Sonntag, 30. November 2014

Tobende Jungs sind eine Ressource und nicht krank.

Robert Doisneau

Der Kinderarzt Michael Hauch hat vor längerer Zeit unter der Überschrift "Lasst die Kinder in Ruhe!" in derFrankfurter Allgemeine* aus seiner Praxis berichtet.

"Es vergeht kaum ein Tag bei meiner Arbeit als Kinder- und Jugendarzt, an dem nicht verunsicherte Eltern um Physio-, Ergotherapie- oder Logopädieverordnungen für ihre aus meiner ärztlichen Sicht altersgerecht entwickelten Kinder bitten. Geschickt werden sie vor allem von Grundschullehrern und Grundschullehrer- innen. Am liebsten gleich mit einer fertigen Diagnose: „Ihr Kind hat eine Sprachstörung und eine Lese-Rechtschreib-Störung.“ Andere geäußerte Befunde lauten: „Ihr Kind ist hyperaktiv“ bis hin zu „Vermutlich ist ihr Kind wahrnehmungsgestört“. Gerne wird von Nichtärzten auch diagnostiziert, dass der Sechsjährige unter einer zentralen Hörstörung oder einer Rechenschwäche, der sogenannten „Dyskalkulie“, leidet. 


Meist stehen die Eltern dann vor mir und haben neben diesen Diagnosen auch schon gleich einen fertigen Therapievorschlag im Gepäck: „Mir wurde gesagt, dass mein Kind dringend Ergotherapie braucht.“ In nicht seltenen Fällen hat die Schule den Vätern und Müttern auch noch den „passenden Therapeuten“ empfohlen: „Dieser hat auch schon anderen Kindern gut geholfen“, bekomme ich dann zu hören, verbunden mit dem Zusatz: „Ich habe auch schon einen Termin für meinen Sohn dort ausgemacht.“  ...


Dass ich als Arzt prüfen muss, ob überhaupt eine therapiebedürftige Störung vorliegt und, wenn ja, welche Therapie wann sinnvoll ist, spielt auf diesem ganzen Weg keine Rolle mehr. So kommt es dann, dass die Mutter von Leon oder die von Noah, Ben oder Hendrik - es sind überwiegend Jungen, für die ich als Rezeptautomat funktionieren soll - vor mir steht und sagt: „Sie müssen mir nur noch schnell die Verordnung unterschreiben.“ Inzwischen bekommt in Deutschland je nach statistischer Quelle jedes vierte oder sogar dritte Kind unter 15 Jahren Physiotherapie, Ergotherapie oder Sprachtherapie verordnet. Laut einer vor kurzem veröffentlichten Studie des Wissenschaftlichen Institutes der Krankenkasse AOK erhielten im Jahr 2012 rund 193 000 Kinder unter 15 Jahren sprachtherapeutische Leistungen."

Er will nicht missverstanden werden: "Wir Kinderärzte verschließen nicht die Augen, wir sehen täglich in den Vorsorgeuntersuchungen, was längst belegt ist: Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsverzöge- rungen, insbesondere im Bereich der Konzentration, Sprache und Motorik, nehmen zu." Er bestreitet nur, dass es sich typischerweise um sogenannte Defizite bei den Kindern handelt. Die Ursachen für die Zunahme der Auffälligkeiten seien soziogener Art:


Wir Kinder- und Jugendärzte sollen dann die Erfüllungsgehilfen gestresster Pädagogen und Eltern sein, sollen Diagnosen bestätigen und die tatsächlichen und vermeintlichen Entwicklungsrückstände und Störungen durch die Verordnung von Therapien ausgleichen. Doch Therapien sind kein Allheilmittel. Keine noch so gute Therapie kann die durch familiäre Vernachlässigung entstandenen Verhaltens- und Entwicklungsstörungen bei Kindern „einfach reparieren“. Keine noch so langwierige Logopädie kann etwa das Sprachdefizit ausgleichen, das entsteht, weil Mutter oder Vater nur schlecht oder gar kein Deutsch sprechen. Oder weil in der Familie überhaupt nicht miteinander gesprochen wird.


Ein Kind zur Ergotherapie zu schicken, weil es mit sieben nicht gelernt hat, sich die Schuhe zuzubinden, oder weil es den Stift falsch hält, mag zum Ziel führen, ist aber dem geduldigen Üben mit den Eltern oder der Lehrerin in keiner Weise überlegen. Es entlastet diese nur von den Mühen des Übens. Ergotherapie ist der bequemere Weg. Bei gesunden, lediglich unkonzentrierten „wilden“ Kerlen sind ausreichend Bewegung und ein geregelter Alltag ohne Fernsehen jeder Therapie und jedem Medikament überlegen.


Und ganz nebenbei: So schwer es ist, das zu akzeptieren, aber nicht aus jedem Kind entwickelt sich ein geistig lebhafter, kreativer und wissbegieriger Mensch mit Nobelpreisträger-Potential. Aber aus fast allen Kindern, die liebevoll begleitet und gefördert werden, werden Menschen, die für sich einen guten Weg durchs Leben finden."


"Therapien geben Eltern und Lehrern eine Scheinsicherheit. Kindern hingegen geben sie früh das Gefühl, ein Defizit zu haben. Der Normalzustand, das Leben ohne Therapien, wird mehr und mehr zur Ausnahme. Jedes noch so kleine Problem, das beim „Kinder-TÜV“ auffällt, wird sogleich als behandlungsbedürftig gesehen. Schließlich gibt es ja eine Therapie, die es „heilen“ kann. Viele Probleme werden erst durch die vermeintliche Heilkraft von Therapien als solche definiert. Alles wird zur Störung, weil Therapien vermeintlich auf alles wirken. Die Folge dieses therapeutischen Aktionismus: Alle Kinder sind mehr oder weniger krank und kommen als „Leistungsempfänger“ des Gesundheitssystems in Frage. Ihre Chance, sich als gesund zu erleben, Stärken und Schwächen zu erkennen und zu akzeptieren oder daran zu arbeiten, Verantwortung für ihr Gesundsein zu lernen, sozial handlungsfähig zu werden, all dies wird mit dieser Medikalisierung verhindert."


"Natürlich gibt es auch diejenigen, die eine Therapie brauchen. Wo andere Wege nicht helfen oder nicht reichen. Aber auch bei diesen Kindern muss man vor der Illusion warnen, eine Therapie könne ein Kind reparieren und optimieren. Eine Therapie kann in einigen Fällen Kindern helfen, einen Entwicklungsrückstand aufzuholen. Dies aber auch nur, wenn die Eltern in das therapeutische Geschehen miteinbezogen werden und wenn sie lernen, eine neue Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen und ihm Orientierung zu geben. Ganz alleine schafft es das Kind nicht."


Das aber sei eher die Ausnahme. Der große Teil der sogenannten Störungen rührten vielmehr daher, dass die heutigen Erwachsenen  diese eine elementare Wahrheit vergessen haben: "
Tobende Jungs sind eine Ressource, nicht krank. Sie brauchen gute Beziehungen und keine Arznei.

*)22.02.14



Michael Hauch, Jahrgang 1957, ist seit mehr als  zwanzig Jahren niedergelassener Kinder- und Jugendarzt in Düsseldorf. Zuvor arbeitete er in der Kinderonkologie und Kinderneurologie der Universitätskinderklinik in Düsseldorf. Er betreut als Kinder- und Jugendarzt das städtische „Kinderhilfezentrum Eulerstraße“ in Düsseldorf.

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