Mittwoch, 14. November 2018

Zu männlich?

aus Die Presse, Wien,

Autismus:
Mangelt dem extrem männlichen Gehirn Zink?
Der defizitäre Sozialbezug hat mit Geschlechtsdifferenzen im Gehirn zu tun, das wird von einer breiten Studie bestätigt. Unklar bleibt weiter der Ursprung des Leidens, ein Verdacht richtet sich auf Zink.



„Sind Sie autistisch?“ Das fragte im Frühjahr 2017 der britische TV-Sender Channel 4 auf einer Website (zur Vorberei- tung einer Dokumentation), es folgten Tests und Fragen nach Daten zur Person. 695.000 Menschen nahmen teil, darunter 35.648, die sich als Autisten deklarierten, weil sie entsprechende Diagnosen hatten, das waren 5,45 Prozent, viel mehr als in der Gesamtbevölkerung – etwa ein Prozent –, so ganz von der Welt abgeschnitten sind die nicht, bei denen es im Kern ihres breit gefächerten Leidens um mangelnden sozialen Bezug geht, von klein auf, autistische Kinder nehmen oft selbst mit ihren Müttern keinen Augenkontakt auf.

Woher das kommt, ist völlig unklar, in den 50er-Jahren vermutete der in den USA höchst einflussreiche Österreicher Leo Kanner emotionale Defizite in der Erziehung dahinter – „Kühlschrankmütter“ –, später setzte man auf Gene und fand auch Kandidaten, aber keine zentralen. Alternativ suchte Hans Asperger, auch er Österreicher, einen Zugang über den Charakter: Von Autismus sind mehr Männer als Frauen geschlagen – zwei bis drei Mal soviel –, und in seiner Praxis als Kinderpsychiater erlebte Asperger unter Autismuspatienten viele „kleine Professoren“. Deshalb sah er hinter Autismus „das männliche Muster, ins Extrem übertrieben“: Dieses Muster fühlt sich nicht in die Welt ein, sondern will Ordnung in sie bringen, mit Regeln und Systemen.

Es geriet in Vergessenheit, zwei Theorien griffen es später auf, die vom Empathizing-Systemizing (E-S) und die vom „Extrem Male Brain“ (EMB), sie gehen davon aus, dass Frauen über mehr Empathie verfügen – Einfühlungsvermögen, intellektuelles wie emotionales – und Männer über mehr Ordnungssinn, und dass Letzterer sich bei Autismus verstärkt zeigt. Das hat sich oft bestätigt, an kleinen Samples, nun bot Channel 4 Daten in Hülle und Fülle, und Simon Baron Cohen, Autismusforscher in Oxford, nutzte die Chance und fand die Hypothesen bestätigt.

Systematisierung vs. Empathie

Und zwar auf beiden Ebenen: Die Geschlechtsdifferenz im Gehirn zeigt sich in der Gesamtbevölkerung. Und sie zeigt sich ausgeprägter bei Autisten: Je höher der in Tests gemessene Systematisierungs-Quotient (SZ) ist, desto niedriger ist der Empathie-Quotient (EQ), und desto größer ist das Risiko, an Autismus zu erkranken.

Das heißt allerdings nicht, dass Autisten jegliche Empathie fehlt: Der EQ misst das intellektuelle Einfühlungsvermögen, nicht das emotionale, über das verfügen Autisten (umgekehrt ist es bei Psychopathen). Und das heißt auch nicht, dass (nur) jeder Mann gefährdet ist: Auch Frauen können einen hohen SZ haben und einen niederen EQ. Das heißt allerdings, dass die Folgen bis in die Berufswahl reichen: Wer Stem betreibt – Science, Technology, Engineering, Mathematics –, ist stärker gefährdet (Pnas 12. 11.).

Über die Ursache des Leidens ist damit allerdings nichts gewonnen, Baron Cohen sieht zu viel männliches Sexualhormon im Uterus dahinter. Ein anderer Verdacht richtet sich länger schon gegen Zink bzw. seinen Mangel. Er wird nun von Sally Kim (Stanford) bekräftigt: Sie hat an Zellkulturen gezeigt, dass und wie Zink bei der Bildung von Synapsen – den Verbindungen zwischen Gehirnzellen – mitspielt, und zwar in der frühen Entwicklung des Gehirns (Frontiers in Molecular Neuroscience 9. 11.). „Unser Befund verbindet den Zinkgehalt in Hirnzellen mit der Entwicklung von Autismus“, schließt Kim, rät aber dringlich von vorsorglicher Selbstmedikation ab: Es gibt keine klinischen Tests an Menschen – und Zink kann auch die Gesundheit gefährden, etwa die Aufnahme von Kupfer verringern und dadurch Anämie bringen.

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