Mittwoch, 14. Dezember 2016

Mann braucht keine Krücke.

Penis bones from various mammals are part of the collection of bones at scientist Ray Bandar s his h
aus Süddeutsche.de,Penisknochen verschiedener Vertreter der Tierwelt

Darum hat der Mensch keinen Knochen im Penis
Das Baculum ist im Tierreich verbreitet, der Mensch aber verlässt sich bei der Erektion auf das nicht immer zuverlässige System der Schwellkörper. Eine Studie zeigt: Es liegt an der Monogamie.
 
Von Felix Hütten

Die Evolution, so lernt man das, treibt die Innovation in der Natur voran. Manchmal entstehen dabei jedoch Dinge, deren Sinn unerklärlich bleibt. Der Penisknochen, in der Fachsprache Os penis oder Baculum genannt, ist so ein bislang ungelöstes Rätsel der Evolution. Manche Spezies pflanzen sich bis heute mit dessen Hilfe fort. Anderen, so auch dem Menschen, ist er im Laufe der Evolution abhandengekommen.

Die Anthropologen Matilda Brindle und Christopher Opie vom University College London haben in einer Studie, erschienen im Journal Proceedings B der britischen Royal Society, untersucht, wie sich das besagte Körperteil im Laufe der Entstehung der Arten entwickelt hat. Ihre Antwort: Monogame Lebewesen brauchen ihn nicht.

"Hoher postkopulatorischer Wettbewerb"

Der Penisknochen hilft Tieren, beispielsweise Fledermaus-Männchen, Bonobos und Schimpansen, bei der Versteifung des Glieds. Das Baculum ist so etwas wie ein verknöcherter Schwellkörper, der die Erektion des Penis schnell und anhaltend ermöglicht. Zudem hilft er dem Männchen, sein Sperma möglichst nahe an die Gebärmutter des Weibchens zu bringen und eine Befruchtung wahrscheinlicher zu machen.

In ihrer Untersuchung zeigen die Wissenschaftler anhand komplexer Korrelationsrechnungen, dass sich der Knochen unter Säugetieren vor etwa 145 bis 95 Millionen Jahren ausgebildet haben muss, um im weiteren Verlauf teilweise wieder zu verschwinden. Warum das Baculum des Menschen überflüssig wurde, erklären sich die Autoren mit der Dauer des Geschlechtsverkehrs und der Zahl der Sexualpartner.

"Unsere Ergebnisse lassen vermuten, dass der Knochen die männliche Reproduktionsstrategie unterstützt, und zwar unter jenen Arten, in denen das Männchen einem hohen postkopulatorischen Wettbewerb ausgesetzt ist", sagt Autorin Matilda Brindle. Einfacher formuliert: Ein länger anhaltender Geschlechtsakt (mehr als drei Minuten) verringert die Chancen der Mitbewerber. Es geht also um die Frage, wessen Genmaterial am Ende zu Nachwuchs führt und somit überlebt.

Wackliges System der Erektion durch Schwellkörper

Polygamie, in diesem Fall Sex mit vielen verschiedenen Partnern, ist unter Menschen heute weniger häufig als im Tierreich. Diese kulturellen Änderungen im Fortpflanzungsverhalten könnten, so vermuten Brindle und Opie, einst das Aus für den menschlichen Penisknochen bedeutet haben. Als sich die menschliche Spezies von ihren Vorfahren absetzte und das Paarungsverhalten vor geschätzten zwei Millionen Jahren in Richtung Monogamie schwenkte, fehlte wahrscheinlich der evolutionäre Druck, den Penisknochen aufrechtzuerhalten, sagt Christopher Opie.

Wie die Forscher in ihrer Studie schreiben, konnten sie einen positiven Zusammenhang zwischen der Länge des Baculums und der Dauer des Geschlechtsaktes feststellen. Schimpansen und Bonobos, die mit dem Menschen eng verwandt sind, haben eine Paarungszeit von etwa sieben bis 15 Sekunden - im Vergleich zu anderen Tieren eher kurz. Im Verhältnis zur Körpergröße ist ihr Penisknochen winzig, und mit sechs bis acht Millimetern nicht länger als ein Fingernagel. Im Unterschied zum Menschen aber leben sie polygam, was ihnen womöglich diesen Überrest eines Penisknochens beschert.

Den Menschen betreffend wird übrigens eine weitere Theorie diskutiert. Aus Sicht der Fortpflanzung und der Evolution erscheint es schließlich auf den ersten Blick unlogisch, sich auf das wacklige System der Erektion durch Schwellkörper zu verlassen und die knöcherne Hilfe aufzugeben. Allerdings könnte die (knochenfreie) Erektion des Mannes für die Partnerin ein Signal der Gesundheit sein - was die Partnerwahl vereinfacht.

Dienstag, 6. Dezember 2016

Kaum lässt der Selektionsdruck nach...

Nordirak
aus scinexx

Evolution: 
Schmalere Becken durch Kaiserschnitt?
Modell zeigt evolutionäre Auswirkung des medizinischen Fortschritts

Erstaunliche Anpassung: Die regelmäßige Durchführung von Kaiserschnitten hat sich in den letzten Jahrzehnten auf die Anatomie von Frauen ausgewirkt, wie ein Modell nun zeigt. Demnach wird das weibliche Becken immer schmaler - und ist als Folge in Relation zum Kindskopf oft zu klein. Den Grund dafür sehen die Forscher in der Evolution: Dank der Möglichkeit der Geburt per Operation fehle der Selektionsdruck hin zu einem breiteren Becken.

Immer mehr Babys werden per Kaiserschnitt geboren. In Brasilien sind es sogar mehr als die Hälfte. Viele Wissenschaftler halten den Trend hin zur Geburt per Operation für ein rein soziales Phänomen. Denn die Rate der Geburtsprobleme, die einen operativen Eingriff nötig machen, ist um ein Vielfaches geringer. "Das stimmt, aber eben nicht ganz", sagt Philipp Mitteröcker von der Universität Wien. Er und seine Kollegen haben den Zusammenhang zwischen Kaiserschnitten und Geburtsproblemen untersucht - und Erstaunliches festgestellt. 

Die Datenanalyse der Mediziner zeigt: Tatsächlich hat in den vergangenen Jahrzehnten auch die Anzahl der "echten" Geburtsprobleme zugenommen - allen voran das sogenannte Becken-Kopf-Missverhältnis. Seit den 1960er Jahren steigt demnach die Zahl der Frauen, deren Becken relativ zur Größe des Fötus zu schmal ist - und damit die Gefahr, dass der Kopf des Kindes bei der Entbindung nicht durch den Geburtskanal passt. 

Fortschritt fördert anatomische Missverhältnisse 

Doch warum ist das so? Die Wissenschaftler glauben: Die Evolution ist schuld. Während vor der Entwicklung des Kaiserschnitts in den 1950er Jahren eine Geburt noch für bis zu sechs Prozent der Frauen tödlich endete, können dank der modernen Medizin heute auch Frauen mit sehr schmalem Becken gefahrlos entbinden. Die Folge: Aus evolutionsbiologischer Sicht entfällt der Selektionsdruck hin zu einem breiteren Becken. 

Mithilfe eines Modells haben Mitteröcker und seine Kollegen berechnet, dass die regelmäßige Durchführung von Kaiserschnitten zu einer evolutionsbedingten Zunahme der Becken-Kopf-Missverhältnisse von zehn bis zwanzig Prozent geführt hat. Ihnen zufolge reichen etwa zwei Generationen, bis sich die Fortschritte in der Medizin in unserer Biologie abzeichnen. Demnach sei die Evolution auch beim modernen Menschen am Werk.

Das Dilemma des Frauenbeckens 

Dass Frauen überhaupt mit anatomischen Problemen bei der Geburt zu kämpfen haben, ist allerdings ein evolutionärer Sonderfall: Eigentlich müssten Gene, die für zu schmale Becken und zu große Föten sorgen, längst ausgestorben sein, da Frauen mit einer solchen Veranlagung früher selten die Geburt überlebt haben. 

Wissenschaftler vermuten den Grund für diese vermeintliche Fehlanpassung im aufrechten Gang: Als der Mensch auf diese Weise zu gehen begann, entwickelte er ein schmales Becken. "Dies ist aus evolutionärer Sicht für unsere Fortbewegung von Vorteil", sagt Mitteröcker. Das Dilemma: Auf der anderen Seite erhöhen sich die Überlebenschancen eines Babys, je größer es bei der Geburt ist. Hier kommen sich demnach der Selektionsdruck hin zu schmaleren Becken und jener hin zu größeren Babys in die Quere.

Die Fitnesskurve hat sich stark verschoben und die Diskrepanz zwischen der Größe des Fötus und des Geburtskanals nimmt zu.
Die Fitnesskurve hat sich stark verschoben und die Diskrepanz zwischen der Größe des Fötus und des Geburtskanals nimmt zu.

Kaiserschnitt verschiebt Fitnesskurve 

Was dieses Dilemma für die individuelle Fitness einer Frau bedeutet, haben die Forscher in ihrem Modell nachgezeichnet - und dabei auch den Effekt des Kaiserschnitts deutlich machen können: "Für unsere Fitnesskurve heißt das: Je schmaler das Becken und je größer das Kind, umso besser – aber eben nur bis zu dem Punkt, an dem das Kind nicht mehr durchpasst: Dann wird es abrupt fatal", erklärt Mitteröcker.

Diesen Punkt markiert die sogenannte "Fitnessklippe" im Modell des Teams. Deutlich ist dabei zu sehen: Die Fitnessklippe hat sich seit der regelmäßigen Anwendung des Kaiserschnitts stark verschoben. Da wir am Becken-Kopf-Missverhältnis nicht mehr sterben, werden die Becken schmaler und natürliche Geburten tendenziell problematischer. 

Nicht nur ein soziales Phänomen 

Für die Forscher ist das ein eindeutiger Beleg dafür, dass die Zunahme von Kaiserschnitten zwar auch, aber nicht nur, ein soziales Phänomen ist: "Auch die Geburtsproblematik hat zugenommen, wenngleich in einem viel geringeren Ausmaß als die Kaiserschnitte", sagen sie. 

Wie Mitteröcker und seine Kollegen betonen, gehe es ihnen allerdings nicht darum, den Kaiserschnitt in Frage zu stellen - sondern vielmehr um Grundlagenforschung: Sie hätten zum ersten Mal mathematisch beschrieben, wie die Medizin den Lauf der Evolution verändert und wie schnell. In Zukunft könne dieses Modell auch in anderen Bereichen eingesetzt werden. (Proceedings oft he National Academy of Sciences, 2016; doi: 10.1073/pnas.1612410113)

(Universität Wien, 06.12.2016 - DAL) 


Nota. - Das ist des öftern schon bemerkt worden: Die Evolution durch Selektion geschieht gelegentlich viel rascher, als der gesunde Menschenverstand sich träumen lässt. Aber so rasch wie hier, im Verlauf von nur zwei Generationen - das wäre schon schwindelerregend! Doch Obacht: Hier geht es nicht um einen ruckartigen Effekt eines Selektionsdrucks, sondern um den ruckartigen Effekt des Fortfalls eines Millionen Jahre alten Selektions- drucks. Vorwärts ist, in der Natur wie im Menschenleben, etwas sachlich Anderes als rückwärts.

(Letzteres würfe ein neues Licht auf das Mysterium der Neotenie und das Dogma von der Unumkehrbarkeit physiologischer Spezialisierungen: Es müsse derselbe Selektionsdruck stets andauern, sonst könne ein evolutionärer Rückfall jederzeit eintreten... Ist das wieder so eine Rache Lamarcks an Darwin?)
JE