Dienstag, 25. Januar 2022

Mut ist genderspezifisch.

stern

aus derStandard.at, 25. 1. 2022

Warum Frauen vorsichtiger mit Geld umgehen als Männer
Auch bei Geld und Finanzen bestehen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Im Alltag bewährt sich der risikoscheue Zugang von Frauen, Nachteile bringt er in der Veranlagung

Über die Unterschiede zwischen Frauen und Männern sind wohl unzählige Bücher geschrieben worden. Auch wenn es sich um Geld dreht, haben Frauen oft einen anderen Blick auf die Dinge als männliche Zeitgenossen. Das offenbaren auch Umfragen zu dem Thema, etwa die Studie "Frauen und Finanzen" vom Bankenverband und der Bawag, die auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie untersucht hat. Das Ergebnis ist symptomatisch für das unterschiedliche Finanzverhalten. So gehen vor allem Frauen vorsichtiger mit Geld um, sparen also mehr, gehen aber bei der Veranlagung Risiken noch stärker aus dem Weg.

Was aus dieser Studie jedoch nicht hervorgeht, sind die Ursachen für die unterschiedlichen Zugänge von Männern und Frauen. Damit hat sich Bettina Fuhrmann, die an der WU Wien das Institut für Wirtschaftspädagogik leitet, intensiv beschäftigt – und sie sieht vor allem zwei Ursachen, nämlich geringeres Finanzwissen als bei Männern und weniger Selbstbewusstsein.

Weniger Finanzbildung

Fuhrmann berichtet von Untersuchungen, die Frauen weniger Know-how über Geld und Finanzen attestieren. "Meistens sind die Unterschiede im Finanzwissen signifikant, die Ergebnisse sind überfällig. Es gibt tatsächlich einen systematischen Wissensunterschied zwischen den Geschlechtern", sagt sie – und schränkt den Befund insofern ein, als dass es sich bei solchen Befragungen oft um Multiple-Choice-Tests handle, bei denen Männer generell besser abschneiden. Warum? Weil sie sich bei Nichtwissen der richtigen Antwort eher trauen, einfach zu raten.

Denn in diesem Punkt gilt ebenso wie bei der Geldanlage: Frauen sind weniger dazu bereit, etwas zu riskieren – und womöglich auf das falsche Pferd zu setzen. "Es geht darum, das Selbstbewusstsein von Frauen zu stärken und sie zu befähigen, bewusst mit Risiken umzugehen", sagt Fuhrmann. "Natürlich kann man nichts gewinnen, wenn man auf der anderen Seite nicht auch etwas verlieren kann, aber es gibt ein Nehmen von Risiko, das nichts mit Zocken zu tun hat." Denn Sicherheitsvarianten wie das Sparbuch werfen keine Zinsen mehr ab, die Inflation erodiert die Kaufkraft des Ersparten.

Mutigere Berufswahl

Mutiger und selbstbewusster sollten Mädchen Fuhrmann zufolge bereits bei der Berufswahl sein. Sie würden vor allem drei Lehrberufe, nämlich Büro- und Einzelhandelskauffrau sowie Friseurin, wählen, die jedoch kein hohes Einkommen versprechen. "Es ist unwahrscheinlich, dass die Interessen und Begabungen von Mädchen weniger breit gefächert sind als jene von Burschen", sagt die WU-Expertin dazu. Es geht also auch darum, aus bekannten Geschlechterrollen auszubrechen.

Dies ist allerdings ein weiter Weg, denn bei der Studie des Bankenverbands und der Bawag fällt auf, dass junge Frauen zumeist die Mutter als wichtigste Ratgeberin in Finanzfragen angeben, während sich Männer meist an den Vater wenden. Durch diese Feedbackschleife werden jedoch tendenziell geschlechterspezifische Verhaltensmuster an die nächste Generation weitergereicht.

Corona verfestigt Muster

Was abgesehen von der Veranlagung für Frauen durchaus vom Vorteil sein sollte, denn: "Frauen gehen durchschnittlich gesehen sorgfältiger mit Geld um", betont Fuhrmann. Die Folge: Sie tappen seltener in Schuldenfallen als Männer und sind weniger oft überschuldet. Zudem hat die Corona-Krise dieses Verhaltensmuster verfestigt, geht aus der Studie hervor: Deutlich mehr Frauen als Männer gaben an, wegen der Pandemie umsichtiger als zuvor mit Geld umzugehen.

Generell scheint bei jungen Frauen der Umfrage zufolge das Interesse an Finanzwissen zu steigen, wobei junge allerdings pessimistischer sind als ältere. Dazu hat wohl auch die anhaltende Nullzinsphase beigetragen, denn wie früher mit dem Sparbuch einen Kapitalstock aufzubauen, geht nun nicht mehr. Dazu kommen die enorm gestiegenen Immobilienpreise. "Wohneigentum zu schaffen ist für junge Menschen kaum mehr finanziell bewältigbar, ohne dass sie sich bis zur Haarwurzel verschulden. Umso wichtiger ist es, dass sie sich mit finanziellen Fragen auskennen."

Dazu ist für Fuhrmann die Schule der wichtigste Ansatzpunkt, um die Finanzbildung künftiger Generationen zu heben. Denn Know-how über Geld und Finanzen wird bisher zumeist in Familien vererbt – daher kann der Wirtschaftsuniversität-Wien-Expertin zufolge eine verstärkte Integration in den Lehrplan auch die Ungleichheit in Österreich in Zukunft verringern. 

 

Nota. - Männer sind nicht einfach mutiger als Frauen, sondern abenteuerlustiger - weil sie verspielter sind; denn sie stehen den Kindern noch oder wieder näher als jene. Sinds die Gene, sinds die Hormone, isses die Kultur? Stelle anheim.

JE

Montag, 17. Januar 2022

Popanz § 219a.

...und meine Leibesfrucht erst recht.

aus Tagesspiegel.de, 17. 1. 2022

Werbeverbot für Abtreibung wird gestrichen Paragraf 219a Strafgesetzbuch ist nicht der Skandal, zu dem er gemacht wird 
Der Schwangerschaftsabbruch wird aus gutem Grund im Strafgesetz geregelt, das Werbeverbot auch. Das Konzept dahinter hat sich als tauglich erwiesen. Ein Kommentar 

von

Bald soll das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche fallen. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat am Montag einen Referentenentwurf mit der Streichung des umstrittenen Paragrafen 219a Strafgesetzbuch auf den Weg gebracht; die Koalition hatte es so verabredet.

Unter den Ampelpartnern gilt die Vorschrift als unzeitgemäß, weil sie sachliche Informationen über Abtreibungsangebote angeblich behindert. Viele Frauenpolitiker beklagen den Zustand schon lange, weil sie das Werbeverbot als fortgesetzte Entmündigung empfinden, in die Schwangere durch den Abtreibungsparagrafen 218 ohnehin hineingezwungen würden. Aus ihrer Sicht ist die gegenwärtige Rechtslage ein unzulässiger Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht, letztlich: ein Skandal, der Anlass zur Empörung gibt ebenso wie das unsägliche Auftreten von Abtreibungsgegnern vor Arztpraxen oder das Bestreben mancher US-Bundesstaaten, Schwangerschaftsabbruch bis zur Unmöglichkeit zu erschweren.

Wer sich informieren will, kann es. Besser denn je

Wer dieses Szenario für plausibel hält, wird die Abschaffung von Paragraf 219a als wichtigen ersten Schritt betrachten. Es sollten aber weitere Perspektiven erlaubt sein. So war es wohl noch nie so einfach wie heute, sich über Möglichkeiten und Methoden eines Schwangerschaftsabbruchs zu informieren und mit Stellen in Kontakt zu kommen, die ihn durchführen. Es ist in der Bundesrepublik keine Schwangere bekannt geworden, die infolge eines Mangels daran oder wegen des Werbeverbots ein Kind austragen musste. Ein ausreichendes medizinisches Angebot vorzuhalten, ist gesetzliche Pflicht. Der auf politischer Ebene ausgefochtene Kampf um das Selbstbestimmungsrecht schrumpft in der Lebenswirklichkeit Betroffener auf die obligatorische Beratung zusammen. Alles in allem kann sich jede Frau in den ersten Schwangerschaftswochen frei entscheiden, diese medizinisch versorgt und rechtlich gesichert zu beenden. Wäre es anders, wäre es in der Tat ein Skandal.

Der ungeliebte und unter der großen Koalition bereits reformierte Paragraf 219a war bisher Teil eines Schutzkonzepts, das aufgrund der Zuschreibung eines Embryos als „Leben“ noch immer im Strafgesetzbuch seinen Platz hat. Für eine solche Straftat, auch wenn sie ausnahmsweise und unter bestimmten Bedingung erlaubt ist, sollte nicht ohne Weiteres geworben werden dürfen, so der Gedanke. Er folgt einer Logik, die das Bundesverfassungsgericht vor Jahrzehnten als verbindlich statuiert hat: Auch ungeborenes Leben steht demnach unter dem Schutz der staatlichen Gemeinschaft.

Im sich anbahnenden Kulturkampf könnten die ungewollt Schwangeren die Verliererinnen sein

Ob es überfällig ist, sich von diesen Kategorien zu lösen, scheint angesichts der Diskussionen in den USA und Europa fraglich. Der geltende, gewiss sowohl juristisch wie moralisch und politisch angreifbare Kompromiss hat es immerhin geschafft, dass der Abbruch einer Schwangerschaft heute gesellschaftlich weithin akzeptiert ist, ohne die an ihm ebenso zulässige Fundamentalkritik aus dem Diskurs auszuschließen. Dass er von Schwangeren Unzumutbares verlangt, ist nicht ersichtlich. Zugleich sind die Zahlen in etwa stabil. Würde es nicht angesichts der menschlichen Nöte der Beteiligten gefühllos klingen, man könnte von einem Erfolgsmodell sprechen.

Natürlich kann man nach neuen Modellen suchen. Aber sind sie so gut wie das alte? Lohnen sich neue Konflikte? Im sich anbahnenden Kulturkampf könnten die ungewollt Schwangeren die Verliererinnen sein. Das darf nicht passieren.

 

Nota. - Vor vierzig, fünfzig Ja hren war ungewollte Schwangerschaft ein soziales und war der § 218 ein Klassenproblem. Nämlich keines für Mädchen aus gebildetem, aufgeklärt liberalem und gut vernetztem Milieu, sondern für die Minderbemittelten. Wer heute ungewollt schwan-ger wird, hat dagegen bloß nicht achtgegeben. Es ist wirklich übertrieben, aus dem Nichtacht-geben ein Menschenrecht zu machen, für das die Solidarität Anderer in Anspruch genommen wird.

JE

Samstag, 15. Januar 2022

Von wegen Samenkrise: Wir erleben den Untergang der Frau.


aus nzz.ch, 15. 1. 2022

«Das Wesen, das menstruiert»
Die Frau verschwindet im politisch korrekten Newspeak
Auch Männer können Frauen werden. Aber sind sie dann wirklich Frauen? Ja, sagen Transgender-Aktivisten. Und was bleibt der Frau, wenn alle Frau sein können, die Frau sein wollen?
 
von Sarah Pines

Bleiben von der Frau nur ein paar Tropfen Blut? In England und den USA wird, unter Druck des Transgender-Aktivismus und befeuert von «progressiven» Männern, die Kategorie «Frau» auf Formularen oder im öffentlichen Diskurs zunehmend durch den Begriff «menstruierende Person» ersetzt. «Breast-feeding» heisst «chest-feeding», auf Geburtenstationen liegt nicht mehr «die Mutter von», sondern «das Elternteil von».

Frausein und Weiblichkeit, so die Logik hinter den neuen Formulierungen, ist nicht biologisch, sondern sozial konstruiert. Die Bezeichnung «Frau» nur für Frauen offenzuhalten, die als solche geboren wurden, sei deshalb potenziell diskriminierend. Befürworter des Begriffs «menstruierende Person» fordern kompromisslose politische und inklusive Korrektheit im Hinblick auf die Trans-Community, zum Schutz der Individualität und der Gefühle des Einzelnen. Weil es aber biologische Gegebenheiten gibt, um die man nicht herumkommt, bleibt der Frau am Ende nur noch die Menstruation als Kennzeichen ihrer Identität.

Es tobt ein Streit zwischen Transaktivisten und Feministinnen. Frauen, die an der weiblichen Biologie von Transfrauen zweifeln, Bezeichnungen wie «menstruierende Person» ablehnen, werden als bigotte Faschisten bezeichnet, abschätzig «Terf» genannt («trans-exclusionary radical feminists»). Auf der anderen Seite heisst es: Die «Frau» sei kein mit inklusiven Parolen bedrucktes Zelt, in dem alle, aber auch wirklich alle willkommen seien, die meinen, «Frau» zu sein – ausser den Frauen selbst.

Frauen, die Männer sind

Frauen seien, genauso wie Männer, komplexe Gewebe aus sozialen und biologischen Gegebenheiten, betonen Feministinnen. Das Gesetz mache keine Aussagen zu biologischen Fakten, es lege also nicht fest, ob eine Transfrau «wirklich» eine Frau sei. Deshalb seien Transfrauen biologisch immer noch Männer. Das alte Patriarchat mit dem Mann an der Spitze habe die Frau unsichtbar gemacht, nun komme das neue Patriarchat in Frauenkleidern. Mit «Frauen», die nie reale weibliche Erfahrungen gemacht haben: die Panik nach dem Vergessen der Pille, die Angst vor Vergewaltigung, Ungleichbehandlung am Arbeitsplatz und so weiter.

Die Reduktion der biologischen Frau auf die Periode, so der Tenor, sei ein undemokratischer, sexistischer und frauenfeindlicher Eingriff in Persönlichkeitsrechte, das Ende der Geschichte der Befreiung von patriarchalen Strukturen, der Beginn einer modernen Hexenjagd auf als Frau geborene Frauen, die sich exklusiv «Frauen» nennen möchten.

Frausein sei kein Kostüm, schrieb die «Harry Potter»-Autorin J. K. Rowling. Nachdem sie für ihre Kritik am Begriff der «menstruierenden Person» ins Kreuzfeuer des Transgenderaktivismus geraten ist, wird sie gecancelt: «Viele Frauen empfinden die ‹inklusive› Sprache, in der weibliche Personen als ‹Menstruierende› oder ‹Menschen mit Vulva› bezeichnet werden, als entmenschlichend und erniedrigend... Für Frauen ist diese Sprache nicht neutral, sondern feindselig und entfremdend.»

Was Frauen zu Frauen macht

Auch die britische Philosophin Kathleen Stock, die vergangenes Jahr nach Protesten gegen ihre Aussagen zur biologischen Geschlechterdifferenz ihre Professur niederlegen musste, verwies auf die symbolische Enteignung der Frau durch einen letztlich chauvinistisch agierenden Transgenderaktivismus: «Für viele Transaktivisten», schrieb sie, «sind Transfrauen im wörtlichen Sinn Frauen, und wenn sie Kinder haben, können sie auch Mütter sein. Haben sie Partnerinnen, können sie lesbisch sein, sie können auch Opfer von Frauenhass sein und so weiter. Nacheinander fallen die Begriffe, mit denen Frauen sich beschreiben, dahin wie Dominosteine.»

Nicht nur treibt die Bezeichnung der Frau als «menstruierende Person» einen unnötigen Keil zwischen Frauen und die Transgemeinde. Die Reduktion der Frau auf ihre Periode interpretiert die Gedanken Judith Butlers fehl, der Vordenkerin der Geschlechtertheorie, die doch eigentlich zur Legitimation der neuen Begrifflichkeit herbeigezogen wird. Was macht in westlichen Gesellschaften Frauen zu Frauen, Männer zu Männern? Seit dem Erscheinen von Butlers bahnbrechendem Buch «Gender Trouble» (1990) wird darüber debattiert.

«Konservative Biologisten» kritisieren «linke Gendertheoretiker» für die Leugnung biologischer Tatsachen und die Konzeption vom Körper als nacktem Brett, auf das die Gesellschaft Geschlechterregeln einkerbe. Die Vertreter der Gendertheorie entgegnen darauf, biologische Dispositionen und Hormonstrukturen reichten nicht aus, um daraus verschiedene Eigenschaften, Fähigkeiten und Tätigkeitsbereiche von Mann und Frau abzuleiten, im Stil von: Prädestinieren Eierstöcke eine Frau zur Hausfrau und zu Emotionalität, Hoden einen Mann zu harter Arbeit und Rationalität?

Bittere Ironie

Nur, hat Judith Butler immer betont, gehe es gerade nicht um die Leugnung körperlicher Unterschiede von Mann und Frau, sondern um eine viel interessantere Frage: Warum werden bestimmte körperliche Gegebenheiten von Mann und Frau so lange beständig wiederholt, besprochen und dargestellt, bis sie zur Norm werden, während andere Eigenschaften als «abweichend», «unnatürlich» oder «unschön» gelten?

Der Feminismus hat wunderbare Vorkämpferinnen. Suffragetten kämpften für als Frauen geborene Frauen für gleiche Rechte, Berufe, Ausbildungsplätze. Nicht mehr. Und heute soll das körperliche Merkmal, das als Frau geborene Frauen noch zu kennzeichnen vermag, die Menstruation sein – nach der Logik des vulgärfeministischen Newspeak. Eine Reduktion also, und zwar eine, die die patriarchale Ordnung reproduziert – die sie doch eigentlich durchbrechen wollte.

Das ist misogyn und entmenschlichend. Denn was ist mit Frauen, die nicht oder nicht mehr menstruieren? Die magersüchtige Frau, die kranke Frau, die Frau nach der Menopause sind dieser Logik zufolge weder Frau noch Person, sondern nichts mehr. Allein die gebärfähige Frau ist es offenbar noch wert, in den Katalog legal definierter Gesellschaftsmitglieder aufgenommen zu werden. Eine bittere Ironie.

Persona non grata

Nur wenig hat der Feminismus so vehement bekämpft wie die Mutterschaft. Für Feministinnen wie Simone de Beauvoir war das zu stillende Kind ein Blutegel, die Frau eine vom Mann unterdrückte Reproduktionsmaschine. Nun bleibt sie das, eine menstruierende Persona non grata, möge sie mit der letzten biologischen Realität, die ihr bleibt, anstellen, was sie will.

1986 schrieb die amerikanische Feministin Gloria Steinem noch selbstbewusst, die Männer würden den Frauen auch noch die Menstruation wegnehmen, wenn sie es könnten. Doch niemand, scheint es, will menstruieren, kein Mann, keine «Frau». Die monatliche Blutung, die der biologischen Frau noch zugestanden wird, ist der misogyne rote Faden des Frauseins.

Schliesslich galten Frauen während der Periode in vielen Kulturkreisen als unrein. Der Geruch von Menstruationsblut vertreibe Tiere und Menschen, lautet ein alter, verbreiteter Aberglaube. Die Periode ist eine Rückkehr in urtümliche Stadien der Menschheitsgeschichte, Folge des Sündenfalls. Schon die Ritualmordlegenden der Reformation entwarfen das Bild der «Judensau», die aus einem vaginaähnlichen Geschlechtsteil heraus menstruiert. Nicht die Gebärmutter kennzeichnet die Frau, sondern das «Abjekt», wie die Psychoanalytikerin Julia Kristeva es genannt hat: Blut, Auflösung, Verflüssigung.

Jeder, der will, hat ein Recht

Die «Frau» als soziale Kategorie hingegen, so hätte Georg Lukács es beschrieben, ist zum kulturellen Konstrukt geworden, wie der Air-Conditioner oder das Ladegerät für das iPhone: Jeder, der will, hat ein Recht darauf. Wenn der Mann «Frau» wird und die biologische Frau zur menstruierenden Person, dann ist dies die tragische Kehrseite der Dialektik der Metamorphose, die schon Ovid beschrieben hat: Strukturen entstehen und werden zerstört, Neues kommt auf, wird ebenfalls strukturbildend, dann wird es unterdrückt und ausgegrenzt.

Der Feminismus anerkennt die Frau und ihre Unterschiede zum Mann. Weiblichkeit ist keine männliche Projektion, die Welt funktioniert nicht immer phallozentrisch. Phallozentrischer als «menstruierende Person» kann ein Begriff allerdings gar nicht mehr sein. Die Öffnung der Kategorie «Frau» reduziert den Unterschied zwischen Mann und Frau auf eine identitäre Kategorie, nach dem Grundsatz: Wenn ich mich als Frau fühle, bin ich auch eine.

Ausser für die «menstruierende Person» ist die Zugehörigkeit zu einer marginalisierten Gruppe nicht länger ausgrenzend, im Gegenteil: «Frausein» ist befreiend und ermächtigend. Noch eine dialektische Umkehrung: Der Mann, der Hausarbeit macht, ist nicht weniger Mann, sondern mehr Mann. Die Transfrau ist mehr Frau als die Frau. Und die biologische Frau? Sie ist Menstruation, zyklische Natur, ein abbaubares Restprodukt auf dem Komposthaufen der Geschichte.

 

Nota. - Zur unvermeidlichen Rivalität zwischen Feministinnen und Genderstudiosen habe ich mich bereits geäußert. Ich lasse das Obige daher unkommentiert.

JE

 

 

Montag, 10. Januar 2022

"Mütterliche Prägung".

aus FAZ.NET, 10. 1. 2022                                                   Darstellung eines fünf Monate alten Fötus aus dem neunzehnten Jahrhundert

Welchen Einfluss hat das Verhalten der schwangeren Frau auf das Kind?
Hier wird die ideologische Komplexität moderner Wissenschaft offengelegt: Sarah Richardson wirft einen kritischen Blick auf die Forschungen zu Effekten mütterlicher Prägung des heranwachsenden Fötus.
 
Von Thomas Weber

Anders als es die rasanten Entwicklungen innerhalb der Genetik in den vergangenen Jahrzehnten erwarten lassen, ist die moderne Medizin keineswegs einem durch und durch deterministischen Verständnis von Genen verbunden. Vor allem der Einfluss der Umwelt – und des mütterlichen Verhaltens – auf den sich im Mutterleib entwickelnden Fötus gilt als ein paradigmatisches Beispiel dafür, wie die Umwelt die Wirkung von Genen modulieren kann und wie solche Umwelteffekte über mehrere Generationen wirksam bleiben können.

Die Vererbung erworbener Eigenschaften ist in der Medizin keine Häresie, sondern Grundlage eines enorm produktiven Forschungsprogramms. Die generationenübergreifenden Folgen der niederländischen Hungersnot im Winter 1944/45 oder die Weitergabe des Traumas von Holocaust-Überlebenden auf ihre Nachkommen sind zwei paradigmatische Beispiele für die Erkenntnisse dieser Forschungen. Dass Mütter während der Schwangerschaft einen besonderen Einfluss auf ihren Nachwuchs haben können, ist jedoch eine alles andere als neue Idee.

Stress und Mangelernährung

Die Wissenschaftshistorikerin Sarah Richardson stellt diese Forschung in ihren historischen Kontext und wirft einen kritischen Blick auf ihre Grundannahmen, Methoden und Schlussfolgerungen. In den ersten vier Kapiteln ihres Buches stellt Richardson konzis und anschaulich dar, wie sich das medizinische und wissenschaftliche Denken über den mütterlichen und väterlichen Beitrag zur Ausprägung des Nachwuchses entwickelte. Dreh- und Angelpunkt ihrer Darstellung ist August Weismanns Keimplasmatheorie (1882), die besagte, dass nur das in den Ei- oder Samenzellen befindliche Erbgut weitergegeben wird, dass Vater und Mutter den gleichen Beitrag zum Nachwuchs leisten, dass es gleichgültig ist, ob ein Erbfaktor von mütterlicher oder väterlicher Seite kommt, und dass es keine Vererbung erworbener Eigenschaften geben kann.

Weismanns Theorie – für die der Begriff „Neodarwinismus“ geprägt wurde – bildete einen radikalen Bruch zu früheren Theorien der Fortpflanzung und Vererbung und war ein wesentliches Element in der Entwicklung der modernen Evolutionsbiologie. Von der Antike bis zum neunzehnten Jahrhundert wurde der Einfluss der Mutter und des Vaters als unterschiedlich be­urteilt. Außergewöhnlich bedeutsam war die Vorstellung, dass Emotionen und Erfahrungen einer schwangeren Frau sich dem Fötus aufprägen können und zu Muttermalen, Missbildungen oder Persönlichkeitseigenschaften führen können. Andere Theorien sahen die weibliche Eizelle als ernährend and passiv, während das Spermium alle „Lebenskraft“ beisteuerte. Eine dritte Klasse von Theorien gestand sowohl Ei als auch Spermium eine Rolle zu, die Beiträge der beiden Zelltypen wurden jedoch als komplementär betrachtet. Weismanns Theorie und ihre experimentelle Bestätigung räumten mit diesen Theorien auf, doch sie überlebten mehrere Jahrzehnte in einem Bereich, in dem progressive Politik eine Allianz mit positiver Eugenik einging, um eine moderne Gesellschaft mit gesunden Bürgern zu schaffen.

Wichtig ist qualitativ hochwertige Pflege

In der Genetik häuften sich in den zwanziger und dreißiger Jahren jedoch auch Fälle, die zeigten, dass bei Weizen, Schnecken und Fruchtfliegen manche Eigenschaften nicht den Mendelschen Vererbungsregeln folgen, sondern dass ein eindeutiger „mütterlicher Effekt“ wirksam war – die Ausprägung eines Merkmals im Nachwuchs wurde von der Merkmalsausprägung der Mutter bestimmt, nicht von der Kombination mütterlicher und väterlicher Gene. Solche Phänomene wurden zwischen 1940 und 1970 intensiv in der Tierzüchtung untersucht, bevor amerikanische Humanmediziner sich für diese Thematik zu inter­essieren begannen. Die anhaltenden Un­terschiede in der gesundheitlichen Verfassung von schwarzen und weißen Amerikanern wurden manchmal soziologisch erklärt – vor allem durch die Prävalenz von alleinerziehenden Müttern –, oder von Rassentheoretikern auf genetische Unterschiede zurückgeführt.

Die Kinderärzte Herbert Birch und Joan Gussow argumentierten 1970, dass über Generationen akkumulierte Schäden, die durch mütterlichen Stress und Mangelernährung hervorgerufen wurden, eine anhaltende Ungleichheit festschrieben. Das Geburtsgewicht und der Intelligenzquotient waren zunächst der Fokus dieser wissenschaftlichen Debatten. Mit der Weiterentwicklung moleku­­largenetischer Methoden und der Erkenntnis, dass Änderungen der Genfunktion ohne Änderungen der Gen­sequenz weitervererbt werden können, erfuhr die Wissenschaft des „fetal programming“ seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts dann einen enormen Aufschwung. Tausende von Wissenschaftlern beschäftigen sich inzwischen mit der Frage, wie ein Stimulus oder eine schädliche Einwirkung während einer kurzen sensitiven Periode in der fötalen Entwicklung zu lebenslangen gesundheitlichen Folgen – Bluthochdruck, Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen – führen kann.

Obwohl dieses Forschungsprogramm sich distanziert vom genetischen Determinismus und offen für soziale Erklärungsfaktoren ist, kritisiert Sarah Richardson die Methodik und die Schlussfolgerungen von Arbeiten zum fötalen Ursprung von Erkrankungen mit deutlichen Worten. Die gefundenen statistischen Effekte sind meist sehr klein, und statistische Störfaktoren oder Drittvariablen werden meist nicht oder nur ungenügend berücksichtigt. Ebenso wird in den meisten Studien der väterliche Einfluss nicht einbezogen. Eine Hypothese besagt, dass mütterliches Übergewicht während der Schwangerschaft das Risiko für Übergewicht beim Nachwuchs erhöht.

Untersuchungen bestätigten zunächst diese Hypothese, doch eine detaillierte Analyse zeigte, dass das Gewicht des Vaters eine größere Rolle spielt. Und keine der umfangreichen Studien hat je zu irgendwelchen konkreten Maßnahmen beigetragen, die die Gesundheit von Neugeborenen und ihren Müttern verbesserten. Laut Richardson ist es klar, welche Maßnahme in den Vereinigten Staaten das kurz- und langfristig wäre: der Zugang zu Gesundheitszentren mit qualitativ hochwertiger Versorgung und Pflege. Keine andere Maßnahme hat einen vergleichsweise großen Effekt auf vor- und nachgeburtliche Sterblichkeit und auf die Gesundheit der Mütter. Die Forschung zur intrauterinen fötalen Prägung richten den Blick hingegen auf subtile Variationen in weitgehend normal verlaufenden Schwangerschaften und vernachlässigt Risikofaktoren mit weit größerer Wirkung, die allerdings oft sozio-ökonomischer Natur sind.

Richardsons durch und durch überzeugendes Buch zeigt, wie ein anti-deterministisches und anti-reduktionistisches Forschungsprogramm, wie es die Erforschung der mütterlichen Prägung des Fötus ist, auf diese Weise dazu dienen kann, von wirksamen gesundheitspolitischen Maßnahmen abzulenken. Es zeigt, einmal mehr, die ideologische Komplexität moderner Wissenschaft.

Sarah S. Richardson: „The Maternal Imprint“. The Contested Science of Maternal-Fetal Effects. The University of Chicago Press. Chicago 2021. 376 S., geb., 89,– €.

 

Nota. - Die Annahme, "früher" habe es, weil die Wissenschaftler stets Männer waren, eine generelle Abwertung weiblicher Beiträge und Übertreibung des männlichen Antels gegeben, trifft zumindest auf diesem Feld nicht zu.

JE



Freitag, 7. Januar 2022

Ach Gott ja, Sex...

Canova

aus spektrum.de, 7. 1. 2022

Sexualität
»Penis-Vaginal-Sex, Masturbation, Oralsex – ist alles seltener«
Weltweit haben Menschen weniger Sex, egal ob sie Teenager oder 40-Jährige sind. Inwiefern der Trend zum »Rough Sex« ein Grund sein könnte, was noch denkbar ist und wie sich die Corona-Pandemie auf Beziehungen auswirkt, erklären zwei Sexualforscherinnen im Interview.


von Emily Willingham

Menschen haben dieser Tage weniger Sex als noch vor einigen Jahren. Mit sich selbst oder mit anderen. Und unabhängig vom Alter. Darauf deutet auch eine Studie aus den USA hin, die am 19. November im Magazin »Archives of Sexual Behavior« veröffentlicht wurde. Demnach stieg etwa der Anteil der Jugendlichen, die angaben, weder allein noch mit Partnern sexuell aktiv zu sein, von 28,8 Prozent auf 44,2 Prozent bei jungen Männern und von 49,5 Prozent im Jahr 2009 auf 74 Prozent bei jungen Frauen zwischen 2009 und 2018.
 

Warum das so ist, haben die Studienautorinnen zwar nicht untersucht. Doch ihre langjährige Erfah-rung als Sexualpädagoginnen und Sexualforscherinnen erlauben zwei von ihnen im Interview genauer zu erörtern, welche Faktoren diese Veränderungen erklären könnten. Debby Herbenick, Erstautorin der Studie und Tsung-chieh (Jane) Fu, Mitautorin, sprechen unter anderem darüber, inwiefern asexuelle Identität und »Rough Sex« sich darauf auswirken, wie oft Menschen Sex haben. Auch erklären sie, wie Bezugspersonen Kindern in ihrer gesunden Sexualentwicklung helfen können und inwiefern die Corona-Pandemie das Sexualverhalten beeinflusst. 

»Scientific American«: Von Untersuchungen aus anderen Teilen der Welt ist bereits bekannt, das Menschen in Partnerschaften weniger Sex haben. Was tragen Ihre jüngsten Ergebnisse zu dieser Erkenntnis Neues bei?

Debby Herbenick: Sie erweitern die Forschung, weil Jane [Fu] und das Team das Sexualverhalten wirklich detailliert verfolgt haben. Wir untersuchten Penis-Vaginal-Sex, Masturbation in der Partnerschaft sowie Oralsex und Oralverkehr – alles findet seltener statt. Zudem haben wir Jugendliche einbezogen. Auffällig ist, dass sich weniger von ihnen selbst befriedigen. Diesem Thema sollte viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.

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Wie lässt sich der Rückgang bei jungen Menschen erklären?

Tsung-chieh (Jane) Fu: Wir brauchen mehr Studien, um die Gründe herauszufinden. Aber für junge Menschen ersetzen zum Beispiel Computerspiele, die zunehmende Nutzung sozialer Medien und Videospiele diese Zeit.

Herbenick: Wir gehen davon aus, dass es mehr als eine Erklärung oder einen Grund gibt. Je nach Altersgruppe, Partnerschaftsstatus und Geschlecht dürfte es sich unterscheiden. Man braucht diese einzelnen Faktoren nicht, um den Großteil zu erklären, aber jeder dieser Faktoren [könnte] für ein oder zwei Prozentpunkte sorgen.

Inwiefern ist es womöglich relevant, dass immer mehr Menschen ihre Asexualität ausleben?

Herbenick: Warum sich mehr Menschen als asexuell bezeichnen, ist nicht bekannt. Aber ich denke, mehr Menschen dürften sich bewusst sein, dass es sich um eine gültige Identität handelt. Als ich 2003 begann, Sexualität zu unterrichten, hatte ich regelmäßig einen Schüler in meiner Klasse, der sich als asexuell identifizieren konnte. Jetzt habe ich drei oder vier. Das ist beeindruckend. Es ist toll, dass junge Menschen so viele Möglichkeiten kennen, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Für viele von ihnen ist es in Ordnung, wenn sie sich gegen Sex entscheiden.

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In Ihrem Artikel erwähnen Sie, dass die Zunahme von »Rough Sex« möglicherweise zu dem Trend beiträgt. Können Sie erläutern, was Sie damit meinen?

Herbenick: Vor allem bei den 18- bis 29-Jährigen hat das zugenommen, was viele Menschen als »raues Sexualverhalten« bezeichnen. Begrenzte Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es sich dabei früher um das handelte, was ich als ziemlich banalen rauen Sex bezeichnen würde: an den Haaren ziehen, ein bisschen Prügel.

Was wir jetzt in Studien mit Tausenden von zufällig ausgewählten College-Studenten sehen, ist das Würgen oder Würgen beim Sex. Dieses Verhalten scheint bei Studenten im College-Alter in der Mehrheit zu sein. Für viele Menschen ist es einvernehmlich und erwünscht, für viele aber auch beängstigend, selbst wenn sie lernen, es zu genießen oder es zu wollen. Das ist ein wichtiger Forschungsschwerpunkt unseres Teams: zu verstehen, wie sie sich fühlen, welche gesundheitlichen Risiken bestehen und wie das in die allgemeine sexuelle Landschaft passt.

Fu: Wir haben festgestellt, dass sich diese Verhaltensweisen geändert haben. Wir wissen nicht, inwieweit dies einige Menschen dazu bringt, sich zu entscheiden, aber wir wissen, dass einige Menschen Angst haben und nicht wissen, was sie von dem halten sollen, was ihnen präsentiert wird; insbesondere junge Erwachsene. Wir sehen zahlreiche geschlechtsspezifische Auswirkungen bei einer Vielzahl von Verhaltensweisen für diverse nicht heterosexuelle Identitäten. Bisexuelle Frauen sind beispielsweise viel häufiger von diesen aggressiven Verhaltensweisen betroffen.

Herbenick: Wir haben versucht, auch das zu entwirren, weil aus unserer Forschung nicht klar hervorgeht, wie oft die Praktiken erwünscht und angenehm oder unerwünscht sind, weil bisexuelle Frauen auch häufiger über sexuelle Viktimisierung berichten.

Wahrscheinlich gebe es mehrere Gründe dafür, dass sich die sexuelle Ausdrucksweise der Menschen verändert hat, schreiben Sie weiter …

Herbenick: In Studien aus aller Welt wurden unterschiedliche Erklärungen vorgeschlagen, zum Beispiel der wirtschaftliche Status. Ein niedrigeres Einkommen wird mit einem stärkeren Rückgang in Verbindung gebracht. Eine Studie untersuchte die Nutzung von Computerspielen unter jungen Menschen [als mögliche Erklärung]. Einige Leute haben den Rückgang des Alkoholkonsums verfolgt, und wir wissen, dass [Alkoholkonsum] mit Enthemmung verbunden sein kann. Wir haben einen gewissen Anstieg bei der Nutzung von Sexspielzeug festgestellt – nach dem, was wir untersucht haben, keine massive Zunahme. Ich erwarte nicht, dass es die Erklärung dafür ist.

Was möchten Sie Menschen raten, die dieses Interview lesen und sich fragen: »Was soll ich mit diesen Informationen anfangen?« – vielleicht aus der eigenen Perspektive, der ihres Partners oder ihren Partnern oder in Gesprächen mit den Kindern?

Fu: Für Eltern wäre es großartig, mit ihren Kindern offene Gespräche über Sex zu führen. Vor allem mit Teenagern. Sex der vergangenen Jahre sieht ganz anders aus als früher, sei es durch das Aufkommen neuer Technologien oder neuer sexueller Verhaltensweisen. Wir hoffen, dass Eltern ihre Kinder anleiten können, nicht nur, um sie vor den Risiken verschiedener sexueller Verhaltensweisen zu warnen, sondern auch, um ihnen beizubringen, wie man sinnvolle Beziehungen und schließlich befriedigenden und lustvollen Sex haben kann.

Herbenick: Für viele von uns lohnt es sich, ein paar Fragen zu stellen: Wie fühle ich mich mit meinem Sexualleben? Wie fühlt sich mein Partner? Fragen Sie ihn! Manche Menschen schauen sich um und haben das Gefühl, dass die sexuellen Interaktionen, die sie haben, angenehm, verbindend und freudvoll sind und für sie ein befriedigendes Sexualleben darstellen. Andere sehen sich vielleicht um und sagen: »Weißt du, vor 10 bis 15 Jahren, als wir noch nicht so viele lustige Sendungen im Fernsehen sehen konnten, haben wir viel weniger ferngesehen und hatten dafür häufiger Sex. Ich frage mich, wie wir öfter Sex haben könnten?

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Wie überschneidet sich sexuelle Aktivität mit oder ohne Partner mit anderen Aspekten der Gesundheit? Und wie sieht »sexuelle Gesundheit« aus?

Herbenick: Sexualität ist ein bedeutender Teil des Lebens. Zu verstehen, was sich ändert, ist wichtig, um zu verstehen, was sich in der menschlichen Erfahrung verändert. Wir wissen, dass sexuelle Aktivität den Menschen helfen kann, sich zu entspannen, einzuschlafen, Stress abzubauen, sich intim und verbunden zu fühlen und dadurch ihre Beziehungen zu verbessern. Sie kann sogar dazu beitragen, ihr Immunsystem zu stärken.

Sex kann aber auch einfach nur Spaß machen und Freude bereiten – eine Möglichkeit, sich auf verletzliche Weise auszudrücken. Sexuelle Gesundheit ist ein multidimensionales Phänomen, bei dem es nicht nur um das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Infektionen oder Krankheiten geht, sondern auch um das Potenzial für Vergnügen, den Zugang zu korrekten Informationen über Sexualität, körperliche Autonomie und die Möglichkeit, sexuelle Erfahrungen zu machen, die frei von Gewalt oder Zwang sind.

Welche Auswirkungen auf diese Verhaltensweisen sehen Sie bereits oder erwarten Sie von der Pandemie, die in Ihrer Studie noch nicht erfasst wurde?

Fu: Die Dinge verändern sich stark, wenn Menschen zu Hause sind. Die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, hat dazu geführt, dass einige Partner, die eine Fernbeziehung führen, mehr Zeit miteinander verbringen oder sogar zusammenleben können. Aber für Partner, die nicht zusammen leben und nicht die Möglichkeit haben, von zu Hause aus zu arbeiten, können Schwierigkeiten beim Reisen zu noch weniger gemeinsamer Zeit führen.

Für diejenigen, die mit ihrem Partner zusammenleben, führt mehr gemeinsam verbrachte Zeit zu Hause nicht unbedingt zu mehr und befriedigenderem oder lustvollerem Sex. Eine Quarantäne, soziale Distanzierung, finanzielle Schwierigkeiten, Arbeit von zu Hause aus – all das kann zu Spannungen in der Beziehung führen. Der Verlust oder die Instabilität der Kinderbetreuung auf Grund der Pandemie kann das Sexualleben derjenigen einschränken, die Eltern sind.

Herbenick: Sicherlich haben Menschen, die nicht mit einem Partner zusammenleben, in den vergangenen zwei Jahren mehr Einschränkungen beim Sex in der Partnerschaft erfahren als andere. Wobei sich dies seit den Impfungen und Auffrischungsimpfungen etwas entspannt haben dürfte. Aber unser Sexualleben spielt sich nicht in einem Vakuum ab, es gibt also unzählige Faktoren.

Die vergangenen zwei Jahre haben auch viel Trauer für Menschen gebracht, die Familienmitglieder durch Covid verloren haben. Viele Menschen haben mit einer langwierigen Covid-Erkrankung und damit verbundenen gesundheitlichen Problemen, Arbeitsplatzverlust und finanziellen Belastungen zu kämpfen. Und mehr Menschen aller Altersgruppen haben seit der Pandemie mit Angstzuständen und Depressionen zu kämpfen. All dies hat auch Auswirkungen auf das sexuelle Interesse und den Sexualtrieb.

 

Nota. - Es ist jetzt rund ein Jahrhundert her, dass sich das paranoide Wahngebilde des Wiener Arztes Dr. Freud, genannt Psychoanalyse, als eine geistige Weltmacht etablierte. "Pansexua-lismus" sagten die Zeitgenossen: Im Grunde war alles, was nicht geradewegs fressen oder sau-fen war, sexuell bestimmt, was sich als was Besseres (oder auch nur Anderes) ausgab, war allenfalls Sublimierung; "im Grunde" ging immer alles nur um das Eine. 

Uff. Die hundert Jahre sind um, und befreit können wir durchatmen: It's over.
JE