Anthonis van Dyck, Wilhelm von Oranien als Prinz mit seiner zukünftigen Braut Maria Stuart
aus NZZ, 5. 10. 2013
Die Welt als Laufsteg
Barbara Vinken versucht sich an einer Theorie der Mode.
Von Hannelore Schlaffer
Marie Antoinette und Philippe d'Orléans, Mitglieder der königlichen Familie, stehen am Anfang einer Geschichte der nachrevolutionären Mode der bürgerlichen Gesellschaft, die die Literaturwissenschafterin Barbara Vinken in ihrem Buch «Angezogen. Die Geheimnisse der Mode» verfolgt, um aus ihr eine Theorie der Mode überhaupt zu gewinnen. Die Personen aus königlichem Geblüt sind «Trendsetter», die als Allegorien des historischen Wandels gelten dürfen. Sie haben sich der Rolle, die ihnen von Staats wegen auferlegt war, entzogen, haben, wenigstens zeitweise, die Staatsrobe ab- und das bürgerliche Kleid angezogen. Philippe Egalité tritt als Citoyen auf, die Königin kehrt Unterstes zuoberst, trägt ein Kleid, das wie ein Hemd aussieht, und das, deutlicher noch als bei einer Maîtresse, Nacktheit nicht verbirgt, sondern zeigt.
Barbara Vinken versucht sich an einer Theorie der Mode.
Von Hannelore Schlaffer
Marie Antoinette und Philippe d'Orléans, Mitglieder der königlichen Familie, stehen am Anfang einer Geschichte der nachrevolutionären Mode der bürgerlichen Gesellschaft, die die Literaturwissenschafterin Barbara Vinken in ihrem Buch «Angezogen. Die Geheimnisse der Mode» verfolgt, um aus ihr eine Theorie der Mode überhaupt zu gewinnen. Die Personen aus königlichem Geblüt sind «Trendsetter», die als Allegorien des historischen Wandels gelten dürfen. Sie haben sich der Rolle, die ihnen von Staats wegen auferlegt war, entzogen, haben, wenigstens zeitweise, die Staatsrobe ab- und das bürgerliche Kleid angezogen. Philippe Egalité tritt als Citoyen auf, die Königin kehrt Unterstes zuoberst, trägt ein Kleid, das wie ein Hemd aussieht, und das, deutlicher noch als bei einer Maîtresse, Nacktheit nicht verbirgt, sondern zeigt.
Kleid und Geschlecht
Mit dieser Eröffnung stellt Vinken am Beispiel zweier Figuren jene Fragen vor, die sie theoretisch zu fassen sucht: Wie verhält sich die Mode zum Verhältnis der Geschlechter? Darf Sexualität als die Erscheinungsform von Mode schlechthin angesehen werden? Während die Mode jener Epochen, die der Französischen Revolution vorangingen, den Körper des Mannes ausstellte und seine erotische Potenz betonte, unterwirft sich der Mann nach dem grossen sozialen Wandel einem «Kollektivkörper», der Gemeinschaft der verantwortlichen Bürger, deren Kostüm uniform ist; modisches Spiel bleibt ihm seither weitgehend versagt. Den Frauen hingegen werden Liebe, Lust und Laune für die Mode überlassen, ja modisch zu sein, wird ihnen geradezu aufgetragen. Ihre Mode übernimmt von den Männern das freie Spiel mit Körper und Stoff, vor allem aber behält die Frauenmode seit dem 19. Jahrhundert den Gestus des Zeigens bei, der «Ostentation», den zuvor Männer nutzten, um standespolitische ebenso wie persönliche Vorzüge zu akzentuieren; «die Männer waren das schöne Geschlecht», nun werden es die Frauen. Ihre Mode, die weniger die soziale als die erotische «Ostentation» einschliesst, führt dazu, dass heute so viel Nacktheit zu sehen ist wie nie zuvor. Dies scheint die These zu stützen, dass Sexualität Motor aller Modeschöpfung sei. Durch den spielerischen und erotisierten Auftritt, so Vinkens Résumé, zeigen Frauen, im Unterschied zu Männern, «dass sie sich von der Arbeit nicht vereinnahmen lassen».
Barbara Vinken: Angezogen - Das Geheimnis der Mode.
Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 255 S., Fr. 29.90.
Mit einer witzigen Szene beschliesst Vinken das Buch und ihre Lehre von der Entstehung der Frauenmode aus der Männermode, eine These, mit der sie der amerikanischen Kunsthistorikerin Anne Hollander und deren Buch «Anzug und Eros» folgt. Vinken schildert ein Paar am Morgen nach der Liebesnacht. Die junge Frau hat dem schlafenden Galan die Hosen gestohlen, entflieht mit den «boyfriend pants», die ihr zu gross sind und mit einem Strick gehalten werden müssen, auf die Strasse und lässt den neuen Adam in Nacktheit gefangen im Bett zurück. Damit kehrt Vinkens Modegeschichte, die in «Manhattan im März» und auf dem Washington Square beginnt, gerade dorthin zurück, wo möglicherweise nun auch die Spitzbübin mit ihrer Beute auftaucht und sich ausser dem Männerkleid hoffentlich auch einen männlichen Job erobern wird.
Frans Hals, Porträt des Willem van Heythuyzen
Das Buch beginnt zwar auf der Strasse und endet dort, doch gilt sein Interesse nicht der Mode, die jedermann und jede Frau tragen. In die Fabel, die erzählt, wie «die Mode modern und die Moderne Mode» wurde, schieben sich theoretische Überlegungen über Mode schlechthin ein, die, trotz aller Weigerung der bürgerlichen Männer, sich der Mode weiterhin zu unterwerfen, als anthropologische Konstante gesetzt ist. Abschweifungen zu den modischen Geckereien der Incroyables, Dandys und Dressmen sollen zeigen, dass auch Männer von Mode nicht lassen können. Diesen extravaganten Szenen schliessen sich Referate über die Modetheorien von Veblen, Flügel und Simmel an, von Männern also, die sich immerhin noch theoretisch mit Mode befassten, was inzwischen ebenfalls ganz den Frauen überlassen bleibt. Am Ende des Buches enthüllen Porträts von heutigen Modeschöpfern wie Yoji Yamamoto, Alexander McQueen und Martin Margiela die Leidenschaft der Autorin für die Laufstegmode. Eine Schlankheitskur hätte dem Buch gut getan und die geistreichen Beobachtungen, bedenkenswerten Thesen und pointierten Formulierungen, mit denen es aufwartet, so recht erst zur Geltung gebracht.
Wenn es nun eine Theorie der Mode sein sollte, zu der Vinken, bei aller Lust der Schilderung modischer Stile, immer wieder hinstrebt, dann allerdings hätten gegenwärtige Tendenzen der Mode schärfer beobachtet und in der Theorie untergebracht werden müssen. Die Kluft zwischen der von Vinken überschätzten Designermode, von der auch die Medien in jeder Saison wie von etwas Weltumstürzendem berichten, und dem Strassenkleid ist, selbst wenn der Schauplatz der Washington Square sein sollte, heute grösser denn je. Sie verhalten sich wie Kunst und Leben, Traum und Wirklichkeit - und diese Diskrepanz hätte eine Modetheorie zu fassen, der Laufsteg müsste der Strasse konfrontiert, die ökonomische Abhängigkeit beider Bereiche voneinander bedacht und in die Definition aufgenommen werden.
Auch wäre zu überlegen, ob nicht doch die Frauen, wenn sie schon den Männern die Hosen ausziehen, bei diesem harmlosen Überfall auch die Einschätzung übernehmen, dass das gestohlene Objekt nicht viel wert sei. Was kann das Kleid noch bedeuten für Frauen, die sich, wie Männer, heute durch andere Leistungen denn durch körperliche Attraktivität hervortun können? Mittlerweile ist nicht ohne Grund die getragene Mode immer Jugendmode: Sie wird von jenem Teil der Bevölkerung durchgesetzt, der erotisch konkurriert und noch wenig andere Möglichkeiten zu einer Profilierung seiner Individualität hat. Bei berufstätigen Frauen hat die Mode kaum mehr eine grössere Bedeutung als bei männlichen Kollegen. Und wenn es schon eine Konstante «Mode» geben sollte, so müssten auch neue modische Gesten der Männer in den Blick kommen, die sich nicht des Wechselspiels von Körper und Stoff bedienen. Männer profilieren sich immer noch durch Accessoires, doch sind dies inzwischen Autos oder digitale Geräte, die für sie so wichtig sind wie für die Frau Ohrring, Halsband, Armreif.
Zu eng
Vinken geht von einem konventionellen, in sich geschlossenen Konzept, ja geradezu von einem Wunschbild «Mode» aus und gelangt damit zur Ästhetik einer Kunstrichtung, nicht zur Theorie eines gesellschaftlichen Phänomens. In vielen Bereichen der Wissenschaft haben sich mittlerweile die Begriffe erweitert, die der Philologie oder Literaturwissenschaft etwa zu dem der Textwissenschaft, der Kunstgeschichte zur Bildtheorie - so wäre denn auch der Begriff «Mode» weiter zu fassen, um zu einer zeitgemässen Kritik jener Inszenierungen zu gelangen, die wir zur Repräsentation von Individualität und Körper veranstalten.
Nota.
Sehen Sie ein Foto vom Vorstand eines Weltkonzerns. Wenn auch jeder der Herren seinen eignen Schneider hat, tragen sie doch alle denselben dunkelgrauen Anzug mit denselben Nadelstreifen. Lediglich die einzige Dame dabei fällt farbenfroh aus dem Rahmen, wenn auch nicht schrill, so doch in einem Kostüm, das außer ihr noch keine trug. Und währdend in England selbst die Königin denselben Hut - ach je - nicht zweimal aufsetzen kann, darf ein Lord denselben ausgebeulten und zerknitterten Anzug aus bester Shetlandwolle, und jeder Premierminister zumal, ruhig zwanzig Jahre lang anziehen. Nicht in Ascot; aber auch dort trägt er alle Jahre wieder, solange er reinpasst, denselben Dress, während seine Lady in Ohnmacht fällt, wenn eine Andere im selben Pariser Modell kommt wie sie.
Weil sie um die Männer, ihre Herren und Pariarchen buhlen? Wenn Sie den Lord fragen, ob die Dame rot oder grün trägt, muss er sich erst umdrehen und hinsehen, unterwegs hatte er es nicht bemerkt. Nein, die Damen kämpfen nicht um die Gunst der Männer, sondern gegen die andern Frauen. Unter den Paradiesvögeln will jede die oberste sein. Darum haben sie die Männer in geschäftliche Einheitskluft gesteckt und ihnen die Mode weggenommen.
In Wahrheit ist es nämlich so: Seit dem Sieg der bürgerlichen Gesellschaft hatte der Mann - Luther und Calvin hatten das Ihre beigetragen - ein Arbeiter zu sein, und zwar nicht im Weinberg und -keller des Herrn, sondern an der Werkbank und im Kontor! Der Bourgeois war ein alltäglich Werktätiger, kein eitler Müßiggänger wie der Aristokrat, und das sollte man ihm gefälligst auch ansehen; oder so sollte es wenigstens aussehen. Doch die Damen - ja, die Damen des Hauses, die vormals doch den bürgerliche Hauhalt selber geführt hatten, überließen das nunmehr, wie Gräfinnen und Edelfräuleins, dem Dienstpersonal; und wie jene wollten sie, bitteschön, auch aussehen.
So ist die Mode Frauensache geworden.
J.E.
PS. Beachten Sie übrigens, dass der Prinz Rosa trägt. Rosa galt bis Anfang der vorigen Jahrhunderts als die natürliche Jungenfarbe - als Vorstufe zum königlich kriegerischen Rot. Als Mädchenfarbe galt hingegen Blau - nach dem Mantel der Himmelskönigin Maria.