Montag, 2. September 2019

Schulen sind knabenfeindlich.

Doisneau
aus nzz.ch, 31.08.2019

Gymis sind knabenfeindlich
Ein Anwalt wehrt sich für seinen Sohn – auch der Bund nimmt das Thema unter die Lupe.
 
von René Donzé

«Es kann ja nicht sein, dass immer Knaben aus dem Gymi fliegen», sagt Martin Hablützel. Der Vater von vier Knaben und einem Mädchen wohnt am rechten Zürichseeufer – also dort, wo der Druck seitens der Eltern, dass die Kinder ans Gymi müssen, besonders hoch ist.

Er kennt mehrere Fälle von Knaben, die eine Klasse wiederholen mussten oder die Probezeit nicht bestanden haben. Und nun also auch sein jüngster Sohn: Luiz hat vor den Sommerferien in der letzten Prüfung einen «Abschiffer» gehabt, wie der 17-Jährige erzählt. Und diese letzte Note hat den Ausschlag gegeben.

Luiz müsste repetieren, doch sein Vater, von Beruf Rechtsanwalt, hat Rekurs bei der Bildungsdirektion eingereicht. Darin beschränkt er sich nicht auf notentechnische Details, sondern kritisiert das grosse Ganze: «Die Knaben werden an den Gymnasien diskriminiert.» Das verstosse gegen die Verfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention. Der Anwalt hat mit seinen Partnern mehrere Asbestopfer bis nach Strassburg begleitet und recht erhalten. 

Hormonell benachteiligt

Gymnasiasten werden laut Hablützel auf mehreren Ebenen diskriminiert. Zum einen hätten sprachliche Fächer, in denen Mädchen erwiesenermassen besser sind, einen zu hohen Stellenwert. Zum anderen seien die Gymnasien zu stark auf Fleiss, Anpassung und Genauigkeit ausgerichtet. Das seien «Eigenschaften, welche Mädchen insbesondere im Alter zwischen 15 und 18 Jahren viel stärker aufbringen als Buben», schreibt er im Rekurs. Die genetische und hormonelle Entwicklung der Buben müsse bei der Fächerwahl besser berücksichtigt oder mittels Nachteilsausgleich kompensiert werden.

Zur Untermauerung seiner These greift er auf die Zürcher Bildungsstatistik zurück: Bei den bestandenen Aufnahmeprüfungen beträgt der Mädchenanteil rund 54 Prozent, bei der Matura 57 Prozent. Unterwegs scheiden also mehr Buben aus. Die Mädchenfreundlichkeit zeige sich auch bei der gymnasialen Maturitätsquote in der Schweiz. Lagen die Geschlechter 1990 mit je gut 13 Prozent gleichauf, gab es 2016 rund 25 Prozent Maturandinnen und 17,5 Prozent Maturanden. 

Das Thema beschäftigt auch den Bund. Derzeit brüten Fachleute des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation über Verbesserungen des gymnasialen Bildungsweges, gemeinsam mit der Konferenz der Erziehungsdirektoren. Dabei geht es auch um Chancengleichheit.

Wie es in einem Papier dazu heisst, sollen «Herkunfts- und geschlechterbezogene Ungleichheiten thematisiert» werden. Angeregt wird eine Studie zur «Entwicklung der Geschlechterverhältnisse und zu deren Hintergründe». Auch Zahl und Gewichtung der Maturafächer ist ein Thema. «Der akademische Weg scheint junge Männer weniger anzusprechen», sagt eine Sprecherin des Staatssekretariats. Es sei nicht sicher, ob dies mit dem Fächerangebot oder anderen Faktoren zu tun habe. «Eine Gewissheit bezüglich einer Benachteiligung besteht jedoch nicht.»


Für den Psychologen Allan Guggenbühl ist der Fall klar: «Gemäss meinen Erfahrungen werden die Knaben in Gymnasien systematisch benachteiligt.» Das liege zum einen in der Form des Unterrichts, der viel Eigenständigkeit und Anpassungsfähigkeit voraussetze. «Ich erlebe immer wieder, dass ‹fleissige Mädchen› mit dieser Unterrichtsart viel besser umgehen können.» Als Berater diverser Gymnasien in der Schweiz beobachte er auch, wie unterschiedlich bei Problemen reagiert werde: Knaben würden eher rausgeworfen, Mädchen hingegen zu Gesprächen eingeladen.

Einer, der Jahrzehnte über die Gymnasien geforscht hat, ist der kürzlich an der Uni Zürich emeritierte Pädagogikprofessor Franz Eberle. Er sagt, die Leistungskriterien seien für Knaben und Mädchen dieselben. «Und weil Knaben ebenso gut in der Lage sind, diese Leistungen zu erbringen, sind sie rechtlich nicht wegen ihres Geschlechts diskriminiert», sagt Eberle. «Wenn sie während der Pubertät etwas weniger fleissig sind und nicht wollen, ist es ihr Wille, wenn sie nicht leisten.» Einen Nachteilsausgleich gebe es nur bei Behinderungen, und das sei bei den Buben ja nicht der Fall.

Es gibt Alternativen

Niklaus Schatzmann ist Leiter des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes des Kantons Zürich. Der ehemalige Gymirektor sagt, es sei Aufgabe des Gymnasiums, Leistung und Selbständigkeit zu fördern und zu fordern - als Vorbereitung auf die Hochschule. Mit der Verlängerung der Probezeit auf ein halbes Jahr sei man den Buben entgegengekommen. «Sie erhalten mehr Zeit, sich an das System zu gewöhnen.»

Und mit der Berufsmatur sowie dem Eintritt ins Gymnasium ab der dritten Sek gebe es Alternativen für Spätzünder. Generell soll das Gymnasium im Kanton Zürich bubenfreundlicher werden. So wird im sprachlastigen Untergymi der Anteil der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer bald erhöht. Im Obergymnasium wird in der ganzen Schweiz Informatik als Fach eingeführt. Zudem könnten die männlichen Schüler dort Profile wählen, die ihnen passten, etwa das Wirtschaftsgymnasium.

Ein solches besucht auch Luiz: Die Kantonsschule Hottingen hat einen Anteil von 63 Prozent männlichen Schülern. Das Fach, an dem er scheiterte, war Physik. «Ich hatte mir ausgerechnet, dass es reichen würde», sagt er. Doch dann war er bei der Prüfung blockiert und schrieb beim Nachbarn ab. Dafür kassierte er eine eins.

Vater Hablützel weiss, dass die Argumentation des eher weiblichen Fächerkanons im Fall seines Sohns auf wackligen Füssen steht. Er setzt darum vor allem auf entwicklungspsychologische Aspekte. Im Kanton Zürich gibt es jährlich 20 bis 30 Rekurse gegen Promotionsentscheide, davon werden einer bis drei gutgeheissen. Wenn nötig, geht Hablützel bis vor Bundesgericht. Luiz kann vorläufig in seiner Klasse bleiben. Scheitert der Rekurs, muss er während des Schuljahrs repetieren. Diese Gefahr nimmt der Vater auf sich. «Es geht ums Prinzip, das geklärt werden muss.»


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