Sonntag, 31. Juli 2016

Frauen an der Macht.

aus Der Standard, Wien, 31.7.2016

Indien: Wenn Frauen Frauen unterdrücken  
Nichts fürchten die Frauen mehr als ihre Schwiegermütter, die alles kontrollieren wollen, um in den patriarchalischen Strukturen selbst Macht zu erlangen

von Christine Möllhoff

Neu-Delhi/Dubai – Bevor Nitu aus dem Zwei-Zimmer-Haus in Delhis Viertel Khanpur auf die schmale Gasse tritt, wirft sie ihre Dupatta, den breiten indischen Schal, über den Kopf und verbirgt damit ihr Gesicht. Früher hat sie das nicht getan, doch seit sie verheiratet ist, darf sie sich Fremden nicht mehr unverhüllt zeigen. Das hat nicht etwa ihr Ehemann angeordnet. "Meine Schwiegermutter wünscht das so", sagt die 26-jährige Inderin. 

Nichts fürchten viele Frauen auf dem Subkontinent mehr als ihre Schwiegermutter. Überall in der Welt werden Witze über Schwiegermütter gerissen, meist klagen Männer. Doch nur selten spielen Schwiegermütter eine so zentrale Rolle dabei, patriarchalische Strukturen zu zementieren und junge Frauen zu kontrollieren, wie im mehrheitlich hinduistischen Indien. 

Die "Saas" hat das Sagen 

Zwar verändert sich Indien rasant. Kleinfamilien nehmen zu und die jungen Frauen von heute lassen sich weniger gefallen. Aber noch immer folgen viele Paare der alten Tradition, nach der Hochzeit zu den Eltern des Mannes zu ziehen. In der neuen Familie stehen die jungen Frauen unter der Fuchtel der "Saas", wie die Schwiegermutter auf Hindi heißt. Man erwartet, dass sie sich der älteren Frau klaglos unterwerfen. 

Natürlich gibt es Schwiegermütter, die ihre Schwiegertöchter liebevoll behandeln. Doch für viele junge Ehefrauen beginnt eine Leidenszeit. Sie werden wie Sklavinnen ausgebeutet und müssen die ganze Familie bedienen. Dieses Muster pflanzt sich über Generationen fort: Später schikanieren sie ihre eigenen Schwiegertöchter, um sich für die harten Jahre zu entschädigen. 

Selbst an Macht gewinnen 

Während die Männer draußen das Sagen haben, spielen die Schwiegermütter in der Familie oft ihren verlängerten Arm. Ihnen obliegt es, die Ehre der Familie zu schützen und die jüngeren Frauen zu überwachen. Obwohl selbst Frauen, gelingt es ihnen so, von den patriarchalischen Strukturen zu profitieren und Macht zu erringen. Damit tragen sie aber auch zur Unterdrückung von Frauen bei. 

Von ihren Ehemännern haben die jungen Frauen wenig Hilfe zu erwarten. So verlangt die Sitte, dass sich die Söhne bei Konflikten aus Respekt auf die Seite ihrer Mutter schlagen. Bis heute haben viele Männer ein engeres emotionales Band zu ihrer Mutter als zu ihrer Frau. Indische Mütter vergöttern und verhätscheln ihre Söhne oft maßlos, weil sie erst durch einen Sohn einen Wert bekommen, während Töchter als minderwertig gelten. Auch so verfestigen Frauen altertümliche Rollenbilder. 

Kontrolle über das Sexleben 

Dafür reklamieren viele Mütter eine Machtposition im Leben ihrer erwachsenen Söhne und deren Ehefrauen. Ihre Kontrolle kann sich auf fast alle Aspekte des Lebens erstrecken. Sie bestimmen, wie sich die Schwiegertochter kleidet, ob sie ihre Eltern besuchen, einen Job annehmen oder auf Reisen darf. Viele Frauen dürfen nicht mal alleine einkaufen oder zum Arzt gehen. Im Extremfall bestimmen Schwiegermütter sogar, wie oft das junge Paar Sex hat, indem sie die "Bahu", die Schwiegertochter, bis tief in die Nacht schuften lassen, um romantische Augenblicke zu zweit zu verhindern. 

Das Machtgefälle führt oft zu Gewalt. "Es gibt wachsende Hinweise, dass viele indische Frauen Gewalt durch ihre Schwiegermütter erleiden", heißt es in einer Studie von 2013. "Indische Schwiegermütter sind beständig in Verfahren wegen Gewalt gegen ihre Schwiegertöchter verwickelt, insbesondere in Mitgiftfällen." Zwar seien nur etwa vier Prozent aller Häftlinge in Indien Frauen. Doch bei Mitgiftmorden seien sie direkt nach den Ehemännern die zweithäufigste Tätergruppe. In Delhis Gefängnis Tihar soll es laut Medien sogar einen eigenen sogenannten "Schwiegermutter-Trakt" geben. 

Zu Tode gefoltert 

In Odisha wurde jüngst eine Frau mitsamt ihrer zwei erwachsenen Töchter zu lebenslänglicher Haft verurteilt, weil sie die Schwiegertochter wegen der Mitgift zu Tode gefoltert hatten. Umgekehrt machen auch immer wieder Fälle Schlagzeilen, in denen Frauen ihre Schwiegermütter misshandeln. Vor allem ältere Frauen wie Witwen, die ohne Schutz eines Ehemannes dastehen, gelten als Bürde und werden leicht Opfer häuslicher Gewalt. Das geht so weit, dass sie ausgesetzt werden. Die heilige Stadt Vrindavan ist voll von Witwen, die in ihren Familien nicht mehr erwünscht sind.  


Nota. - Aber die Autorin bleibt dabei: Das sind "patriarchalische" Strukturen! Dabei beschreibt sie die sehr typische Verteilung der Macht zwischen den Geschlechtern in traditionalen agrarischen Gesellschaften: Der Mann vertritt die Familie nach außen; innen herrscht seine Mutter. 

Das ändert sich in dem Maß, wie in den sich modernisierenden bürgerlichen Gesellschaften das öffentliche Leben (durch den Markt) auch in den privaten, häuslichen Bereich immer mehr Eingang findet: Die Machtstellung der Frauen im Haushalt schwindet gar nicht - nur wird das Geschehen im Haus immer unwichtiger im Vergleich zu der Rolle, die der Mann "in der Welt" zu spielen hat. 

Und in den Industrienationen spielt dann die Frau im Haushalt eine immer geringere ökonomische Rolle, die Hausarbeit wird elektrifiziert und schließlich roboterisiert. Seither will auch die Frau arbeiten gehen.
JE




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