Unser
Autor hat entdeckt, dass er offensichtlich sexistisch veranlagt ist:
Ausdrücke wie «Schmetterlingsforscherinnen und Schmetterlingsforscher»
bringen seinen Schreibfluss zum versiegen. Auch wenn es ihm nicht
schmeichelt, kann er damit leben.
von Patrick Imhasly
Ich
bin ein Sexist. Allerdings ist mir das erst vor ein paar Wochen bewusst
geworden. Eine sehr gute Freundin machte mir an einem vorerst
entspannten Jassabend klar, dass sie sich von meinen Texten für diese
Zeitung nicht angesprochen fühle. Der Grund: Ich verwendete in meinen
Artikeln die weibliche Form meistens nicht explizit – selbst wenn Frauen
mitgemeint seien. Sie monierte weiter, dass ich nicht einmal konsequent
geschlechtsneutral formulierte.
Ich
muss gestehen: Die Doppelnennung der beiden Geschlechter –
«Schmetterlingsforscherinnen und Schmetterlingsforscher» – bringt meinen
Schreibfluss zum Versiegen, verklemmte Konstrukte im Stile von «die
Zuhörenden waren begeistert von den Singenden» malträtieren mein
Sprachgefühl. Und von Verrenkungen wie dem Gender-Gap in
«Verkäufer_innen» oder dem Gender-Sternchen in «d** Lese**» bin ich
intellektuell überfordert.
Stattdessen
halte ich mich an den gesunden Menschenverstand und rede zum Beispiel
von «Frauenärztinnen», weil auf dem medizinischen Fachgebiet der
Gynäkologie tatsächlich mehrheitlich Frauen tätig sind. Die Erkenntnis,
dass ich in meiner sprachlichen Ausdrucksweise offensichtlich sexistisch
veranlagt bin, schmeichelt mir nicht, aber damit kann ich leben.
In
erster Linie bin ich aber erstaunt darüber, dass solche Themen
überhaupt noch durch die Geschlechterdebatte geistern. Ich dachte, über
die normierende Kraft der Grammatik habe man in den siebziger Jahren zum
letzten Mal gestritten. Das war ein gewaltiger Irrtum: Jüngst ist es an
der Universität Bern zum Eklat gekommen, weil die Hochschule
schweizweit mit Plakaten für ihre Master-Informationstage warb, auf
denen der Slogan «Werden auch Sie Meister Ihres Fachs» zu lesen war.
Genderforscherinnen waren empört über die Verwendung der männlichen
Formulierung, die darüber hinaus mit einem japanischen Bogenschützen
illustriert war. Unglücklicherweise verstiessen die
Marketingverantwortlichen der Universität damit gegen den eigenen
«Leitfaden für geschlechtergerechte Sprache», der in derselben Woche
publiziert worden war.
Ich war
auch naiv genug zu glauben, die Zeiten seien längst vorbei, wo
Unterschiede zwischen den Geschlechtern bloss soziale Konstrukte waren,
Männer als defizitäre Kategorie galten oder Väter nur einen indirekten
Wert als finanzielle Absicherung der Familie hatten. Doch noch im
letzten Oktober forderten in Deutschland während einer Aktionswoche
Dutzende von Studentinnen- und Studentenvertretungen und sogar ein
Uni-Institut in Berlin «All gender welcome Toiletten». Mit dieser
Massnahme soll die «strukturelle Gewalt durch binäre zwangsgegenderte
öffentliche Klos» gebrochen werden, wie die «Süddeutsche Zeitung»
schrieb.
Und in England
wollen Forscherinnen der University of East Anglia allen Ernstes
Gender-Stereotypen im Sport überwinden, indem sie junge Männer in
Glitzerkleidchen stecken und gemischte Cheerleading-Teams bilden. Die
ersten Erfahrungen seien positiv, so die Fachfrauen: Dem Team zuliebe
freundeten sich die Männer auch mit Tanzbewegungen an, die gemeinhin
eher als weiblich gälten.
Warum
diese Gefechte auf Nebenschauplätzen? Frauen und Männer sind nun einmal
verschieden, und das ist gut so. Tatsache ist: Die Frauen wurden jahrhundertelang unterdrückt, dann waren sie jahrzehntelang in der
Opposition, wo frau sich mit radikalen Positionen Gehör verschaffen
musste. Heute aber sind die Frauen in unterschiedlichsten Rollen in der
Gesellschaft erfolgreich, und Eigenschaften wie Flexibilität und soziale
Intelligenz sind auf dem Arbeitsmarkt gefragter denn je. Der
Geschlechterkampf mittels Sprachdoktrin und Gleichmacherei hat sich
überholt. Im dritten Jahrtausend geht es nach den Worten endlich um
Taten: um gleichen Lohn für gleiche Arbeit oder um faire Aufteilung der
Familien- und Erwerbsarbeit. Davon werden auch die
Schmetterlingsforscherinnen profitieren.
Patrick Imhasly ist Redaktor im Ressort Wissen der «NZZ am Sonntag».
Nota. - Haben sich deutsche Männer je darüber beschwert, dass sie im Plural alle die hißen und sogvar auf dem Standesamt, wo sie (!) es besser wissen müssten, mit Sie angeredet werden? Mir verursacht es täglich Seelenpein, aber mann darf ja als Mann nix sagen.
Was ist mit den EngländerN? Ein englischer man muss erst einen he-man abgeben, wenn er ident-autentisch sein will, sonst könnte er zum erzwungenen Transgender werden. Das ist doch nicht gerecht, wo bleibt da der Schutz der Minderheiten (49%)?
Ganz schlimm sind die ArabeR dran. In ihrer Sprache gibt es kein grammatisches Geschlecht,nichtmal grammatischeS Gender. Die strukturelle Gewalt einer geschlechtsneutralen Sprache erweist sich in der sprichwörtlichen Gleichstellung von Mann und und Frau(ich versuche mich zu emanpizieren; früher hätte ich Frau und Mann geschrieben) in all den Ländern, wo Allah weder männlich noch weiblich ist. JE
Der Mann im KindeSehen
Buben einen Bagger, drehen sie durch. Auch Gender-Pädagogik scheint
nichts daran zu ändern. Warum? Wir haben tief gegraben und interessante
Theorien ans Licht gebracht.
von Barbara Höfler
In
englischsprachigen Ländern ist «Moon River» von Audrey Hepburn das
meistgesungene Lied zum Einschlafen. In deutschsprachigen Kinderzimmern
ist es «Schlaf Kindlein, schlaf». Bei uns zu Hause hauche ich jeden
Abend im Tempo des Adagietto aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie folgende
Zeilen ins Ohr meines Sohnes: «Mir fliegt der Draht aus der Mütze, und
mein Bruch tritt raus. So ’n Krach hält doch kein Mensch mehr aus. Ich
schau aus’m Fenster und glaub, ich schiel, weil mein Gartenzaun grad in
sich zusammenfiel.»
Das ist
«Bodo mit dem Bagger» von Mike Krüger, 1983. Mein Sohn wird nächstens
vier. Seit über drei Jahren singe ich jeden Abend Bodo. Würde ich Bodo
nicht singen, würde das Kind nicht einschlafen. Eines der schlechtesten
Lieder der achtziger Jahre ist mein persönlicher Tinnitus. Bodo taucht
in den unpassendsten Situationen in meinem Kopf auf. Und Baumaschinen
sind seine RAL-1007-gelben optischen Brüder. Seit das Kind da ist,
schaufeln an jeder Strassenecke Bagger, parkieren in jeder Senke welche,
lugen welche hinter jeder Garage hervor. Enthusiastisch informiert mich
der Sohn auch über jeden Radlader, Kran, Muldenkipper und Betonmischer.
Baumaschinen überall! Eines Tages werde ich wahnsinnig. Aber ich bin
nicht allein. Ich teile das Massenschicksal aller Eltern, deren Kind ein
Bub ist.
Mähdrescher und
Traktoren Im gesamten
Bekanntenkreis gibt es keinen einzigen Buben, der nicht auf Baustellen
steht. Allenfalls unterscheidet sich die Ausprägung graduell. Allenfalls
stehen manche zusätzlich auf Mähdrescher und Traktoren. Im Kern ist das
aber dasselbe: die ultimative Fetischisierung grosser, mächtiger
Maschinen, die alles unter sich zermalmen könnten. Und ein damit
einhergehendes, fast mystisches Verlangen nach immer noch mehr
Ikonografie: Baggerbettwäsche, Schubraupen-Strumpfhosen, elektrische
Zahnbürsten von Bob dem Baumeister und LKW-Ladungen voll
Baustellenfahrzeugen.
These 1: Weite Teile des Nachwuchses werden mit Baustellen in der Schwangerschaft angefixt.
Praktisch
vom Tag null an scheinen Buben zu ahnen, dass Baustellen der
sinnstiftende Faktor ihres Lebens sein werden. Wie Schwämme saugen sie
unnützes Wissen über Raupenketten, Stemmmeissel oder das
Mischungsverhältnis von Verfüllbeton auf. Viele können gerade erst Mama
sagen, bringen logopädisch einwandfrei aber schon Caterpillar
Cat-Rad-Dozer 854K über die Lippen. Es ist eines der grössten Rätsel der
modernen Pädagogik – zumindest meiner –, wie es dazu kommt.
Grossprojekt
«Neue Frau»
Am Vater liegt es
bei uns nicht. Wir leben getrennt, und er ist Germanist. Die Manie
unseres Sohnes haben wir weder angezettelt noch gefördert. Verhindert
aber auch nicht. Denn am Unterfangen, den Spielzeuggeschmack
umzugendern, haben sich schon andere abgearbeitet, etwa die Autorin des
Buches «Typisch Mädchen . . .». Die Richterin Marianne Grabrucker führte
darin ab den achtziger Jahren Tagebuch über das Grossprojekt, ihre
Tochter geschlechtsneutral zur «neuen Frau» zu erziehen. Ihr grösster
Erfolg war es, die Zweijährige eines Tages zaubern zu hören: «Hokuspokus
Fidibus, dreimal schwarze Katerin». Ungebremst verfiel das Mädchen
dennoch Prinzessinnen, Röcken und langen Haaren. Grabrucker 1996
ernüchtert: Man kann es nicht schaffen. Zu gross ist die
Stereotypenprägung durch die Umwelt, die Spielzeugindustrie, die Medien
und andere Kinder.
Grabruckers
Sozialisations-These hat nur einen Haken: Für baustellenbesessene Buben
kommt sie an die sechzig Jahre zu spät. Denn die letzte Epoche, in der
Bauarbeiter etwas galten, erlebte die westeuropäische Gesellschaft nach
dem Zweiten Weltkrieg. In der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft
von heute schaut man zu Feuerwehrmännern, Gehirnchirurgen und
Justizvollzugsbeamten auf. Bagger- und Kranführer, Maurer und LKW-Fahrer
tauchen in entsprechenden Rankings zum Berufsansehen nicht einmal auf.
Dennoch stehen sie für Kinder weit über Jesus, Mohammed, Vater und
Mutter zusammen. Sie verehren sie wie Heilige. Baugruben sind ihre
Transzendenz. Das hat nun aber beim besten Willen nichts mehr mit
Sozialisation zu tun. Doch womit dann?
Zunächst
die Ergebnisse meiner eigenen vierjährigen Feldforschung. These 1:
Weite Teile des hiesigen Nachwuchses werden mit Baustellen bereits in
der Schwangerschaft, spätestens aber in den ersten Lebensmonaten
angefixt. Kommt ein Kind ins Haus, ist es hierzulande Tradition, auch
die Wohnsituation drastisch zu verändern. Mindestens erfolgt ein Umbau,
wenn nicht ein Hausbau. Bei uns war es die Grundsanierung eines
verkommenen Häuschens, in dem mangels Heizung zuvor stets das Nutella
gefroren ist.
These 2: Eine Baustelle ist die perfekte Metapher für die Lebenssituation kleiner Kinder.
Auch
im Leben meines Sohnes waren bis dahin nur Hebammen, Grosseltern und
Freunde aufgetreten. Nun rollten Presslufthammer und der erste
Mini-Bagger an. Der Baggerführer hockte sich den Halbjährigen routiniert
auf den Schoss – das Kind brüllte vor Angst. Angst, die sich in pure
Devotion verwandelte, planmässig nach Freud.
Das
Lieblingsbuch meines Kindes ist heute das 250-seitige Standardwerk
«Spezialfahrzeuge. Giganten und Sonderkonstruktionen». Die
Lieblingsabbildung: der Liebherr-Mining-Muldenkipper T282. 15 Meter
lang, 8 Meter hoch. Ladefläche 364 Tonnen. Furchteinflössender geht’s
nicht. Toller auch nicht.
Perfekte Metapher
Frühkindliche
Prägung ist das eine. Das andere ist mitwachsende Leidenschaft. Die
Baustelle bietet noch auf Jahre Identifikationspotenzial. These 2: Die
Baustelle ist die perfekte Metapher der Lebenssituation kleiner Kinder.
Sämtliche ihrer Bereiche und Aufgaben werden von Absperrbändern
begrenzt verhandelt. Begeben wir uns auf Augenhöhe des Kindes, ist das
Universum Haushalt der wohl erste Erlebnisraum. Die strukturelle
Ähnlichkeit zur Baustelle ist überoffensichtlich. Hier wie dort wursteln
Personen schwer beschäftigt ohne erkennbares Ziel herum. Überall droht
Gefahr. Im Haushalt herrscht auch eine ähnliche Hierarchie wie auf dem
Bau: In Bilderbüchern neuerer Zeit ist der Architekt genderkonform immer
eine Frau. Auch im Familiengefüge hat die Mutter den Masterplan. Und
ihr zur Seite stets: der Bauleiter. Tut nichts, steht prüfend herum, wie
das Über-Ich, das irgendwann einmal eine Rolle spielt. Doch jetzt
nicht.
Jetzt ist die
Hauptperson nämlich der Baggerfahrer. Der ist das Kind selbst. Meines
hebelt vor dem Spiel aus jedem neuen Bagger den Fahrer raus. Es hält
sich selbst für den legitimen Insassen. Darin unterscheidet sich das
Baustellenspiel auch grundlegend vom Spiel mit einem Puppenhaus. Im
Puppenhaus ist man der allwissende Erzähler, schlüpft in Rollen, übt
Empathie. Der Baggerführer aber ist die eigene Actionfigur. Alle anderen
sind Deko. Die One-Man-Show des totalen Ichs. Sein Leitthema: etwas
Neues schaffen. Das Kinderthema per se. Kindheit ist der absolute
Aufbaumodus. Ein Status quo, der in kein Bild besser passt als in das
von Stein auf Stein, male fein, das Häuschen wird bald fertig sein.
Es
gibt weitere Mikrothemen der Kinderwelt, die sich kaum zufällig in der
Baustelle spiegeln. In Bilderbüchern machen permanent Bauarbeiter Pause.
Pause – das trinkflaschen- und sandwichbewehrte Highlight des
Kindergartenalltags. Überhaupt bedarf es beim Megathema Essen keinerlei
Abstraktionsleistung, wenn Baggerschaufeln im Fachjargon Tieflöffel
heissen. Es geht ums Hineinschaufeln und Reinbaggern. Am besten mit den
Zweischalengreifern. Die hängen an einem Terminator-Arm, der allmächtig
ist, nicht wie das eigene Ärmchen dünn und schwach. Mit Hebeln
hantieren, links, rechts, vor – der finale Traum eines jeden Menschen,
dessen Gehirnhälften noch nicht ganz verschaltet sind, der aber schon
ahnt, dass die Reise dahin geht. Auf der Spielzeugbaustelle gelingt das
alles bereits mit links.
Die
Baustelle, kurzum, ist Abbildung und Vorwegnahme der ganzen
Kinderexistenz. Das Kinderleben ist eine Baustelle. Und wie immer
verschafft Satisfaktion auch, dass sie in echt das Spiel der Grossen
ist. Hier stösst meine Theorie allerdings auch schon an ihre Grenzen.
Denn nach den Kindern sind die grössten Fans der Bagger erwachsene
Männer. Essen sollten die bereits gelernt haben, Entwicklung ist oftmals
auch nicht mehr ihr Ding. Das Gipfeltreffen der Männer findet dennoch
alle drei Jahre in München statt. Auf der Bauma, der grössten
Baumaschinenmesse der Welt.
Messe-Dienstag.
11 Uhr. Ich und der Sohn in einem Strom von einhunderttausend Mann und
ein paar Zerquetschten (Frauen). Als zähe Masse wälzt man über ein
Freigelände von 85 Fussballfeldern. Alle paar Meter ein anderer
Radlader, Kran oder Abrissbagger. Der Liebherr-Muldenkipper T828 ist
auch mit von der Partie. Fünfzigjährige rennen auf ihn zu wie Kinder
nach drei Wochen Regen auf einen Sandkasten. Jubilierend. Immer wieder
mogeln sich welche in umstehende Bagger, in denen sie sitzen wie auf
einem Massagestuhl. Ganz still. Hebel und Armaturen betrachtend. Völlig
dem Hier und Jetzt entrückt. Als mein Sohn in eine überdimensionale
Frontlader-Schaufel stürmt und herauswinkt wie ein japanischer Tourist,
sehe ich auf den Fotos später zwei Männer, die hinter der Schaufel mit
feuchten Augen Victory-Zeichen in die Kamera werfen.
Zusammen
mit Kindern bilden diese Erwachsenen die Klientel der abertausend
Youtube-BaustellenVideos und mehrteiligen Webcams des
Gotthard-Basistunnels, die seit 2004 Filme ohne Handlung zeigen, dafür
aber höhere Klickzahlen bekommen als der «Tatort» Zuschauer. 2012
brachte ein Journalist den superlativen Exzess ans Licht. Er zerrte den
Kanadier Joe Murray aus seinem Keller, der dort seit mehr als elf Jahren
nach Feierabend Erde aushebt. Mit ferngesteuerten Spielzeugbaggern,
zwei bis drei Kubikmeter pro Tag. In seinem Youtube-Channel «Lil’ Giants Constructions Co»
zeigt der kinderlose Viehzüchter den Baufortschritt, der auch Statiker
interessieren dürfte: Es ist ein zweiter Gotthard-Tunnel!
Etwas
Mysteriöses geht in erwachsenen Männern vor, das sie mit männlichen
Kleinkindern teilen. In einer der verbreitetsten Theorien darüber hat
die gemeinsame Schnittstelle einen Durchmesser von lediglich zwei
Nanometern. Laut dem Hirnforscher Gerald Hüther handelt es sich um das
Y-Chromosom. Allen Gender-Diskursen über Sozialisation zum Trotz ist der
Professor der Uni Göttingen davon überzeugt, dass die Leidenschaft für
grosse Baumaschinen ihren Ursprung in den Genen hat. Weil Buben ein
Y-Chromosom besitzen, wachsen ihnen Hoden. Diese produzieren
Testosteron. Dadurch, so Hüther, verlaufe die männliche
Gehirnentwicklung unter ganz anderen Rahmenbedingungen als die der
Mädchen.
Pauken und
Trompeten
Hüther beschreibt
das frühe Gehirn als Orchester, dessen Besetzung bei Buben und Mädchen
zunächst gleich ist. Doch durch das Testosteron rückten im
Gehirnorchester kleiner Knaben die Pauken und Trompeten in den
Vordergrund, während die harmonischen Instrumente dahinter zurücktreten.
Pauken und Trompeten, das ist alles, was Krach macht, gross ist, stark
und mächtig. Wie kommt es zu dieser Verschiebung? Hier bemüht Hüther
einen Fahrzeugvergleich. Ein verkrüppeltes Y-Chromosom zu haben, sagt
er, sei, als fahre man ein «Auto ohne Ersatzrad». Schon bei der Geburt
haben Buben im Fall von Komplikationen eine 24 Prozent höhere
Sterblichkeit als Mädchen. Diese Anfälligkeit in der Konstitution würden Männer zeitlebens nicht los. Sie begeben sich deshalb auf die Suche
nach Halt. Halt, den sie laut Hüther im Aussen finden. Im frühen Stadium
bei muskulösen Traktoren, der Polizei, Dinosauriern – und eben bei
Baggern. Gross, mächtig, viel Krach.
In
dieser Theorie hätten all die Männer auf der Bauma einfach nur den
Entwicklungsschritt verpasst, die haltgebenden Statusobjekte beizeiten
zu wechseln. In Richtung Porsche, Pool und heisse Blondine. Aber
Baggerliebe – wegen Hoden? Das klingt, als hätte Alice Schwarzer es sich
zum Weltfrauentag ausgedacht.
Hier
halte ich ein Recherchegespräch mit meinem Sohn für aufschlussreich. In
einer Spielpause fragte ich ihn, ob im Kindergarten wirklich nur Buben
oder auch einmal Mädchen mit den drei Sitzbaggern im Sandkasten
spielten. Antwort: Immer wieder würden Mädchen es versuchen. «Aber dann
schimpfen wir sie, und dann gehen die weg.» Existieren also doch auch
XX-Chromosomensätze, die sich zu Baustellen hingezogen fühlen?
Verhindert nur das Testosteron der anderen die Entfaltung ähnlicher
Exzesse bei Mädchen?
Unisexuelle
Antworten findet man auf einer derart verminten Baustelle nicht im
Mainstream. Entsprechende Referenten haben eher Kleinstforen, so wie ein
Baufachmann namens Eric Mozanowski, der laut Google vor einiger Zeit
irgendwo im deutschen Osten einen bahnbrechenden Vortrag hielt.
Mozanowski dozierte dort über das Bauen «als Grundbedürfnis und sozialen
Akt». Wo Menschen lebten, so der Fachmann, gebe es Häuser, Hütten,
Zelte. Weil Bauen den Wunsch nach Sicherheit erfülle, aber darüber
hinaus noch eine ganze Reihe «seelischer und geistiger Bedürfnisse». Von
jeher hätten die eigenen vier Wände die Menschen von der sie umgebenden
Umwelt getrennt. Erst mit dem Bauen schafften wir uns überhaupt
«eigene, menschliche Dimensionen».
Bauen,
das ist für Mozanowski auch eine spirituelle Angelegenheit. Nicht
umsonst habe die Geschichte der modernen Architektur mit Sakralbauten
begonnen, mit Wohnstätten für Gottheiten. Parallel entstanden dann
Gebäude für Menschen. Bauen – eine Mischung aus Demut und Grössenwahn
also, ein ureigenes Streben nach Manifestation in der Welt, ein Impuls,
den jeder in sich trägt. Aber dem kaum noch einer stattgibt.
Sklaven und
Maschinen
Ein Haus zu bauen,
das ist schliesslich auch ein Knochenjob. Schwere körperliche Arbeit. In
der weiteren Geschichte wurden Bauarbeiten deshalb immer weiter an
andere delegiert: Erst an Sklaven, dann an Maschinen, heute kommen ganze
Häuser fertig aus Fabriken. Die letzten öffentlich sichtbaren Bildgeber
des Bauens sind in solchen Fällen Baggerfahrer. Für die meisten
beschränkt sich der eigene Beitrag jedoch aufs Unterschreiben von
Krediten. Das nennen wir Privileg. So einer hat es geschafft. Er muss
sich die Hände nicht schmutzig machen, sondern einfach nur eine Million
weitere E-Mails im Sitzen schreiben.
Selbst
so ein Mensch zu sein, der ein Haus baut, per Bagger auch noch auf
relativ komfortablem Weg, das scheint dabei trotzdem ein nicht tot zu
kriegender Traum. Eine Wunde, die die Zivilisation vor langer Zeit
gerissen hat und in der ein dumpfer Schmerz noch immer pocht. Es sind
vielleicht nicht die Bauma-Gäste oder mein Sohn, die spinnen. Wir
spinnen, die wir sie für Spinner halten. Für neurotisch erklären, was
vielleicht das letzte Gesunde ist: der Wunsch nach Handlungsautonomie in
einer Welt, in der einem jedes Handeln abgenommen wird. In der man zum
Graben in den Keller gehen muss. In der «Bauarbeiter» keine
ernstzunehmende Berufsperspektive mehr ist, für Frauen überhaupt nie war
und nur für Kinder noch okay ist.
Im
Kindergarten beglückwünschte mich eine Mutter neulich: «Dein Sohn wird
bestimmt mal Architekt!» Mag sein. Aber nach jetzigem Wissensstand sage
ich: Das Unglück muss durchbrochen werden. Mein Sohn bleibt
Baggerfahrer!
Bagger als Wurm
Ihre
Erscheinung ist wenig attraktiv, und sie können bei ihrem Einsatz auch
kaum beobachtet werden. Doch auch Tunnelbohrmaschinen haben das Zeug,
Buben allen Alters mit ihren technischen Daten die Freudentränen in die
Augen zu treiben. Beim Gotthardbasistunnel, der nächsten Monat eröffnet
wird, kam die Bohrmaschine Gripper zum Einsatz. Die Gripper ist 440
Meter lang und so schwer wie fünf vollgetankte A-380, das grösste
Flugzeug der Welt. Pro Tag frass sich das Tunnelmonster 40 Meter durch
das Bergmassiv. Klimafreundlich wird aber auch ein Eisenbahntunnel
nicht fertig. Die Gripper verbrauchte pro Tag Strom für 10'000 Franken,
was dem Bedarf von 4200 Einfamilienhäusern entspricht.
Nota. -Die Idee vom Kind im Mann hat Nietzsche literaturfähig gemacht. Seit Jahren bemühe ich mich, die Idee vom natürlich-Kindlichen im Männlichen wissenschaftsfähig zu machen. Doch je länger es dauert, umso so eindringlicher beschleicht mich der Gedanke von einer spezifischen Männlichkeit des Kindlichen - in beiden Gendern (mehr oder weniger). JE
An Markus Meier: Die Kommentarfunktion hat mal wieder eine Macke, darum m uss ich meiner Antwort auf diese Weise posten:
Ich habe den Tonfall nicht spöttisch gefunden, daher habe ich den Text unkommentiert wiedergegeben.
Jungens sind anders als Mädchen, da hat sie doch Recht, und dass sie damit einen Minderwertigkeitskomplex kompensieren, da ist auch was dran: Das ist der... na ja, ein Motor des Fortschritts in der Menschheitsgeschichte, das vertrete ich seit einer halben Ewigkeit.
Nur manchmal ist es eben auch ein bisschen ulkig. Ich habe mein' Lebtag noch keinen Moment mit meiner Männlichkeit gehadert, doch die Technik-Vernarrtheit meiner Kumpels hat mich schon als Kind amüsiert. Hätten sie aber mit Puppen gespielt, hätte ich das nicht lustig gefunden. JE
Warum Jungen schlechter lesen als Mädchen In vielen Ländern gibt es eine "Leselücke"
zwischen Mädchen und Jungen: Mädchen schneiden bei der Lesekompetenz
häufig besser ab.
Mädchen lesen gern, Jungs können mit Büchern weniger anfangen. Ein
Stereotyp, das eine statistische Grundlage hat. In fast allen Ländern,
die an der jüngsten Pisa-Studie teilnahmen, lasen 15-jährige Mädchen
besser und verstanden Sprache schneller als gleichaltrige Jungs. Um ein
ganzes Schuljahr waren die Mädchen im Schnitt voraus. "Der Unterschied
ist ziemlich kräftig und erstaunlicherweise über viele Länder hinweg
stabil", sagt der Bildungsforscher Manfred Prenzel von der TU München.
Nun zeigt sich: Teil des Problems ist wohl, dass sich das Stereotyp in
den Köpfen der Kinder festgesetzt hat.
Forscher
der Universität Grenoble haben Hinweise dafür gefunden, dass der
Vorsprung womöglich mehr auf selbstgemachten Vorurteilen beruht als auf
biologischen Unterschieden. Französischen Drittklässlern gaben sie die
Aufgabe, auf einer Liste mit Wörtern in wenigen Minuten möglichst viele
Tiernamen zu unterstreichen. Während sie manchen Klassen mitteilten, es
handle sich um eine echte Prüfung der Leseleistung, sagten sie anderen
Schülern, sie dürften das "Tier-Angeln"-Spiel einer Zeitschrift zum Spaß
ausprobieren. Das Ergebnis des kleinen Experiments war eindeutig:
Während die Jungen in der ernsten Situation deutlich weniger Tiernamen
fanden, gelang ihnen die gleiche Aufgabe als Spiel genauso gut wie den
Mädchen, schreiben die Forscher um Pascal Pansu im Journal of Experimental Social Psychology.
Die männlichen Schüler, die zuvor angegeben hatten, Lesen sei ihnen
besonders wichtig, zeigten die größten Unterschiede je nach
Prüfungsstress. Sie überflügelten in der Spielsituation sogar
die Mädchen. Die
Psychologen nennen dies "Bedrohung durch Stereotype": Jungen sind
womöglich von der unbewussten Erwartung belastet, schlechter als die
Mitschülerinnen lesen zu können, was dann ihre reale Leistung
einschränkt - ähnlich wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Dafür
spricht, dass gerade die dem Lesen zugewandten Jungen deutlich besser
abschnitten, wenn ihnen die Angst vor dem Scheitern genommen war.
Umgekehrt erzielten die lesefreudigen Mädchen im echten Test höhere
Punktzahlen als in der Spielvariante. Sie seien wohl nicht mit dem
Stereotyp belastet, mutmaßen die Forscher. Die
Mädchen könnte das vorherrschende Vorurteil sogar noch in ihrer
Leistung steigern. Weitere Studien müssten das jedoch vertiefen.
Ähnliches kennen Bildungsforscher bereits aus der Mathematik: Beim
Rechnen liegen in den meisten Ländern - im Schnitt - die Jungs vorne.
Psychologen vermuten auch dort, dass dies stark mit der
Selbstwahrnehmung zusammenhängt. Wenn sie Teilnehmerinnen von Mathetests
wissen lassen, dass Frauen generell schlechter abschneiden, verstärkt
das die Leistungsunterschiede.Bislang
sei die weltweite - in Deutschland besonders ausgeprägte - "Leselücke"
kaum untersucht, sagen die französischen Psychologen, obwohl der Abstand
zwischen den Geschlechtern noch größer sei als beim Rechnen. "Lesen ist
stark weiblich konnotiert, dieses Bild prägt sich schon sehr früh bei
Kindern ein", sagt die Bildungsforscherin Cordula Artelt von der
Universität Bamberg. Aus diesem Tief herauszukommen, sei nicht einfach
für Jungs.
Nota. - Die Vorurteile gehen noch weiter und reichen bis zu... den Wissenschaftlern; denn selbstverständlich wird unter lesen nur
das Lesen von gedruckten Büchern verstanden. Dass Jungen im Internet
eine Unmenge mehr lesen als Mädchen wird gar nicht erst erfasst! (Und
wie steht es mit Comics? Nicht schulisch genug?!) JE
Nota - Das obige
Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der
Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen,
bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog.JE
Wie die Evolution Männer und Frauen dirigiert
Charles
Darwin erkannte, worauf die Geschlechterunterschiede beruhen. Seine
Theorie hat sich bestätigt, trotz Kritik aus der Genderforschung. Ein
Kommentar.
Warum unterscheiden sich Mann und Frau? Wer dieser Frage
nachgeht und sie nicht gleich als „falsch“ einstuft, weil die
Geschlechter angeblich nur sozial erwünschte Rollen spielen und alle
Unterschiede (bis auf die biologischen) gesellschaftlich bedingt sind,
der stößt auf die Theorie der sexuellen Auslese. Sie geht auf Charles
Darwin zurück, den Begründer der Evolutionstheorie. Darwin bereitete der
prächtige Pfauenschwanz Kopfzerbrechen. Der konnte eigentlich unmöglich
die Überlebenschancen vergrößern. Er verbrauchte Ressourcen, machte die
Tiere unbeweglich und auffällig und so zu einer leichten Beute. Der
Pfauenschwanz verstieß gegen elementare Regeln der von Darwin
formulierten Theorie der natürlichen Auslese – die Natur müsste den
Blender längst ausgemustert haben.
Darwins geniale Lösung: Der
Pfau vermehrte sich nicht trotz, sondern wegen seines Federschmucks. Die
Theorie der sexuellen Auslese (Selektion) war geboren. Je makelloser
der Radschlag, umso größer die Erfolgschancen bei den Pfauenweibchen. Im
Zentrum des Gedankengebäudes steht die fundamentale Ungleichheit der
Keimdrüsen. Sie produzieren bei weiblichen Tieren die großen, wenigen
Eizellen und bei männlichen die kleinen, vielen Spermien. Ein
Unterschied mit Folgen. „Billige“ Spermien werben um „kostbare“
Eizellen. Männchen investieren in die Balz und konkurrieren
untereinander, Weibchen kümmern sich um die Brutpflege. Männchen mit
mehr Partnerinnen haben mehr Nachkommen, bei Weibchen gilt das nicht.
Traditionelle Rollen im Tierreich - oder?
Klingt nach einer ziemlich traditionellen Rollenverteilung im
Tierreich! Das ist einer der Gründe, warum die über die Jahre
verfeinerte Theorie dennoch immer wieder Kontroversen hervorruft. Eine
prominente Kritikerin ist die Biologin und Genderforscherin Joan
Roughgarden von der Universität Stanford. Sie hält die Idee von der
sexuellen Selektion für falsch und wirbt dafür, sie durch ein Konzept
namens soziale Selektion
zu ersetzen. An die Stelle von Auslese und Kampf setzt sie
Zusammenarbeit. Umwelt und soziale Einflüsse prägen die Rollen im
Zusammenleben, nicht die Größe von Spermium und Ei. Wirbeltiere leben in
„Familienfirmen“ zusammen, denen Kooperation – und lustvoller Sex – den
größten Ertrag bringt.
Beim Sex kommt es nicht darauf an, ob er
hetero- oder homosexuell ist. Dieser Nicht-Unterschied ist für
Roughgarden entscheidend. Bei einer „Gay Pride“-Parade 1997
hatte sie einen Geistesblitz. Darwins Theorie betrachte Homosexualität
als Anomalie. „Aber wenn der Zweck von Sex nur Reproduktion ist, wie
Darwin glaubte, warum gibt es dann diese Lesben und Schwulen?“ Für die
Wissenschaftlerin der Anlass, eine bessere Alternative zu finden.
Roughgarden, die 1998 eine Geschlechtsumwandlung vornehmen ließ und vom
Mann zur Frau wurde, schrieb ein populärwissenschaftliches Buch, in dem
sie viele Beispiele homosexuellen Verhaltens im Tierreich belegte.
„Evolution’s Rainbow“ („Der Regenbogen der Evolution“) bekam eine Menge
positiver Kritiken. Evolutionsforscher lehnten ihre Thesen dagegen
überwiegend ab.
Kooperation statt Konkurrenz - eine Wunschvorstellung
Kämpft hier ein wissenschaftlich revolutionärer David gegen einen
geistig erstarrten Goliath, ein Underdog gegen ein Establishment aus
Darwin-Dogmahütern? Das Klischee liegt nahe, trifft aber nicht zu. Wer
außergewöhnliche Behauptungen aufstellt, braucht außergewöhnliche
Beweise. Und die hat Roughgarden nicht. Im Gegenteil. Eine vor Kurzem im
Fachblatt „Science Advances“
veröffentlichte umfassende vergleichende Studie an 66 Arten hat die
klassischen Geschlechterrollen im Tierreich bestätigt. Auch die
Ausnahmen – von denen es etliche gibt – lassen sich mit der
herkömmlichen Evolutionstheorie vereinbaren. „Roughgardens Idee von der
Gruppe, die sich gemeinsam Ziele setzt, ist ein schönes Ideal“, sagt der
Biologe Nils Anthes von der Universität Tübingen. „Doch solche
Absprachen funktionieren unter Tieren nur selten.“
Das Prinzip
der sexuellen Auslese gilt auch für den Menschen. Allerdings ist es in
den modernen westlichen Gesellschaften schwierig geworden, es
wissenschaftlich zu studieren. Im Vordergrund steht der Einfluss von
Kultur und Umwelt, zumindest auf den ersten Blick. Aber im Hintergrund,
verborgen wie hinter einer Milchglasscheibe, zieht noch immer die Natur
die Strippen.
Gleich
vier Bücher widmen sich dem Phänomen der bereuten Mutterschaft. Nicht
alle sind geglückt. Trotzdem ist die Debatte zu #regrettingmotherhood
wichtig
von Tanja Paar
Die Entscheidung für Kinder bereuen – ja darf man das?
Frauen dürfen es nicht. Und wenn sie es doch tun, sollen sie gefälligst
darüber schweigen. Das zeigt die Debatte um #regretting motherhood.
Die deutsche Journalistin Esther Göbel hat in der Osterausgabe der
Süddeutschen Zeitung 2015 über eine israelische Studie berichtet, die
sich mit diesem Phänomen befasst. Innerhalb kürzester Zeit hatte der
Artikel hunderttausende Klicks, andere Medien folgten, die Diskussion
erhitzte die Gemüter. Jetzt hat Göbel ein Buch dazu vorgelegt, in dem sie ihre Überlegungen vertieft: Die falsche Wahl. Wenn Frauen ihre Entscheidung für Kinder bereuen. Ihre Definition, was #regretting motherhood überhaupt
ist, deckt sich dabei genau mit jener von Orna Donath, der israelischen
Soziologin, die die Debatte losgetreten hat. Es geht ihr dabei "nicht
nur um Ambivalenz, sondern um anhaltende Reue". Nicht gemeint sind also
einzelne Momente der Wut, Trauer oder Überforderung, wie sie
wahrscheinlich alle Eltern kennen, sondern um jahrelange Reue, die –
wahrscheinlich – für immer anhält. Schwächen der Studie Damit wir wären auch schon bei einer der Schwächen der
Originalstudie: Donath hat nur 23 israelische Frauen im Alter zwischen
26 und 73 Jahren interviewt, die die Nationalität gemeinsam haben.
Bezüglich Bildung, Gesellschaftsschicht, Religion, Erwerbstätigkeit,
Anzahl der Kinder und Familienstand unterscheiden sie sich stark, auf
die persönliche Lebensgeschichte wird nicht eingegangen. Donath selbst
weiß, dass das sehr wenig ist, und unterstreicht, dass es sich eben um
eine qualitative und nicht um eine quantitative Methode handle. Sehr
viel mehr als eine Momentaufnahme sind diese Interviews also nicht. In der Folge beteuert auch Göbel, dass ihr Buch "keinen universellen
Wahrheitsanspruch" erhebe, es ginge ihr "um ein persönliches Gefühl in
einem gesellschaftlichen Kontext". Es habe dazu bisher in Deutschland
wie in Israel keine "Redenskultur gegeben". Damit hören sich die
Gemeinsamkeiten in dieser Sache aber auch schon fast wieder auf. Auch
wenn in Deutschland – und sicher auch in Österreich – nach wie vor das
Leitbild "Frauen sollen Kinder gebären" gilt, ist die Situation in
Israel eine andere als bei uns: Israelische Frauen bekommen im Schnitt
3,0 Kinder, damit befinden sie sich deutlich über der Geburtenrate der
restlichen OECD-Länder, die bei 2,0 Kindern liegt (Österreich 1,4, Stand
2014). Müttermythos Das weiß auch Göbel, die sich für ihr Buch zwar auf Recherchereise
nach Israel begab, sich aber dann ausführlich dem "deutschen
Müttermythos" widmet – und das zu Recht: Denn hier liegt der Hund
begraben. Göbel holt sehr weit aus in ihrer "Geschichte der Verirrung":
bis zu Rousseau, der keinen Unterschied zwischen Frau und Mutter machen
will, und Pestalozzi, der das Kindeswohl an die Mütter knüpft. Sehr
schön arbeitet sie den Müttermythos als Phänomen des Bürgertums heraus.
Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts entsteht im Zuge der
Industrialisierung "die Idee der modernen Kernfamilie" mit einer Mutter,
die sich ausschließlich um Haushalt und Kinder kümmert, ein Bild, das
im Mutterkult der Nazis noch einmal einen perversen Spin bekommt – und
mit dem wir bis heute hadern. Göbel weist auch auf die "naturalistische Offensive" um 1973 hin, als
in der Folge der Weltwirtschaftskrise die Frauen an ihre "natürliche"
Gebärfreudigkeit und ihren Platz am Herd erinnert wurden, heute stößt
ihr das "attachment parenting" auf, das Phänomen, dass Kinder überallhin
mitgebracht werden und bei allem mitreden dürfen. Auch die "neuen
Väter" vergisst sie nicht. Ihnen mangle es an Vorbildern, sie befänden
sich in einem "Findungsprozess". Wir alle seien nach wie vor sehr
traditionellen Rollenmodellen verhaftet. Ihre Folgerungen: Mütter bräuchten mehr Unterstützung, zum Beispiel
in Form eines besseren Steuer- und Unterhaltsrechts für
Alleinerziehende, sowie eine "konsistente Familienpolitik, die die
heutige Vielfalt von Lebensweisen anerkennt und egalitäre Beziehungs-
und Erziehungsmodelle fördert. Dazu mehr Teilzeitmodelle, eine
Umstrukturierung der patriarchal organisierten Arbeitswelt und bessere
Betreuungsmöglichkeiten". Damit fällt sie ein wenig hinter ihre
Ankündigung zurück, dass es ihr "nicht nur um eine
Vereinbarkeitsdebatte" gehe. Das ist aber auch schon der einzige
Vorwurf, den man diesem intelligenten, in den Reportageteilen sehr
lebendig und anschaulich geschriebenen Buch machen kann. Mütterterror Anders ist das bei Mütterterror. Angst, Neid und Aggressionen unter Müttern von Christina Mundlos. Das bereits 2013 erschienene Buch wurde wohl im Zuge der #regretting motherhood-Debatte
in erweiterter Form abermals auf den Markt geworfen. Den
geschichtlichen Hintergrund, also die "Erfindung der guten Mutter" rollt
Mundlos ähnlich, wenn nicht ganz so ausführlich auf wie Göbel. Sie
fokussiert aber auf die Mütter, die sich gegenseitig das Leben
schwermachen. Damit reduziert sie das Phänomen einmal mehr auf eines
unter Frauen. Dass es ein gesellschaftlich gemachtes ist, bleibt so
leider auf der Strecke. "Mutterschaft unterliegt einer starken Professionalisierung",
schreibt sie richtig. "Die Ansprüche an Kindererziehung sind in den
letzten 20 bis 30 Jahren enorm gestiegen." Schnullerformen, Weichmacher
im Spielzeug schnell erkennen, veganer Babybrei, aus alldem kann man
heute eine Wissenschaft machen. Die Schlüsse, die Mundlos daraus zieht:
"Wenn Mütter daran nicht kaputtgehen wollen, müssen sie die Ansprüche
runterschrauben, die Aufgaben reduzieren und sich diese mit Vätern und
Betreuungseinrichtungen teilen." Dass schon wieder die Mütter all das
müssen, ist eigentlich nicht einzusehen. Mutterglücklüge Dem pflichtet auch Sarah Fischer in Die Mutterglücklüge. Regretting motherhood – Warum ich lieber Vater geworden wäre
bei. Die 1972 Geborene erzählt darin sehr persönlich über ihre Probleme
mit dem Muttersein, ihre Langeweile auf dem Spielplatz,
Kindergeburtstage und ihre Schwierigkeiten beim Wiedereinstieg ins
Berufsleben. Das Buch wirkt ein wenig wie ein Schnellschuss, so als
wolle die Autorin auf die Debatte aufspringen. Ihre Beschreibungen lesen
sich mitunter wie eine Themenverfehlung denn: Ihre ambivalenten Gefühle
entsprechen dem, was Donath oder Göbel meinen, eben nicht. "Es gibt
Momente, in denen bin ich unglücklich, weil ich ein Kind habe." Solche
Momente kennen viele – aber heißt das schon, die Mutterschaft zu
bereuen? Dann doch lieber beim Original bleiben: Orna Donath selbst hat ihre
Studie nun auch zu einem Buch verarbeitet, das 2016 bei Knaus in
deutscher Übersetzung erschienen ist. In #regretting motherhood. Wenn Mütter bereuen
erklärt sie ausführlich, wie es zu der Studie gekommen ist und was sie
damit intendiert hat. Sie schreibt: "Die Frage, welche Auswirkungen sich
für uns alle daraus ergeben, ist eine Art Gratwanderung ... Denn
einerseits kann es durchaus sein, dass die Beschäftigung mit diesen
Themen an und für sich qualvolle Folgen hervorruft, weichen wir diesen
Themen jedoch aus, werden wir andererseits daran gehindert, bestimmte
gesellschaftliche Realitäten so zu verstehen, dass sich etwas ändert." Conclusio: Heute dürfen Frauen sagen: "Ich bereue es, ein Kind zu
haben." Auch wenn prominente Kollegen wie Harald Martenstein das aus
persönlichen Gründen anders sehen. Es geht hier eben nicht nur um das
Persönliche. Political Correctness ist eine kleine Schwester des Tabus.
Das können wir 2016 ruhig besprechen. Deswegen war und ist diese Debatte
wichtig.
Orna Donath Wenn Mütter bereuen Knaus- Verlag 2016 272 Seiten, 17,50 Euro Christina Mundlos Wenn Muttersein nicht glücklich macht mvg-Verlag 2015 240 Seiten, 14,99 Euro Sarah Fischer Die Mutterglücklüge Ludwig 2016 240 Seiten 17,50 Euro Esther Göbel Die falsche Wahl Droemer 2016 224 Seiten, 19,99 Euro
Nota. -Zunächst darf ich ein Aufatmen vermelden (nein, ich übersehe das Positive nicht!): Ich habe erwartet, daran, dass Frauen bereuen, ein Kind bekommen zu haben, seien auch wieder die Väter oder doch irgendwie das noch immer nicht überwundene Patriarchat schuld. Das ist uns diesmal erspart geblieben. Aber sonst ist alles wie gehabt: Es sind die Andern, bei denen 'Handlungsbedarf' bemerkt wird, "die Gesellschaft", wer auch sonst (sie muss mehr Mittel zur Verfügung stellen), und nicht etwa die Frauen, die Kinder bekommen haben, obwohl sie nicht dafür geeignet sind. Es ist nämlich so, vielleicht ist Euch das schon viel zu selbstverswtändlich geworden: Wer heute keine Kinder will, die (!) braucht auch keine zu bekommen. Früher
war das anders, da war's der Lauf der Natur, gegen den nur mit
Enthaltsamkeit anzukommen war. Heute kann - und muss sogar - frau sich
fragen, ob sie überhaupt Kinder gebrauchen kann.
Nein nein, Sie irren sich, jetzt kommt nicht: "Sie hätten sich's eben besser überlegen sollen." Da liegt vielmehr der Hund begraben, dass heute viel zu sehr überlegt wird in diesen Dingen! Die Folge ist: Den eben erst gezeugten und noch lange nicht geborenen Kindern werden Aufgaben und Erwartungen zugedacht, die mit ihnen selbst kaum etwas zu tun haben; aber wohl mit dem Selbstbild von Mama (und Papa, geb ich ja zu). Dann wird es immer häufiger vorkommen, dass die Kinder dem Selbstbild von Mama (und Papa, dto.) - das zudem in dem Bild verpackt ist, das man ihnen von sich selber überzuhelfen sucht - nicht gerecht werden. Woraus dann unschwer hervorscheint, dass Mama (und Papa) ihrem Selbstbildnicht gerecht werden!
Es ist also wahr: "Die Gesellschaft" ist schuld, aber die besteht nicht aus "Andern", sondern aus lauter Leuten, die seit vier Jahrzehnten den Floh im Ohr haben, sie seien auf der Welt, um sich selbst zu verwirklichen. Wer diese Einstellung bei sich findet, darf sich nicht wundern, wenn er mit seinem Leben unzufrieden ist; denn was dabei herauskommt, gibt zu Zufriedenheit oft keinen Anlass, und sie hätten besser daran getan, das eine oder andere von sich unverwirklicht zu lassen. JE