Samstag, 27. Dezember 2014

Ermutigen.



Was früher überschüssige Kräfte hieß und Rauflust, ist heute Gewaltbereitschaft und Aggression. Was früher als eine ärgerliche und unvermeidliche Begleiterscheinung des Heranwachsens galt, ist heute Anzeichen des Werteverfalls und Indiz des kulturellen Niedergangs. Nichts, was sich auswächst, sondern etwas, das es sozialhygienisch zu therapieren gilt.

Sicher gab es früher nicht weniger Handgreiflichkeit als heute. Aber eines ist wahr: Die heute zu beobachtende Verrohung war in den fünfziger, sechziger Jahren unvorstellbar. Was hat sich geändert?

Der oftbeschworene Werteverfall hat bereits stattgefunden; damals.

In meiner Kindheit und Jugend standen Ehre und Anstand in Ansehen. Nicht etwa, dass wir diese Wörter in den Mund genommen hätten, das taten nur Streber, die sich den Erwachsenen anbiederten. Bei uns andern waren es Selbstverständlichkeiten, die erst dann benennbar werden, wenn sie fehlen. Die Selbstverständlichkeit, die nur per negationem aussprechbar war, hieß Ich bin doch nicht feige. Zu zweit, dritt oder noch mehren über einen einzelnen Herfallen; auf einen einschlagen, der am Boden liegt; mit den Füßen treten, ja, einen schlagen der schon heulte und selbst obszöne Schimpfwörter grölen: das war feige. Was sich seither als Verrohung breit macht, ist nichts als zunehmende Feigheit.

Was hat die Zeitenwende im Übergang von den sechziger zu den siebziger Jahren damit zu tun? 


Damals setzte sich die Auffassung durch, Ehre und Anstand seien ein spezifischer Männerwahn und ein Mythos, der nur der Verklärung des Jahrtausende alten Patriarchats diente. Das volle Menschsein emanzipieren hieß: lernen, wie wir mit unseren Bedürfnissen umgehen: „Was bringt mir das?“ Wo das Bedürfnis erheischte, dem Kampfe auszuweichen, war es jetzt mutig, dem Hohn der andern unerachtet das Hasenpanier zu ergreifen. Feige sein konnte nun auch ein Gebot der Klugheit sein, o ja. Eine Schande ist es seither jedenfalls nicht mehr: Über die Folgen berichten Fernsehen und Zeitungen jeden Tag. Die einen prügeln feige, die andern sehen feige weg.

Die einzig ‚nachhaltige’ Gewaltprävention wäre unserer Tage: Ehre und Anstand wieder zur Geltung bringen und Feigheit wieder zu einer Schande machen. Oder allgemeiner gesagt: unsere gesamte Kultur vermännlichen.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen