aus Die Presse, Wien, 21. 6. 2016
Falsches Mitleid: Wenn Bubeneltern bedauert werden
Buben wird oft vorgeworfen, dass sie wild und laut seien sowie in der Schule versagen. Das Problem ist aber vor allem, dass man "funktionierende" Kinder will.
von ROSA SCHMIDT-VIERTHALER
Die Klassenwanderung am Ende des Schuljahres geriet zu einer Kampfzone. Einer kleinen freilich, doch die gegnerische Aufstellung beim gemeinsamen Almdudler-Trinken war nicht zu verkennen. „Was ist bloß mit den Burschen los?“, fragte eine Mutter kopfschüttelnd. Die Kinder der Wiener Volksschulklasse waren gerade im Wald mit Spielen beschäftigt, wie die Eltern allgemein annahmen. Da kamen einzelne Mädchen angelaufen, den Kopf vor Zorn hochrot. Die Burschen hätten sie mit Stöcken voll ekligem Zeug verfolgt. Es habe einen bösen Streit zwischen Mädchen und Burschen gegeben. Zumindest einer habe die Hose heruntergelassen.
“Das Rabaukenhafte gehört bei den Jungen mit dazu„
„Wieso können die nicht friedlich spielen?“, wunderten sich die Mütter der Mädchen laut. Die Burschenmütter, an einer echten Diskussion über diese Frage offenbar weniger interessiert, winkten dem Kellner. Es sei ohnehin Zeit zu zahlen. Den Heimweg trat man getrennt nach Geschlechtern an.
Buben sind Bildungsverlierer.
Was ist tatsächlich mit den Buben los? Vor rund zehn Jahren haben diverse Medien die „Krise der kleinen Männer“ („Die Zeit“, 2007) ausgerufen und ihr Scheitern dargestellt. In den Artikeln wurde die deprimierende Faktenlage dargebracht: Burschen beschäftigen die pädagogischen Beratungsstellen weit mehr als Mädchen, brechen öfter die Schule ab, haben häufiger psychische Probleme und schlechtere Schulabschlüsse. So haben in Österreich zuletzt 51 Prozent der Mädchen eines Jahrgangs die Matura gemacht – aber nur 36 Prozent der Burschen. Mittlerweile müssen sie sich die Bezeichnung „Bildungsverlierer“ gefallen lassen.
- „Unsere Schule schadet den Jungs.“
- Für Jungens ist die Schule ungeeignet.
- Die Schule war schon immer eine Emaskulieranstalt.
- Tobende Jungs sind eine Ressource und nicht krank.
Die Entwicklung ist nicht neu, doch die Tendenz setzt sich fort. Mittlerweile sei eine Art „self-fulfilling prophecy“ eingetreten, sagt der österreichische Verhaltenspädagoge Gerhard Spitzer. Die Verhaltensbilder, die den Burschen zugeschrieben werden, erfüllen sich allein dadurch, dass sie ihnen zugeschrieben werden. Aktuell werde aber die Bubenproblematik nicht mehr „nur“ in Schulen diskutiert, sondern sei auch zuhause angekommen. Er sehe verunsicherte Eltern: Mütter, die sich schon vor dem Schulstart um Nachhilfe kümmern und Väter, die sich aus der Erziehung heraushalten, weil sie Angst haben, es falsch zu machen. Spitzer arbeitet mit Familien, die sozial schlecht gestellt sind. Aber das Phänomen, dass Burschen besonders kritisch beäugt werden, zeigt sich genauso in der Mittelschicht. Auf Spielplätzen machen manche Mütter die Erfahrung, dass ihnen unmotiviert Mitleid ausgesprochen wird. „Andere Mütter sagen manchmal ,Oh, du Arme', wenn sie hören, dass ich zwei Söhne habe“, erzählt eine junge Mutter. Schon das sei sehr nervig. „Es wird angenommen, dass die Buben immer nur herumrennen, laut und wild seien. Das mag schon mal vorkommen, aber Mädchen können doch auch anstrengend sein.“
Dass die Erziehung von Mädchen genauso herausfordernd ist, wird offenbar nicht gesehen. Wohl, weil die Konflikte seltener öffentlich ausgetragen werden − wenngleich es natürlich auch hier Ausnahmen gibt. Und weil ein stärkerer Bewegungsdrang gerade in den öffentlichen Bereichen der Städte mehr ins Auge fällt. Dass der starke Bewegungsdrang von Kindern schon Grund genug ist, deren Eltern zu bemitleiden, ist indes viel eher ein Problem als jedes Stürmen, Hüpfen, Klettern und Fallen. Werden Kinder zu Problemen stilisiert, weil sie Kinder sind? „Man will funktionierende Kinder, das ist zur Zeit das Hauptmotiv. Gut angepasst und leistungsbereit.“ Sich so zu verhalten, könne aber allenfalls ein Ausschnitt der kindlichen Wirklichkeit sein: „Wenn da die Mädchen besser hineinpassen, dann finde ich das auch eher bedenklich“, so der deutsche Geschlechterforscher Reinhard Winter. Es brauche einen Perspektivenwechsel.
Jungen brauchen klare Ansagen.
Die Kategorien „männlich“ und „weiblich“ kommen jedenfalls wieder in den Blick: Immer mehr Pädagogen machen sich für die Buben stark – und auch auf dem Buchmarkt zeigt sich die neue Aufmerksamkeit. „Jungen brauchen klare Ansagen“ oder „Artgerechte Haltung: Es ist Zeit für eine jungengerechte Erziehung“ lauten die Titel von neu herausgegebenen Ratgebern.
Warum machen Mädchen Zierleisten?
Auch die Schule wird in die Verantwortung genommen. Seit Jahren diskutiert man die Gründe für das vergleichsweise schlechte Abschneiden der Buben. Manche machen die Dominanz der Frauen in den Bildungseinrichtungen verantwortlich: Natürlich scheiterten Buben in der Schule, so die Befürworter dieser Theorie, die Regeln würden ja auch von Frauen gemacht, und die hätten halt diesen Kuschelweich-und-brav-Kurs, der den Buben nicht liege.
Auch von Müttern kann man hören, dass Buben vor allem mit den unausgesprochenen Regeln in der Schule nicht klar kämen. „Warum machen die Mädchen alle eine Zierleiste? Das war ja überhaupt nicht Teil der Aufgabe“, ärgerte sich ein Volksschüler unlängst zuhause. „Und die Lehrerin findet das auch noch supertoll.“
Letztlich ist die Frage schwer zu klären: Studien widersprechen dem Einfluss des Geschlechts von Lehrern. Und die männlichen Geschlechterstereotypen spielen jedenfalls (auch) eine Rolle. So sei es bei Burschen im jugendlichen Alter „oft total uncool, sich anzustrengen“, sagt die Bildungspsychologin Christiane Spiel.
Liegt dann nicht der Schluss nahe, dass die Klischeebuben den Klischeemädchen ein bisschen ähnlicher werden müssten? Kommunikationsstärker, weniger wild und aufsässig, so wie es seit Jahren präferiert wird?
Genau hier liegt das Problem, denn die Buben scheinen sich gegen die Geschlechternivellierung zu wehren. „Es ist schon lange unerwünscht, dass sich Buben wie solche verhalten“, sagt Gerhard Spitzer, der das Phänomen seit 20 Jahren beobachtet. Er nehme aber immer wieder wahr, dass die Buben ausbrechen wollten. „Zuerst hieß es, wir müssen bei Geschlechterrollen sensibel sein. Dann wurde weiblich gut und männlich schlecht. Das polarisierte stark. Die Idee war gut, wurde aber zu extrem betrieben.“ Nun sei man eben an einem Punkt angelangt, an dem Bubenmüttern Mitleid ausgesprochen werde. Die teils negative Haltung Burschen gegenüber sei im privaten Bereich angekommen.
Dass manche Burschen sich nun ganz besonders männlich geben wollten und eine Abwehrreaktion eingesetzt habe, sei nur natürlich. Sichtbar werde dies etwa dadurch, dass viele Buben ihr Bedürfnis nach Männlichkeit in imaginären Spielwelten ausleben. Denn dort spielt Männlichkeit eine zentrale Rolle, sie wird zelebriert. Das Gleiche gilt für Klassenausflüge, bei denen am Ende nur die Konfrontation Mädchen gegen Buben bleibt.
Buben brauchen Führung.
Aber sind die Schwierigkeiten mit den Burschen lediglich unserer Einstellung geschuldet? So einfach ist es dann doch wieder nicht. Vor allem zwei große Problemfelder lassen sich nicht wegdiskutieren: Übermäßiger Medienkonsum und fehlende Leistungen in der Schule. Reinhard Winter rät hier vor allem zu einer klaren Haltung. Eltern müssten die Führung übernehmen, Orientierung geben und dabei wirklich Durchhaltevermögen zeigen. Buben bräuchten tendenziell mehr Führung als Mädchen – weil sie eben auch mehr nach Freiheit strebten.
Unbestritten ist, dass Kinder früher mehr Freiheit hatten, mehr draußen waren, mehr herumtoben konnten. Nun ist das Leben mit Schule, Nachmittagsbetreuung und Hobbys viel stärker verplant. Es gibt aber nicht nur weniger Zeit, sondern auch weniger Raum. Der Bewegungsradius von Kindern hat sich in den vergangenen Jahren stark verkleinert. Auch wenn Eltern ihren Kindern gern zugestehen möchten, dass sie in Lacken hüpfen und dreckig werden können – wenn man sie vor einem wichtigen beruflichen Termin im Kindergarten abliefern will, auf dem Weg nach Hause noch einkaufen muss oder auf ein wichtiges Telefonat wartet, ist das nur schwer möglich. Und ja, natürlich ließe man die Burschen auch einmal raufen, sagen viele Eltern. Aber nicht mit Jan, dessen Eltern so streng sind. Und auch nicht mit Julian, der immer sofort zu weinen beginnt.
Der Raum, um rangeln und raufen zu können, muss erst wieder erobert werden. Und das vielleicht nicht nur für die Burschen. Denn auch den Mädchen macht das gängige Klischee der stets voll funktionstüchtigen Vorzugsschülerin das Leben nicht unbedingt leichter. Genauso wenig wie die Umkehrung ins alte Klischee, das vor allem der Spielzeugmarkt derzeit wunderbar sichtbar macht: rosarotes Lego, mit dem man nicht bauen kann, das aber häusliche Welten hochleben lässt. Und auch für so manche hoffnungsvolle Mädchenmutter, die Bubenmütter ungefragt bemitleidet, kann sich das erwartete Idyll in Luft auflösen: Zöpfchen flechten und hübsche Kleider kaufen gefällt bei Weitem nicht jedem Mädchen. In schmutzige Lacken hüpfen schon eher. Ob die Mütter dafür Mitleid bekommen?
Nota. - Das ist ja eine Binsenwahrheit: Einen Weichling, der sich von den Schülern auf der Nase rumtanzen lässt und vor den Eltern kneift, mögen die Jungen nicht als Lehrer. Die wollen einen, der auch mal was aushält und der stark genug ist, dass man sich wenigstens nicht blamiert, wenn er einen zum Schluss doch unterkriegt.
LehrerInnen und feminisierte Lehrer lassen dann durchblicken, Jungens bräuchten eben doch den autoritären Erziehungsstil - und kommen sich vornehm vor, wenn sie seufzen: "das is nix für mich"; und sich wieder den Mädchen zuwenden. Dabei reicht es auch bei LehrerInnen aus, dass sie sich nicht auf der Nase rumtanzen lassen, nicht vor den Eltern kneifen und sich im Übrigen über ihre Autorität keine Gedanken machen.
JE
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