aus FAZ.NET, 25.06.2020
Das Problem sind nicht die Besten
Physik, Informatik, Ingenieurwissenschaften – in diesen Fächern
herrscht nach wie vor Frauenmangel. Interessanterweise variiert die
Geschlechterverteilung aber deutlich, sobald nach Leistung differenziert
wird. Daraus folgt ein Problem.
Ein Kommentar von
Sibylle Anderl
Man
kann die Menschen, ganz grob zumindest, in zwei Gruppen einteilen:
Diejenigen, die, von wiederkehrenden Selbst-zweifeln geplagt, fortwährend
mit den eigenen Fähigkeiten hadern. Und diejenigen, die sich und ihr
Potential als so über-ragend einschätzen, dass kritische Rückmeldungen
sie gar nicht erst erreichen. Psychologische Studien haben gezeigt, dass
sich in ersterer Gruppe insbesondere die Kompetenten, in letzterer die
Inkompetenten tummeln. Man kennt dieses Doppel-Phänomen heute unter den
Namen „Hochstaplersyndrom“ sowie „Dunning-Kruger-Effekt“.
Dass eine
Variante dieser komplexen Verschränkung von Leistungsfähigkeit und
Selbstvertrauen auch eine Rolle spielen könnte, wenn es darum geht, das
Geschlechter-Ungleichgewicht in den Fächern Physik,
Ingenieurswissenschaften und Informatik (englisch: „Pecs“) zu erklären,
legt nun eine in „Science“ vorgestellte Studie
nahe. Amerikanische Sozialwis-senschaftler analysierten dafür Daten, die
über einen Zeitraum von sieben Jahren von knapp 6000 repräsentativ
ausge-wählten amerikanischen Schülern ab der neunten Klasse gesammelt
wurden. Diese Daten erlaubten, die Entwicklung der Berufswünsche und
Leistungen während der Schul- und Studienzeit zu untersuchen. Nach der
Highschool verfolgten demnach viermal so viele Jungs den Plan, einen
Pecs-Abschluss zu machen, wie Mädchen.
Unter weniger Talentierten überwiegen Männer deutlich
Interessanterweise variierte die
Geschlechterverteilung aber deutlich, sobald die Gruppe der
Pecs-Interessenten in Lei-stungsgruppen differenziert wurde. Unter den
weniger Talentierten überwogen die Männer deutlich, unter den
Leistungs-starken gab es dagegen beinah eine Gleichverteilung. Noch
eindrücklicher waren die Daten bei denjenigen Schülern, die nach der
Highschool zunächst keinen Pecs-Abschluss angestrebt hatten: Unter
diesen war die Wahrscheinlichkeit der ein Prozent leistungsschwächsten
Männer dafür, später doch ein Pecs-Studium zu absolvieren, so hoch wie
die der besten ein Prozent Frauen.
Typische
Erkläransätze für die Scheu von Frauen vor Pecs-Fächern – andere
vorherrschende Talente etwa oder andere Schwerpunktsetzungen in der
Lebensplanung – erklärten den Wissenschaftlern zufolge nur die
beobachtete Geschlech-terdifferenz in der Gruppe der Leistungsstarken,
nicht aber den größeren Unterschied bei den Leistungsschwächeren.
Dieses
Ergebnis sei relevant für die Beurteilung der Geschlechtergerechtigkeit
im Lauf der Karrierestufen: Selbst ein konstant bleibender Frauenanteil
im Laufe der wissenschaftlichen Karriere bedeute demnach vor dem
Hintergrund der unterschiedlichen Leistungsverteilungen keine
gleichberechtigte Behandlung.
Ein anderes
Fazit der Autoren mag überraschend klingen: Wer mehr Frauen in
Pecs-Fächer locken will, der sollte sich nicht nur an die Besten,
sondern auch an die durchschnittlich Begabten richten, denn bei
Letzteren sei das Frauendefizit am größten. Und noch ein weiteres
Problem nennt die Studie: Da sich nur die talentiertesten Frauen in
Pecs-Fächern durchsetzen, fehlten den weniger begabten Frauen schlicht
die Vorbilder.
Nota. - Es kann einer Gesellschaft ja nicht gleichgültig sein, wenn Talente durch eingebildete oder reale Barrieren an ihrer Entfaltung gehindert werden. Ob man sich über deren Herkunft einig wird oder nicht - beseitigt werden müssen sie jeden-falls.
Zumal die mindergegabten, aber anmaßend Zudringlichen nicht nur begabteren Frauen den Weg versperren; mit Selbst-zweifeln hadern auch begabte Männer. Frau Anderl referiert indes auch den Wunsch, gerade den Anteil der mäßigbegab-ten Frauen zu erhöhen. Die Zweckmäßigkeit springt nicht ins Auge; aber die allenthalben verbreitete Unsitte des Quotie-rens ist der längst gefundene probate Weg. Anmaßung und Impertinenz kriegt man bei den Maßigen gratis dazu. Dann wird geschlechtergerecht versperrt.
JE