«Es
kann ja nicht sein, dass immer Knaben aus dem Gymi fliegen», sagt
Martin Hablützel. Der Vater von vier Knaben und einem Mädchen wohnt am
rechten Zürichseeufer – also dort, wo der Druck seitens der Eltern, dass
die Kinder ans Gymi müssen, besonders hoch ist.
Er
kennt mehrere Fälle von Knaben, die eine Klasse wiederholen mussten
oder die Probezeit nicht bestanden haben. Und nun also auch sein
jüngster Sohn: Luiz hat vor den Sommerferien in der letzten Prüfung
einen «Abschiffer» gehabt, wie der 17-Jährige erzählt. Und diese letzte
Note hat den Ausschlag gegeben.
Luiz
müsste repetieren, doch sein Vater, von Beruf Rechtsanwalt, hat Rekurs
bei der Bildungsdirektion eingereicht. Darin beschränkt er sich nicht
auf notentechnische Details, sondern kritisiert das grosse Ganze: «Die
Knaben werden an den Gymnasien diskriminiert.» Das verstosse gegen die
Verfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention. Der Anwalt hat
mit seinen Partnern mehrere Asbestopfer bis nach Strassburg begleitet
und recht erhalten.
Hormonell benachteiligt
Gymnasiasten
werden laut Hablützel auf mehreren Ebenen diskriminiert. Zum einen
hätten sprachliche Fächer, in denen Mädchen erwiesenermassen besser
sind, einen zu hohen Stellenwert. Zum anderen seien die Gymnasien zu
stark auf Fleiss, Anpassung und Genauigkeit ausgerichtet. Das seien
«Eigenschaften, welche Mädchen insbesondere im Alter zwischen 15 und
18 Jahren viel stärker aufbringen als Buben», schreibt er im Rekurs. Die
genetische und hormonelle Entwicklung der Buben müsse bei der
Fächerwahl besser berücksichtigt oder mittels Nachteilsausgleich
kompensiert werden.
Zur
Untermauerung seiner These greift er auf die Zürcher Bildungsstatistik
zurück: Bei den bestandenen Aufnahmeprüfungen beträgt der Mädchenanteil
rund 54 Prozent, bei der Matura 57 Prozent. Unterwegs scheiden also mehr
Buben aus. Die Mädchenfreundlichkeit zeige sich auch bei der
gymnasialen Maturitätsquote in der Schweiz. Lagen die Geschlechter 1990
mit je gut 13 Prozent gleichauf, gab es 2016 rund 25 Prozent
Maturandinnen und 17,5 Prozent Maturanden.
Das
Thema beschäftigt auch den Bund. Derzeit brüten Fachleute des
Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation über
Verbesserungen des gymnasialen Bildungsweges, gemeinsam mit der
Konferenz der Erziehungsdirektoren. Dabei geht es auch um
Chancengleichheit.
Wie
es in einem Papier dazu heisst, sollen «Herkunfts- und
geschlechterbezogene Ungleichheiten thematisiert» werden. Angeregt wird
eine Studie zur «Entwicklung der Geschlechterverhältnisse und zu deren
Hintergründe». Auch Zahl und Gewichtung der Maturafächer ist ein Thema.
«Der akademische Weg scheint junge Männer weniger anzusprechen», sagt
eine Sprecherin des Staatssekretariats. Es sei nicht sicher, ob dies mit
dem Fächerangebot oder anderen Faktoren zu tun habe. «Eine Gewissheit
bezüglich einer Benachteiligung besteht jedoch nicht.»
Für
den Psychologen Allan Guggenbühl ist der Fall klar: «Gemäss meinen
Erfahrungen werden die Knaben in Gymnasien systematisch benachteiligt.»
Das liege zum einen in der Form des Unterrichts, der viel
Eigenständigkeit und Anpassungsfähigkeit voraussetze. «Ich erlebe immer
wieder, dass ‹fleissige Mädchen› mit dieser Unterrichtsart viel besser
umgehen können.» Als Berater diverser Gymnasien in der Schweiz beobachte
er auch, wie unterschiedlich bei Problemen reagiert werde: Knaben
würden eher rausgeworfen, Mädchen hingegen zu Gesprächen eingeladen.
Einer,
der Jahrzehnte über die Gymnasien geforscht hat, ist der kürzlich an
der Uni Zürich emeritierte Pädagogikprofessor Franz Eberle. Er sagt, die
Leistungskriterien seien für Knaben und Mädchen dieselben. «Und weil
Knaben ebenso gut in der Lage sind, diese Leistungen zu erbringen, sind
sie rechtlich nicht wegen ihres Geschlechts diskriminiert», sagt Eberle.
«Wenn sie während der Pubertät etwas weniger fleissig sind und nicht
wollen, ist es ihr Wille, wenn sie nicht leisten.» Einen
Nachteilsausgleich gebe es nur bei Behinderungen, und das sei bei den
Buben ja nicht der Fall.
Es gibt Alternativen
Niklaus
Schatzmann ist Leiter des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes des
Kantons Zürich. Der ehemalige Gymirektor sagt, es sei Aufgabe des
Gymnasiums, Leistung und Selbständigkeit zu fördern und zu fordern - als
Vorbereitung auf die Hochschule. Mit der Verlängerung der Probezeit auf
ein halbes Jahr sei man den Buben entgegengekommen. «Sie erhalten mehr
Zeit, sich an das System zu gewöhnen.»
Und
mit der Berufsmatur sowie dem Eintritt ins Gymnasium ab der dritten Sek
gebe es Alternativen für Spätzünder. Generell soll das Gymnasium im
Kanton Zürich bubenfreundlicher werden. So wird im sprachlastigen
Untergymi der Anteil der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer
bald erhöht. Im Obergymnasium wird in der ganzen Schweiz Informatik als
Fach eingeführt. Zudem könnten die männlichen Schüler dort Profile
wählen, die ihnen passten, etwa das Wirtschaftsgymnasium.
Ein
solches besucht auch Luiz: Die Kantonsschule Hottingen hat einen Anteil
von 63 Prozent männlichen Schülern. Das Fach, an dem er scheiterte, war
Physik. «Ich hatte mir ausgerechnet, dass es reichen würde», sagt er.
Doch dann war er bei der Prüfung blockiert und schrieb beim Nachbarn ab.
Dafür kassierte er eine eins.
Vater
Hablützel weiss, dass die Argumentation des eher weiblichen
Fächerkanons im Fall seines Sohns auf wackligen Füssen steht. Er setzt
darum vor allem auf entwicklungspsychologische Aspekte. Im Kanton Zürich
gibt es jährlich 20 bis 30 Rekurse gegen Promotionsentscheide, davon
werden einer bis drei gutgeheissen. Wenn nötig, geht Hablützel bis vor
Bundesgericht. Luiz kann vorläufig in seiner Klasse bleiben. Scheitert
der Rekurs, muss er während des Schuljahrs repetieren. Diese Gefahr
nimmt der Vater auf sich. «Es geht ums Prinzip, das geklärt werden
muss.»
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