Weltgesundheitsorganisation erst dann als unfruchtbar, wenn weniger als 15 Millionen Spermien je Milliliter Ejakulat vorhanden sind.“ Von dieser Grenze sei die übliche Spermienzahl von deutschen Männern jedoch weit entfernt.

Umweltgifte stören Sexualentwicklung von Meerestieren„Wenn beispielsweise alle zwei Tage ein Samenerguss erfolgt, ist bei einem gesunden Mann immer noch mit etwa 60 bis 70 Millionen Spermien pro Milliliter zu rechnen. Das ist in der Regel mehr als genug für die Befruchtung einer Eizelle.“

Und der Einfluss von Chemikalien? „Umweltgifte wie hormonell wirksame Weichmacher können den menschlichen Körper beeinflussen. Bisher gibt es allerdings noch keinen belegbaren Effekt auf die Größe der Hoden bei Männern oder auf ihre Spermienproduktion.“

Sorgen bezüglich der Umweltgifte würden vor allem mit Blick auf Wassertiere wie Meeresschildkröten oder Muscheln geäußert. Laut dem Biologen  kann der in Plastik enthaltene Weichmacher Bisphenol A hormonell auf aquatische Lebewesen wirken, das hormonelle Gleichgewicht stören und so die Sexualentwicklung negativ beeinflussen.

Auch Shanna Swan weist auf Bisphenol A als eine von vielen Chemikalien in der Umwelt hin. „Mit den Spermien der Männer hat das allerdings wenig zu tun“, sagt der Forscher. Schlatt richtet den Blick auf eine gesellschaftliche Entwicklung: „Frauen mit Kinderwunsch werden immer älter.

„Völlige Überinterpretation“ der Datenlage

Mit 35 Jahren steht eine Frau jedoch kurz vor dem Ende der Fruchtbarkeit.“ In so einer Situation werde die Spermaqualität des Mannes umso wichtiger, um überhaupt noch ein Kind zu zeugen. „Dadurch könnte der Eindruck entstehen, dass wir immer unfruchtbarer werden, obwohl dies wahrscheinlich gar nicht der Fall ist.“

Shanna Swans Ausführungen zu einer drohenden „Fruchtbarkeitskrise“ hält der Reproduktionsbiologe Schlatt letztlich für eine „völlige Überinterpretation“ der Datenlage. Am Ende sei die Spermienzahl in Stichproben von mehreren Faktoren abhängig, die häufig nicht einfach kontrollierbar seien.

 

Nota. - Das kommt aller paar Jahre wieder. Es ist genauso eine Zeitungsente wie das angebliche Aussterben des Y-Chromosoms. Wer* hat bloß ein Interesse an solchen Gerüchten?

JE

 

 

Dienstag, 23. März 2021

Katzen und Gender.


Katzen erscheinen Frauen gern als rätselhafte Diven - weil die sich in sie hineinprojizieren.

Männern erscheinen Katzen eher wie Kinder - weil sie sich ebenfalls in sie hineinprojizieren.

Ausnahmen waren bei mir Kätzinnen, solange sie ihre Jungen säugten - die kamen mir er-wachsen und gütig vor.

 

 

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 

Montag, 15. März 2021

Die Verdrängung der Frauen aus der Öffentlichkeit begann im Biedermeier.

aus derStandard.at, 11. 3. 2021                                                                          Ferdinand Georg Waldmüller, Mutterglück, 1860

Von wegen Zeit trauter Häuslichkeit 
Der Alltag von Frauen im Biedermeier
Frauen waren im 19. Jahrhundert in allen Berufszweigen anzutreffen. Viele hatten Mehrfachbelastungen zu schultern. Aus dem öffentlichen Raum wurden sie erst um 1900 verdrängt
 
von Waltraud Schütz

Der Begriff "Biedermeier" muss seit Beginn der Corona-Pandemie besonders oft als Metapher für den gesellschaftlichen Rückzug ins Private herhalten. Historisch werden die Jahrzehnte vor dem Ausbruch der Revolution im Frühling 1848 als Vormärz bezeichnet. Damals etablierte sich die Idee einer vermeintlich natürlichen Verschiedenheit der Geschlechter und wurde zu einem Denkmuster, das sogar noch die Gegenwart beeinflusst: Sollten sich Frauen vielleicht wieder auf ihre häusliche Rolle im Privaten besinnen? So wie vor 200 Jahren, nur diesmal in der Illusion der freien Wahl? Umringt von pausbäckigen Kindern, wie sie in scheinbarer Authentizität in den Bildern des Biedermeierkünstlers Ferdinand Georg Waldmüller dargestellt werden?

Keineswegs nur zu Hause: Frauen im Wien des 19. Jahrhunderts

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdoppelte sich die Bevölkerung Wiens auf eine halbe Million. Die gegenwärtige Konjunktur des Biedermeier-Begriffs hängt vielleicht auch mit der Suche nach Parallelen der Erfahrung mit Seuchen und Epidemien in der Vergangenheit zusammen. An der Cholera starben ab 1830 in der imperialen Hauptstadt 18.000 Menschen. Kaum bekannt ist hingegen, dass Frauen schon damals in allen Berufszweigen anzutreffen waren. Ob die Erzeugung "besonders guter Krapfen", wie es eine zeitgenössische Werbeanzeige formulierte, das Betreiben von Badeanstalten und Kaffeehäusern, die Leitung von Mädchenschulen oder Theatern, Arbeit in Handwerk, Industrie sowie "im Dienst" – die meisten Frauen mussten erwerbstätig sein.

Sozialleistungen waren zur damaligen Zeit ein unbekanntes Konzept. Anlassgesetzgebung, die im Gegensatz zur systematischen Kodifikation ad hoc auf Problemstellungen reagierte, sowie die Praxis individueller Bittgesuche ermöglichten es einigen Frauen, trotz gesellschaftlicher Beschränkungen aufgrund ihres Geschlechts ihre Handlungsspielräume beträchtlich zu erweitern.

Ein Beispiel: Die Graveurin Josepha Gerstner (1781–1843), geb. Greifeneder, wohnhaft in der Wiener Vorstadt Wieden, übersiedelte ihr Gewerbe Mitte der 1820er-Jahre zur prominenten Geschäftsadresse Burg 2 am Michaelerplatz. Sie hatte aufgrund familiär erlernter Fähigkeiten die Genehmigung erhalten, als selbstständige Graveurin zu arbeiten. Vom Zeitpunkt ihrer Geschäftsübersiedlung zur Hofburg an annoncierte sie ihre Tätigkeit nicht mehr wie zuvor mit dem Zusatz "Witwe" oder "Frauenzimmer", sondern bezeichnete sich als "Siegel- und Schrift-Graveurin". Auch andere Frauen bewarben in der "Wiener Zeitung" ausführlich ihre Produkte und Dienstleistungsangebote.

Georg Emanuel Opitz, "Wiener Szenen und Volksbeschäftigungen", Blatt 17: "Der Bandelkrämer, Die Bürgersfrau, Die Fleischhauerinn mit ihrem Knechte", 1804–1812

Adelige Korrespondenz zeugt davon, wie Frauen sich damals in der Stadt bewegten. Die in Wien wohnenden Gräfinnen waren beständig mit Besorgungen für ihre Verwandten und insbesondere ihre Schwestern beschäftigt, die an unterschiedlichen Orten in der Monarchie verheiratet waren. Ihnen waren die Geschäfte am Michaelerplatz ebenso ein Begriff wie zahlreiche Unternehmerinnen, die Mode und Accessoires erzeugten.

Urbanisierung verdrängte Frauen aus dem öffentlichen Raum

Während im frühen 19. Jahrhundert Frauen aller Schichten meist ungestört ihre Wege erledigten, fand mit der zunehmenden Urbanisierung und den Möglichkeiten kollektiver Organisation ein allmählicher Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Raum statt. Eine Bürgerliche oder Adelige, die sich um 1900 allein in der Stadt bewegte, war schnell von der Unterstellung unmoralischen Verhaltens bedroht. Frauen aus ärmeren Schichten waren schon früher diesem Vorwurf ausgesetzt. Allerdings blieben sie, solange sie eine Tätigkeit ausübten, im Alltag der Stadt oft unterhalb des Radars von selbsternannten Sittenwächtern.

Stereotype Rollenvorstellungen von Weiblichkeit hatten, je nach sozialem Hintergrund, verschiedene Spielarten. Und obwohl es vor 200 Jahren noch an Frauenbewegungen mangelte, zeugen Quellen von der Frustration von Frauen, für die andere Normen galten als für Männer. Fest steht aber: Das Biedermeier war keine Zeit der trauten Häuslichkeit. Frauen waren häufiger von Armut und prekären Lebensverhältnissen betroffen, mitunter auch jene adeliger Herkunft. Mehrfachbelastungen und häufige Gewalterfahrungen betreffen Frauen auch noch heute, und trotz besserer Rahmenbedingungen werden sie nach wie vor systematisch benachteiligt.

Waltraud Schütz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraums der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Sie forscht schon viele Jahre über Frauen im Wiener Biedermeier und entwickelt zurzeit ein weiteres Projekt zu dieser Epoche.

 

Nota. - Das Märchen von der Jahrtausende alten Unterdrückung der Frau stammt aus dem 19. Jahrhundert. Wie kann es sein, dass es bis heute mit einer Selbstverständlichkeit gilt, dass man sich fast lächerlich macht, wenn an es in Frage stellt? 

Das liegt an seiner scheinbaren Evidenz zu dem Zeitpunkt seiner Verbreitung. Im 19. Jahr-hundert begann mit der Marktwirtschaft das Zeitalter, in dem das gesellschaftliche Geschehen und mithin das Leben der Menschen in erster Linie von der Öffentlichkeit geprägt ist - eben dem Markt einerseits, und andererseits von den repäsentativen politischen Ordnungen. 

Und in der Öffentlichkeit spielten allerdings Frauen eine weit geringere Rolle als Männer.

Das liegt an der Bildungsgeschichte der Öffentlichkeit. Die bürgerliche Gesellschaft ist ent-standen, indem die traditionell überkommenen Gemeinschaften, die unter feudalen Bedingun-gen - wenn überhaupt - nur vertikal verbunden waren durch Vasallität, miteinander in horizon-talen Verkehr traten - durch Warentausch. Warentausch entsteht an den Rändern der traditio-nellen Gemeinschaften: nämlich da, wo sie einander begrenzen. Dort werden sie von den be-waffneten Männern geschützt, die den Ackerboden verteidigen - und die schweren Arbeiten besorgen: draußen. Während drinnen, in den Hauswirschaften, Verteilung und Verzehr organi-siert werden: von den Frauen.

Sodass aus den wehrhaften Männern zugleich die austauschenden Händler - und auch Räuber und Wegelagerer - werden. 

In dem Maß, wie sich die gesellschaftlichen Gewichte von den privaten Hauswirtschaften zu den öffentlichen Märkten verschieben, treten Männer auch zu Friedenszeiten in der Vorder-grund und erscheinen Frauen als "an den Herd verbannt'.

So in allergröbsen Zügen. Waltraut Schütz trägt eine Konkretisierung bei: Am deutlichsten ausgeprägt erscheint dieser Prozess in den industrialisierten Städten - und in den industria-lisierten Ländern: In England begannen nicht nur Frauen- und Kinderarbeit, sondern auch, später, die Agitation für das Frauenwahlrecht (und das Märchen von der jahrtausendewäh-renden Unterdrückung der Frau durch den Mann). Im ländlichen Österreich und im fast ebenso ländlichen Deutschland brauchte es längere Zeit, und dass es dort gerade im soge-nannten Biedermeier geschah, ist kein Zufall: Die Unterwerfung der Proletarierfrau unter die Industriearbeit und die Vertreibung der Frauen der begüterten Familien aus der Öffentlichkeit an Herd und Salon ergänzten einander.

JE

Montag, 8. März 2021

Nachtrag zu Gestern.

wildsidewalk

 

Mir kommt zu Ohren, ich hätte den Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen, den ich gestern verlinkt habe, falsch verstanden: Er sei nämlich von einer Böhmer*männin. In die FAZ sei er nur geraten, weil die Titanic ihn als nicht witzig genug abgelehnt hatte.

JE


Es ist Zeit für die Quote bei den Michelin-Sternen!


Die gegenwärtige Verteilung der Michelin-Sterne ist sexistisch.

Es müsste aber auch eine Marge für Nichtbinäre geben. Über Ethnien reden wir dann später.

 


 

 

 

Sonntag, 7. März 2021

Ganz stark.

aus welt.de, 7. 3. 2021                     Dieser übergroße Phallus kam bei Oxford ans Licht
 
Der überdimensionale Phallus stand bei den Römern nicht nur für Sex
Bei Straßenbauarbeiten wurde unweit von Oxford ein antiker Mühlstein entdeckt. Der übergroße Phallus, der auf ihm prangt, sollte dem Mehl wohl Kraft und Schutz verleihen. Männliche Geschlechtsorgane waren im Alltag omnipräsent.

Wie zahlreiche Funde in Pompeji belegen, waren die Bewohner des Römischen Reiches buchstäblich von Sex-Symbolen umgeben. Als Kunstwerke, Kultgegenstände, Graffiti, Erregungshilfen oder Wegweiser zu eindeutigen Angeboten – allein in der Landstadt am Vesuv zählte man mehrere Dutzend Bordelle – waren Privathäuser und öffentlicher Raum von realistischen Darstellungen geprägt.

Wirtschaftsbetriebe machten da keine Ausnahme. Das zeigt ein neuer Fund in Großbritannien. Unweit von Oxford stießen Archäologen bei Vorarbeiten für einen Straßenbau auf einen Mühlstein, auf dem ein überdimensionaler Phallus prangt. „Als eines von nur vier bekannten Beispielen für römisch-britische Mühlsteine, die auf diese Weise dekoriert wurden, handelt es sich um einen bedeutenden Fund“, sagt die Archäologin Ruth Shaffrey vom Denkmalschutz Oxford South.

Der Mühlstein wirft ein Licht auf die Bedeutung sexueller Darstellungen im Alltagsleben der Römer. Zum einen wird sich die Gemeinschaft, für die in der Mühle der Weizen gemahlen wurde, Schutz für das Mehl erwartet haben, sagt Shaffrey. Zum anderen dürfte der Phallus für die lebensspendende Kraft stehen, die das gemahlene Getreide den Kunden verleihen sollte.


Dieses Bild schmückte ein Privathaus in Pompeji

Denn das Glied war seit Alters her mit Fruchtbarkeitskulten verbunden, als Kraftspender, aber auch als Glücksbringer und Abwender von Krankheiten und anderen Übeln. In zumeist erigierter Form zeichnete es die männliche Entourage des griechischen Gottes Dionysos aus, der ja nicht nur für das Wachsen des Weines, sondern auch für Fruchtbarkeit in geradezu exzessiver Weise verantwortlich war, was ihn auch zum Beschützer ekstatischer Veranstaltungen wie Theater, Musik, Feste und Orgien machte. Mit dem realistischen Phallus hob sich die Gefolgschaft des Dionysos deutlich ab von den Statuen nackter Männer, deren primäre Geschlechtsorgane bewusst zurückhaltend gestaltet waren.

Ein anderer Gott, dessen erigiertes Glied vor allem in der Öffentlichkeit präsent war, war Hermes, auch bekannt als Bote des Göttervaters Zeus und Betreuer von Reisenden wie Händlern und Räubern. Damit aber trennten seine Statuen, die sogenannten Hermen, auch die bewohnte Sphäre von unbehausten Wegen, Feldern und Bergen jenseits der Stadtgrenze ab.

In Athen etwa markierten imponierend abschreckende Stelen mit prallen Phallus-Darstellungen Grundstücke, Quartiere und Straßen. Wie ernst sie genommen wurden, zeigt der Skandal, der sich 415 v. Chr. ereignete, als die Athener Flotte ausgerüstet wurde, um zur Eroberung der Stadt Syrakus auf Sizilien aufzubrechen. Zahlreiche Hermen waren umgestürzt worden, Köpfe und Gemächt wurden verstümmelt.

Das wurde als Frevel gegen den Hüter des Weges aufgefasst, der nun gegen den geplanten Feldzug vorgehen würde. Da der Anschlag nahezu alle Hermen in der Stadt erfasst hatte, musste eine Organisation dahinterstehen. „Als Anzeichen einer Verschwörung zu Aufruhr und Sturz der Volksherrschaft“, so der Historiker Thukydides, wurde der Anschlag denn auch gedeutet, zahlreiche Todesstrafen folgten. Trotzdem sollte die Expedition nach Sizilien in einer Katastrophe enden.

Diese Bedeutung dürften die Bewohner der römischen Provinz Britannien ihrem Mühlstein wohl nicht beigemessen haben. Sie waren froh, dass er sich kraftvoll drehte, denn das bedeutete, dass die Ernte gut gewesen war. Die einzigen, die Anstoß daran nahmen, waren offensichtlich die Christen. Ihnen ging das allgegenwärtige Sex-Angebot im römischen Alltag, das im Hinterzimmer von Tavernen oder Umkleideräumen der Thermen schnell konkret werden konnte, doch sehr gegen die Moral.

Samstag, 6. März 2021

Wo das Gendern sinnvoll ist.

Bellini

aus derStandard.at, 3.3.2021

Gendermedizin: 
Lehren, dass Frauen und Männer anders krank sind
Die Gendermedizin steht in den meisten Studienplänen angehender Medizinerinnen und Mediziner. Ihre Vermittlung hängt auch vom Willen der Lehrenden ab  

von Selina Thaler

Frauen und Männer sind anders krank. Das ist die Erkenntnis einer relativ jungen Forschungsdisziplin: der Gendermedizin. Diese beschäftigt sich mit den biologischen und sozialen Geschlechterunterschieden bei Krankheiten und deren Behandlung.

Doch bei vielen Ärztinnen und Ärzten dürfte das noch nicht angekommen sein. Zum Beispiel sterben Frauen öfter an Herzinfarkten, weil diese nicht erkannt werden. Sie haben eher "untypische" Symptome wie Schwäche, Übelkeit und Oberbauchschmerzen statt Brustschmerz und Atemnot. Und bei Herzkranken erhöht das Medikament Digoxin die Überlebenschancen bei Männern – verringert sie aber bei Frauen. Umgekehrt bleiben Depressionen bei Männern lange unerkannt.

Nicht jedes Medikament wirkt gleich: Bei Herzkranken kann Digoxin die Lebenschancen von Männern steigern, jene von Frauen allerdings verringern.

Damit das nicht passiert, werden angehende Medizinerinnen und Mediziner seit einigen Jahren im Studium in Sachen Gendermedizin sensibilisiert. In den meisten Lehrplänen der acht medizinischen Unis und Privatunis ist diese mittlerweile verankert, als Ausbildungsziel, Pflichtkurs und/oder Wahlfach. "Das ist eine Querschnittsmaterie und sollte in allen Fächern des Medizinstudiums gelehrt werden", sagt Alexandra Kautzky-Willer, Gendermedizinerin an der Med-Uni Wien. Ihre Uni hat sich bereits im Mission-Statement der Geschlechterforschung verschrieben.

Das ist auch Kautzky-Willers Verdienst: Sie gilt als Pionierin der Geschlechterforschung. 2010 hat sie an der Med-Uni Wien die erste Professur für Gendermedizin im deutschsprachigen Raum angetreten und dort auch die Gender Medicine Unit aufgebaut, die sie leitet. Die Abteilung ist auch mit der Taskforce "Gender und Diversity im Curriculum" in die Entwicklung der Lehrpläne eingebunden. Hier passen Lehrende und Forschende stetig Curriculum und Lehrbücher in puncto Gendermedizin, aber auch im Hinblick auf Ethnien an.

Pflichtvorlesung und stereotype Lehrbücher

Konkret gibt es an der Med-Uni Wien am Studienanfang eine Pflichtvorlesung zu Gendermainstreaming und -medizin. "Da sensibilisieren wir, dass man darauf achtet, dass biologische, psychosoziale oder epigenetische Geschlechterunterschiede nicht egal sind", sagt Kautzky-Willer. Und: "Dass es nicht nur binäre Geschlechter – also klassisch Mann und Frau – gibt, sondern auch Diversität, einschließlich Intersex-Personen und Transsexualität."

Auch in der Inneren Medizin gebe es im Lehrbuch ein eigenes Kapitel zur Gendermedizin, auch in der Kardiologie, Endokrinologie, Psychologie sei sie ein Thema. Und bei der Arzt-Patienten-Kommunikation müsse darauf hingewiesen werden. "Aber es ist sicher auch bei uns noch nicht überall gleich gut vertreten und muss kontinuierlich ausgebaut werden", räumt die Gendermedizinerin ein.

Fallbasiertes Lernen sei für die Vermittlung essenziell, und dass Lehrbücher keine stereotypen Fälle enthalten, betont Kautzky-Willer. Also dass zum Beispiel auf die Unterschiede bei Herzinfarkten eingegangen wird. Oder nicht nur die Mutter, sondern auch der Alleinerzieher gezeigt werden. "In den Lernunterlagen ist oft noch relativ wenig davon, auch weil sie älter sind."

Hängt von Vortragenden ab

Es sei auch wichtig, zu lehren, dass es "die eine Frau gar nicht gibt, den Mann noch eher". Zyklus, hormonelle Verhütung, Hormonersatztherapien, Schwangerschaft oder Stillen machen aus der Hälfte der Bevölkerung einzelne Gruppen, die unterschiedliche Behandlungen brauchen.

Olga Fotiadis, Medizinstudentin im achten Semester, erinnert sich nur an wenige Lehrveranstaltungen, wo auf die gendermedizinschen Unterschiede eingegangen wurde. Die Referentin für Gesellschafts- und Gesundheitspolitik der Hochschulvertretung an der Med-Uni Wien wünscht sich, dass Genderthemen mehr mit den Lehrblöcken verknüpft werden. Zudem "hängt es stark von den Vortragenden ab", ob sie überhaupt thematisiert werden.

Dem stimmt Kautzky-Willer zu: "Es gibt Vortragende, die sich besonders damit beschäftigen, und jene, denen das egal ist, lassen das unter den Tisch fallen." Immer wieder im Studium davon zu hören sei aber noch kein Garant, dass die Gendermedizin auch in der späteren Arztkarriere berücksichtigt wird, sagt Kautzky-Willer. Man müsse sich auch fortbilden.

Interesse steigt

Grundsätzlich stehe die Med-Uni Wien aber laut Kautzky-Willer gut da und habe "eine Vorreiterrolle" in der Unilandschaft. Nur in Wien und an der Med-Uni Innsbruck gibt es Professuren für Gendermedizin. Die anderen Unis "hinken da noch ein bisschen nach". Im deutschsprachigen Raum könnten sich Österreichs Unis aber sehen lassen.

Im Wissenschaftsministerium habe man jedenfalls Interesse daran, dass die Gendermedizin an allen Med-Unis vertreten ist, sagt Kautzky-Willer. Auch das Interesse der Studierenden werde "zunehmend größer". Das merke die Gendermedizinerin auch an der gesteigerten Anzahl an Diplomarbeiten und Dissertationen dazu sowie an PhD-Bewerbungen. Und international werde vermehrt geforscht: "Das ist kein Außenseiterding mehr, das ein paar Feministinnen machen – das ist Wissenschaft."

Nachholbedarf gebe es trotzdem – und zwar überall. Selbst dort, wo die Gendermedizin ihren Ursprung genommen hat, in der Kardiologie, sagt die Medizinerin. "Die Gendermedizin ist erst dann angekommen, wenn sie in der Praxis gelebt wird und die einzelne Patientin, der einzelne Patient davon profitieren." 

 

Nota. - 'Lernen, dass Frauen und Männer anders krank sind': Meine Überschrift ist gar nicht sarkastisch gemeint - wenn sie auch erst durch ihre Umkehrung stimmt. In der Medizin ist - denn sie ist eine uralte Disziplin, deren Praxis viel früher da war als ihre Wissenschaft, der sie überdies lange widerstanden hat - der Unterschied zwischen Männern und Frauen jahrtausen-delang übersehen worden. Jetzt, wo der Geschlechtsunterschied allenthalben zum 'sozialen Konstrukt' vermindert wird, wird auch in der ärztlichen Praxis genauer hingeschaut. Und siehe da: Bei der Suche nach den Sozialisationsfolgen springen zugleich auch die physiologischen Unterschiede ins Auge!

Kein intelligenter Mensch wird den Anteil von Sozial- und Kulturgeschichte an den vorherr-schenden Geschlechterrollen leugnen. Es ist wissenschaftlich ergiebig und sozialpolitisch wünschenswert, ihn so deutlich wie möglich herauszuarbeiten - weil doch anders nicht zu erkennen ist, welche Distinktionen natürlich, nämlich physiologisch begründet sind. 

Dass es aber 'den einen Mann' schon eher gäbe als die eine Frau, erscheint mir doch sehr als ein - halten Sie sich fest - soziales Konstrukt, und möchte wohl gut ebenso der Genderschere verfallen.

JE